Tibor Joanelly
Das ehemalige Basler Weinlager von Coop hat für ein Wohnhaus die denkbar ungeeignetste Struktur. Esch Sintzel nahmen letztere ernst und gewannen für die Stiftung Habitat Raum, der durch den Bestand verdrängt wird.
Dieses Gebäude war tatsächlich ein Weinlager. Coop lagerte hier Weine, füllte ab und stellte eigene Assemblagen her – womit die Metaebene für diesen Text gesetzt ist. Der Bau hatte nach seiner Erstellung den diskreten Charme eines eleganten Lagerhauses, war eine grosszügige Mischung aus Landistil und funktionalistischer Moderne. In den 1970er Jahren wurde das Gebäude dann zum Verteilzentrum aufgestockt, Wein wurde vermehrt in Kartonkisten oder im Harass gehandelt. Mit dem Resultat, dass die All-Over-Behandlung mit Trapezblech nach dem Umbau im Geist ihrer Zeit zu einem eher brutalistischen Ausdruck fand. Dann, im dritten und aktuellen Leben, entfernte man die Aufstockung wieder, um sie durch eine neue zu ersetzen.
Doch der Reihe nach: Die heutige Form ist das Resultat eines Masterplans, den Metron im Auftrag der Stiftung Habitat entwickelt hatte. Das Areal liegt an einer städtebaulichen Bruchstelle: Jenseits der Blockrandstadt ist das Weinlager der erste markante Baukörper, der frei steht. Dass er an einem Ende eingekürzt wurde, war eine Auflage aus dem Masterplan, der dort einen neuen Weg vorsah. Für sein anderes Ende schlugen die Architekten im Wettbewerb eine Verlängerung vor, die dem Baukörper in der Fassadenflucht der Elsässerstrasse – der Ausfallachse Richtung Frankreich – zu angemessener Präsenz verhelfen soll. Nun sind dem Bestand auf beiden Seiten neue Kopfbauten vorangestellt, die wie Buchstützen die Erdbebenaussteifung übernehmen. Denn auch wenn das Gebäude massiv und schwer als Weinlager für grosse Lasten ausgelegt war, so war eine Ertüchtigung von der Aufstockung bis hinab ins neu als Parkhaus gebrauchte Untergeschoss nötig.
Die Kopfbauten sind mit ihren geschäftlichen Nutzungen auch die Synapsen zur Stadt. Und dereinst wird dasjenige Ende hin zum Quartier für dieses auch ein Dreh- und Angelpunkt sein, das Café in der zweiten Reihe – nicht am Platz, aber mit Blick darauf und da, wo sich die Wege kreuzen – könnte einer jener Orte werden, von denen Christopher Alexander sagte, dass sie genau das Leben in der Stadt ausmachen, obwohl sie eigentlich anonym sind: Sie ermöglichen soziale Interaktion.
Für das Gebäude selbst schafft das Café auch wieder einen solchen Ort, ähnlich wie die Treppenhäuser im Innern Kreuzungspunkte sind. Ein Glück, dass die Mieterschaft nun auch das Angebot der Entwerfenden aufnimmt und die Rue intérieure auch tatsächlich an den Caféraum anschliesst. Damit wird das Gebäude zu einem infrastrukturellen System von kommunizierenden Erschliessungssträngen, an dessen Kreuzungspunkten immer wieder Orte entstehen, an denen das Leben spielt: Lobby, Waschsalon, Jokerzimmer, Coworking Space, Velowerkstatt. Auf der Dachterrasse findet diese Idee ihren Höhepunkt, sie ist der riesige und zugleich höchste Kreuzungspunkt: ein Schiffsdeck für das Sonnenbad, ein Park für Tai-Chi-Sessions, eine Stehtischlandschaft für Apéros und vieles mehr.
Der Rück- und Umbau des Gebäudes war aufwändig. Für eine Wohnnutzung standen statisch tragende Brüstungen im Weg. Laut Marco Rickenbacher, verantwortlicher Partner bei Esch Sintzel, war es das «Einfachste», wenige gezielte «Schnitte» anzubringen; das grosse Messer war dabei ein hochkonzentrierter Wasserstrahl. Man verfuhr nach der Devise «lieber beherzt als geflickt», denn zu flicken gab es ohnehin genug. Mit dem Rückschnitt auf den Längsseiten wurde die Gebäudetiefe von 19 auf 16,5 Meter reduziert, das machte die Wohnungen vor allem in den niedrigen Geschossen lichterfüllter. Und mit der hinter der neuen Balkonschicht geschützten Fassade kamen auch die roh belassenen, geschälten Baumstämme zum Entwurf dazu. Etwas, das nicht ganz einfach zu beschreiben ist, aber auf jeden Fall sehr fasziniert.
Bestellt wurden die Baumstämme aus dem Jura schon 2019. Sie sind den Spriessen nachempfunden, welche die Geschossdecken nach dem Rückschneiden der Fassaden hielten. Aber wie immer in der Architektur war die Übersetzung dieses Bildes in gebaute Wirklichkeit komplizierter, als es scheint; vertrackt waren vor allem die Massnahmen, die das Tragverhalten der Stütze im Brandfall sicherstellen. Weil das massive Weichholz in Längsrichtung tiefe Risse entwickelt, musste statt des üblicherweise berechneten Abbrands von viereinhalb Zentimetern mit einem erhöhten Verlust kalkuliert werden, was den Stützenradius um ganze sieben Zentimeter anschwellen liess. Zum Glück. Denn nur so entfalten die «Spriesse» ihre räumliche Wirkung, fast immer im Zusammenspiel mit den klobigen Pilzstützen in der zweiten Reihe. Allerdings führten die Auflagen der Feuerpolizei auch zu einem widersprüchlichen atektonischen Detail: Der Stützenkopf versinkt in der Decke da, wo der kritische Blick eigentlich eine Fuge, eine Pause erwartet: Nur so aber wird die obere Schnittkante der Stütze, der heikelste Bereich, vor Abbrand geschützt.
Schon früh im Entwurf wurde die Spannung zwischen den so verschiedenen Tragelementen zu einem Thema. Die Holzstützen sind eine wild gedachte Reaktion auf die skulpturalen Qualitäten der bestehenden Struktur, die Esch Sintzel früh erkannt und zum Entwurfsthema gemacht haben. Daraus entstand auch die Idee, die verbleibenden Pfeiler möglichst zu inszenieren und von den Wänden abzurücken. Die Gravitationskraft und Raumverdrängung dieser Monsterstützen aus Beton – die schweren Baumstämme wirken im Gegensatz fast leicht und zerbrechlich – wurde richtiggehend gesucht und provoziert, und das lässt sich auch physisch im Bau erleben. Anders als zum Beispiel beim Zollfreilager in Zürich von Meili Peter, so Esch, wollte man an diese Stützen die ganze räumliche Organisation delegieren: «Das hat was von den mächtigen Säulenkörpern ägyptischer Tempel, die den Raum verdrängen, statt ihn aufzuspannen.» Auf gut Deutsch: Die Stützen stehen im Weg.
An das Zyklopische muss man sich gewöhnen. Und es ist die typologisch eigentlich falsche Entscheidung, hier Wohnen einzurichten, was die Architektur entfesselte. Will heissen: Das Materielle, die Schwere, der Raum drängen sich in den Vordergrund, ganz anders als dies selbst Esch in einem programmatischen Aufsatz in dieser Zeitschrift eingefordert hat (vgl. wbw 6–2020, S. 38 – 40): Die Architektur wird Vordergrund, der Bestand fordert seinen Tribut. Genau darum aber ist es hier kein selbstermächtigter Genius, der das Neue und Ungesehene in den Vordergrund stellt – das Andere selbst ist ja schon seit 70 Jahren da. Man hätte es auch unterdrücken können; doch die Entwerfenden haben sich entschieden, die vorhandene, klobige Struktur des Hintergrunds wirklich ernst zu nehmen.
Was also passiert, wenn diese Stützen wie Schiffe voller Wein den Raum verdrängen? Zuerst einmal provozieren sie Umstände, anschaulich wird dies in den niedrigen Geschossen, wo sie oft richtiggehend im Weg stehen, auch wenn stets genug Platz bleibt. Hier wirken die Räume höhlenartig, manchmal beklemmend – anders als in den lichten, überhohen Wohnungen im «Piano nobile». Solche Kontraste würde man unter normalen Bedingungen nicht entwerfen. Im Wohnumfeld artikuliert sich mit dieser Präsenz etwas Fremdes, Unbekanntes, vielleicht sogar Beunruhigendes. Was ist es?
Zuerst: Es berührt einen mit den Stützen eine andere, uns übersteigende Zeitlichkeit, eine Architektur, die scheinbar ewig hält. Dann: Es bleibt immer eine Art Verdrängungsschmerz, wenn in der Stadt aus Orten der Arbeit solche des Wohnens werden – ironischerweise erinnert die neue Fassade an die ebenfalls obsolet gewordene Basler Bahnhofspost von Suter + Suter von 1971. Die aus dem Strukturwandel oftmals resultierende Freiheit von Widersprüchen wird im Weinlager zumal ästhetisch gestört; das Wort «Verdrängung» kann ja auch psychoanalytisch verstanden werden. Auf das Entwerfen bezogen liesse sich sagen, dass die forcierte Operation des Freistellens einen solchen Verdrängungsprozess erst sichtbar machte. Und dann: Hier, im postindustriellen Zeitalter und angesichts der Klimakrise finden wir uns im von der sauberen Moderne verdrängten wilden Denken wieder, in einer Welt, in der mit grosser Ernsthaftigkeit aus verschiedenstem Naheliegendem komplizierte Fetische assembliert und zusammengemischt werden. Sie sind erdig-widersprüchlich und ahnenknochen-kraftvoll – nicht zeitlos, glatt oder gereinigt, wie dies die Moderne suchte.
Super anschaulich wird das wilde Verfahren bei den ornamental gesetzten Putzflächen. Sie sind eine typische «Prozessspur», wie Rickenbacher und Esch unisono sagen: «Es geht immer darum, von einem produktorientierten zum prozessorientierten Arbeiten zu kommen.» Man habe im Bestand einen «Wahnsinn an Hydraulik» vorgefunden: Das Gebäude war durch und durch von Leitungen und Kanälen gepierct – und darüber hinaus örtlich mit einem widerspenstigen Grundputz überzogen, der sich untrennbar in den Rohbau verkrallt hatte. Um diese Narben und Schrunden zuzudecken, wurde dem Weissputz als deutlich abgesetzte Pflasterschicht freier Lauf gelassen: An manchen Stellen braucht es ihn nicht, an anderen unbedingt. «Irgendwann beginnt man an solchen Dingen Spass zu haben», so Esch über diese irrational erscheinende Schönheit.
Zum Schluss kann nun endlich das Programm besprochen werden, wenn auch nur kurz. Das Ungeeignete dieses Bauwerks für das Wohnen führte zu einer unorthodoxen Programmierung. Diese ist stark durch die Bauherrschaft mitgestaltet, erst die Stiftung Habitat machte es möglich, dass in diesem Haus das Soziale einen so hohen Stellenwert erhielt. Der Bau ist ein Social Condenser (vgl. wbw 11–2021) im eigentlichen Sinn, gerade die interne Erschliessung und die Dachterrasse knüpfen via Le Corbusier an Vorbilder aus dem russischen Konstruktivismus an. Man wäre fast geneigt zu sagen: Das Soziale ist in diesem Haus überpräsent, nötigt sich wie die Struktur den Bewohnenden auf. Aber: durch die Weitläufigkeit und Redundanz des Erschliessungssystems können sich Nachbarinnen und Gäste in dieser Wohnmaschine auch aus dem Weg gehen. Das ist tatsächlich wie in einem Ozeandampfer, so wie ihn die Modernen immer imaginiert haben. Heute würde man wohl eher von einem Kreuzfahrtschiff reden: Der einstige Weintanker bietet eigentlich alles, was das Herz begehrt.