Bettina Köhler, Daniela Valentini (Bilder)
Wie lässt sich ein Ort militärischer Macht in einen öffentlichen Raum umwandeln? Eine humorvolle Neuinterpretation macht die ehemaligen Campbell Barracks zum Ort sozialer Begegnung und geschichtlicher Reflexion – eine poetische Würdigung.
«[…] Arbeit […] gelingt nur, wenn ständig etwas anderes zur Wirkung kommt: das Träumen. Oft blickte ich in den Himmel, die Wolken, oft sass oder lag ich, ohne etwas zu tun. Nur die Ruhe des Besinnens in der unbefangenen Bewegung der Phantasie lässt die Impulse zur Geltung kommen, ohne die jegliche Arbeit endlos, unwesentlich, leer wird. Mir scheint: wer nicht täglich eine Weile träumt, dem verdunkelt sich der Stern, von dem alle Arbeit und jeder Alltag geführt sein kann.»1
Träume täglich eine Weile. Was für ein Auftrag. Der politisch, sozial und kulturell äusserst streitbare Philosoph Karl Jaspers formuliert ihn 1963 mit Blick auf seine Philosophische Autobiographie und wandte sich damit zugleich an uns alle: Träume. Eine seltsame Koinzidenz verbindet das Konzept des 2022 eröffneten Parks der Begegnungen von Robin Winogrond und Studio Vulkan in Heidelberg mit dem Leben und den philosophischen Ideen von Jaspers. Karl Jaspers hatte in Heidelberg seit 1922 seinen ersten Lehrstuhl inne. Er entwickelte die Grundlinien seiner an Freiheit, politischer Demokratie und persönlicher Verantwortung orientierten Philosophie in dieser Stadt am Neckar, in der die Nationalsozialisten in den dreissiger Jahren viele Bauvorhaben geplant hatten, die der Propaganda und der Repräsentation militärischer Macht und totalitärer Politik dienen sollten. Verwirklicht wurden von diesen Plänen nur wenige Projekte. So feierte man 1937 das Richtfest der «Grossdeutschen Kaserne», deren Gelände und Bauten heute das Zentrum des neuen Parks der Begegnungen bilden. Ein grosses, zur Römerstrasse orientiertes Stabsgebäude, ein dahinterliegender Exerzierplatz und sechs weitere Kasernen zu beiden Seiten des Platzes wurden 1937 eingerichtet. Und Karl Jaspers musste sich in diesem Jahr entscheiden, ob er mit seiner jüdischen Ehefrau Gertrud Mayer-Jaspers verheiratet bleiben, damit seinen Lehrstuhl verlieren und der ständigen Gefahr der Deportation ausgeliefert sein würde oder ob er sich mit den Machthabern arrangierte. Sie blieben verheiratet und sie blieben in Heidelberg, obwohl die Situation lebensgefährlich war. Etliche Jahre nach dem Krieg entschied Jaspers sich für die Annahme einer Professur an der Universität Basel, denn seine Frau konnte sich ein Leben in Heidelberg nicht mehr vorstellen. Mittlerweile war die amerikanische Besatzung in die ehemaligen Kasernen des Dritten Reichs eingezogen. Sie erweiterte das Gelände, später richtete die NATO ihr europäisches Hauptquartier hier in Heidelberg ein. Erst im Jahr 2013 verliessen die letzten GIs die Stadt, die als Eigentümerin beschloss, einen Teil des Geländes in einen Park umzuwidmen.
In den bisher publizierten Texten zum Park, dessen Geschichte als Teil der IBA Heidelberg mit einem gewonnenen internationalen Wettbewerb im Jahr 2018 begann, wird von der Leichtigkeit, dem Humor und der künstlerischen Gesamtausrichtung des Konzepts und seiner Realisierung gesprochen. Aber was bedeutet dies konkret für das Erleben und Wahrnehmen der neuen städtischen Landschaft? Was geschieht mit uns, wenn wir den Park besuchen und die von Robin Winogrond erarbeitete Matrix der Transformationen bestimmter historischer Elemente wie Raster, Adler, Eiche, Checkpoints nicht kennen?2 Die Landschaftsarchitektin sieht das Raster der Raumorganisation «zum Zweck der Militärherrschaft» aus dem Raster der «historischen Landwirtschaftsfelder» hervorgegangen. Sie greift dieses auf und deutet es um zum Raster als «demokratische Netzstruktur». Kann man ein solches neues Raster tatsächlich als demokratisch wahrnehmen, und noch mehr: Was würde es heissen «Demokratie zu empfinden»?
Ein Experiment und ein Tagtraum: Stellen wir uns vor, Karl Jaspers durchquert heute das zur Römerstrasse gelegene ehemalige Hauptgebäude der Kaserne im immer schon offenen mittleren Durchgang. Er trifft auf einen rot belegten Weg, eingefasst von hellen Steinbändern, der ihn unaufdringlich, aber deutlich an eine klassische Laufbahn erinnert. Er folgt diesem Weg nach rechts entlang des Hauptgebäudes. An dessen Ende biegt der Weg nach links ab, um ihn wieder geradeaus zu führen. Jaspers schlendert weiter und hält dann an. Er nimmt auf einer der fünfeckigen Betonschalen Platz, die als ehemalige Pflanzgefässe entlang des Weges in Gruppen zusammengestellt wurden. Gefüllt mit klar orange, blau oder gelb leuchtendem Granulat, wirken sie frisch und sportlich, einladend spielerisch. Und so sitzt er, lächelnd, am Rand des ehemaligen zentralen Exerzierplatzes, der so viele versteinerte Mienen getragen hat. Vielleicht legt er den Kopf zurück, schaut in den Himmel, schliesst die Augen und träumt den grauen Wolken nach.
Er stellt sich vor, dass Gertrud neben ihm sitzt. Sie erzählt ihm begeistert von ihrer heutigen Lektüre, Johan Huizingas Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Huizingas Idee, Kultur entstehe überhaupt erst in Form von Spielen, findet sie grossartig. Und das Buch sei 1938 erschienen, ein Jahr nachdem hier das Richtfest stattgefunden hatte. Das sei doch ein seltsames Zusammentreffen. Es lese sich wie eine Widerrede gegen all das, was sich hier ereignete. Huizinga schreibe: «Alles Spiel ist zunächst und vor allem ein freies Handeln. Befohlenes Spiel ist kein Spiel mehr. Schon durch diesen Charakter der Freiheit sondert sich das Spiel aus dem Lauf eines Naturprozesses heraus, es fügt sich ihm an und legt sich wie ein schönes Kleid über ihn hin.»3 Sie steht auf, ergreift Jaspers› Hand und zieht ihn hoch. «Komm», sagt sie, «ich bin neugierig, lass uns schauen, wie der Exerzierplatz verändert wurde. Es scheint so, als sei er eine runde Manege geworden.» Jaspers erhebt sich gleichfalls, er freut sich, dass sie gemeinsam hier sind und dass sie eine tiefgreifende Veränderung dieses Ortes bezeugen können. Sie gehen schweigend weiter, und erst als sie genau in der Achse des ehemaligen Hauptgebäudes stehen bleiben und über den Platz hinwegschauen, können sie sehen, dass er tatsächlich rund ist. In diesem Moment lacht Gertrud überrascht auf. «Das habe ich überhaupt nicht gesehen, schau Karl, das helle Band des Steinmosaiks, das den Weg begleitet, zeichnet die ursprünglich rechteckige Form des Exerzierplatzes nach, und dieser gerade geführte Saum berührt eine Zeitlang den Kreis des neuen zentralen Platzes, der an dieser Stelle seine Rundung verliert.» Sie lehnt sich an ihren Ehemann. «Was für eine witzige Idee: Der neue Platz liegt, mit Blick auf die alte Hauptkaserne, nicht mittig. Die Achse des Stabsgebäudes, die Symmetrieachse des Rasters, an der die Disziplin der Exerzitien aufgehängt war, wird in Schwingung versetzt. Man wird das gar nicht so bewusst wahrnehmen, aber ich glaube, die entspanntere Wirkung des Forums, wie der neue Platz genannt wird, der offene und einladende Charakter hat viel mit dieser Verschiebung zu tun.» Jetzt schweigen beide.
Hier endet der Tagtraum. Er ist als Einladung gedacht, eine eigene Würdigung dieses sehr eigenwilligen Parks zu erleben. Folgt man dem roten Weg, der um das Forum herumführt, nimmt man also, metaphorisch gesprochen, das «rote Band» in die Hand, dann gelangt man nach und nach, so war es der Wunsch der Landschaftsarchitektin, in alle weiteren Teile des Parks der Begegnungen, die in das Gelände der Kasernen integriert wurden. Man findet den Kulturmarkt, den common Ground, den Bürgerpark mit kleinen runden Plätzen zum Verweilen und eine Lounge. Und wie auch beim Forum werden überall die vorhandenen Strukturen und Möbel und Ausstattungselemente auf witzige Weise umgedeutet und alles kann aufatmen. Die Idee des Frei-Raums wird verwirklicht: Man schaut, läuft, hört in die Vergangenheit und ist doch zugleich selbstverständlich in der Gegenwart und erlebt eine Umgebung, die mit vielen Gesten zum Verweilen, zum Da-sein und Träumen einlädt. Man entdeckt auch ein Spielplatz-Gelände, in das die ehemaligen Checkpoint-Kabinen der Amerikaner integriert wurden, farbig gefasst und zugänglich, werden aus den alten Kontrollorten neue Spielorte. Das Spiel aber ist frei.
Zum Schluss: Vielleicht liest man vor dem Besuch des Parks den wunderbaren Essay von Susan Sontag Against Interpretation aus dem Jahr 1964, der folgendermassen endet: «Wie könnte eine Kritik aussehen, die dem Kunstwerk dient und ihm nicht seinen Platz streitig macht? Was wir brauchen, ist zunächst mehr Aufmerksamkeit für die Form in der Kunst. Wichtig ist jetzt, dass wir unsere Sinne stärken. Wir müssen lernen, mehr zu sehen, mehr zu hören, mehr zu fühlen. […] Anstelle einer Hermeneutik der Kunst brauchen wir eine Erotik der Kunst.»4
Auf nach Heidelberg. Denn der Park wächst mit jedem Besuch.
Bettina Köhler (1959) Studium Kunstgeschichte, Klassische Archäologie und Städtebau in Bonn. Ab 1996 Assistenzprofessur an der ETH Zürich, Geschichte der Architekturtheorie. Ab 2006 Professorin für Kunstgeschichte an der FHNW, Basel. Seit 2019 freie Autorin.
1 Karl Jaspers, Philosophische Autobiographie, erweiterte Neuausgabe, München 1977, S. 44.
2 www.robinwinogrond.ch/projects/park-of-encounters/ (abgerufen am 15.5.2024)
3 Johan Huizinga, Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Hamburg 2022 (Orig. 1938), S. 16.
4 Susan Sontag, Against Interpretation and Other Essays, (Orig. 1966), New York 1969, S. 18. Übersetzung von BK.
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