Artikel aus 7/8–2025

Daten-Dada

19. Architekturbiennale Venedig 2025

Christoph Ramisch, Roland Züger

Ein Schwall stickiger Luft bläst uns ins Gesicht. So empfängt die diesjährige Architekturbiennale ihre Besuchenden. Die Atmosphäre im Eingangsraum bestimmt die warme Abluft dutzender Klimageräte. Ihr Brummen soll den Architekturschaffenden ein mahnender Chor sein.

Der diesjährige Kurator Carlo Ratti streckt mit dieser Geste den Mahnfinger aus, der nur noch im deutschen Pavillon mit seinem Film zum Thema Stresstest aus Katastrophenmeldungen übertroffen werden wird – als ob heute noch nicht allen klar wäre, welche Stunde es geschlagen hat. Doch die diesjährige Schau hat auch Sinnliches zu bieten. 

Mit Carlo Ratti ist seit 2000 (Massimiliano Fuksas) erstmals wieder ein italienischer Kopf Vordenker der Biennale. Seine Wahl erfolgte noch bevor die Regierung Meloni ihrer Kulturpolitik einen Rechtsdrall verlieh und mit Pietrangelo Buttafuoco im März 2024 ein neuer Biennale-Direktor berufen wurde. Inhaltlich steht Ratti für den globalen Wissensaustausch. Er leitet am Massachusetts Institute of Technology das Senseable City Lab. Dort wirbt er mit dem Label erfolgreich Drittmittel ein und forscht über Smart Cities. Wer nun aber Forschungsprojekte aus dem Elfenbeinturm erwartet, wird enttäuscht. Ratti öffnet den Blick und lädt Praktikerinnen wie Theoretiker zum Open Call ein. Rund 750 Personen sind beteiligt, quer durch die Disziplinen, von Jung bis Alt. Die Architektur von morgen soll in den Händen einer inklusiven Autorenschaft entstehen.

Überforderung im Schummerlicht

Ratti gliedert die Ausstellung im Arsenale in drei Themen: die natürliche, künstliche und kollektive Intelligenz. Er betont schon in seinem Statement beim Eingang, dass auf die Bemühungen zur Reduktion der Emissionen nun die Anpassung an das veränderte Klima erfolgen müsse. Dafür hat sein Team 280 Projekte ausgewählt. Da der italienische Pavillon in den Giardini wegen Umbauten geschlossen ist, müssen die Exponate alle im Arsenale unterkommen: eine Überforderung durch die schiere Fülle. Die Projekttafeln stehen in Reih und Glied entlang der langen Wände, während in der Mitte etwas grössere Installationen Raum erhalten. Die Erläuterungstexte (Grafik: Bänziger Hug Kasper Florio) sind zu klein, im Schummerlicht schlecht lesbar, vom oft gelesenen Schwurbel ganz zu schweigen. Mit zunehmender Ermüdung ist man jedoch für die von einer KI erstellten Zusammenfassungen dankbar.

Im ersten Teil zum Thema der natürlichen Intelligenz sind gleichwohl einige Perlen zu finden. Dieses Kapitel gehört zum Besten, was die Ausstellung zu bieten hat. Überzeugend sind Projekte, bei denen Bauten von Bäumen profitieren. Anschaulich wird das bei einer Hotelanlage in Jing-yang des Büros Vector Architects. Auf dem Gelände einer ehemaligen Maschinenfabrik zur Porzellanherstellung wuchsen bereits Zimtbäume. Das Architekturteam hat diese erhalten, ergänzt und die neuen Hotelpavillons an den Stämmen vorbei gezirkelt. Schon der Spaziergang durch das Riesenmodell ist eine Augenweide. «Trees carry time, memory & emotions», schreibt das chinesische Team.

Weit glaubwürdiger, weil anschaulicher als die Welt aus Mikroben und Bakterien, an die Ratti glaubt, sind in diesem Ausstellungsteil auch alte Bekannte unserer Hefte anzutreffen: die Naturbaustoffmodelle des Büros Material Cultures aus London (vgl. wbw 4–2024, S. 6 – 15) oder die baubotanischen Experimente von Ferdinand Ludwig aus München (vgl. wbw 7/8–2022, S.14 – 19). Auch ältere Projekte sind in der Schau vertreten: Das Regierungsgebäude in Fukuoka von Emilio Ambasz von 1990 zeigt vortrefflich, wie die Bäume des Parks auch auf dem Terrassenhaus Wurzeln schlagen.

Aber leider ist Rattis Auswahl teils sehr unkritisch. Das zeigen etwa der begrünte Glasturm in Kuala Lumpur von Jean Nouvel, die verstreuten Holz-Ferienhäuser im Schwarzwald von Peter Pichler oder die Holzwohnhäuser von Transborder Studio, die in der Osloer Bucht im Wasser stehen. Das ökologische Mäntelchen kaschiert den Ressourcenverschleiss.

Überzeugende Antworten auf das Thema der Natur als Lehrmeisterin finden sich auch in den Länderpavillons. Im belgischen etwa erkennen der Landschaftsarchitekt Bas Smets und der Pflanzenneurobiologe Stefano Mancuso in Gewächshäusern ein Vorbild für die Architektur. Pflanzen wirken dabei als natürliche Klimaanlage, sind selbst Akteurinnen (nicht nur Dekoration) und leben in Symbiose mit der Architektur und den Nutzenden. Die Pavillonmitte dominiert deshalb ein Pflanzbläz, im Zentrum eine Magnolie, ein Zimt- und ein Pfefferbaum. Um sie besser zu verstehen, werden Wassertransport und Wachstum überwacht. Den Pflanzen zuhören, nennt das Smets. Und tatsächlich ist die Luft hier im Pavillon frisch – trotz der vielen Besuchenden.

Comeback des naiven Technikglaubens?

Zurück zum Arsenale, zum zweiten Teil von Rattis Trilogie, der künstlichen Intelligenz. Hier lässt er erwartungsgemäss die Muskeln spielen und zeigt Erstaunliches bis Erschreckendes. Rattis Credo ist klar: Alles wird gut. Die Technik wird es richten. Woher die Energie für all das kommt, bleibt auch nicht offen: Ein elegantes Objekt entpuppt sich als Modell eines mobilen, bleigekühlten Schnellreaktors. Unverhohlen lobbyiert der Beitrag Revolutionizing Clean Energy für Kernkraft. Das italienische Design sorge für mehr Akzeptanz, erfährt man im Erklärungstext. Dieses Fanal des naiven Technikglaubens ist einer der verstörendsten und zugleich wohl ehrlichsten Momente dieser Schau.

Wer es zukunftsfähiger mag, folgt dem Urteil der Jury um Hans Ulrich Obrist. Die verlieh dem Beitrag des Königreichs Bahrain den goldenen Löwen für den besten Beitrag der Länder. Die Installation Heatwave kehrt auf einfache wie wirksame Weise das Prinzip der Wärmepumpe um. Geothermisch auf 27 Grad temperiert, strömt Luft aus einer metallenen Decke und schafft unter ihr eine kühle Oase. Zeitgleich wird die heisse Luft durch Solarkamine abgeführt. Sonnenenergie treibt das System an. Neben thermodynamischen Grundprinzipien wird hier altes Wissen symbiotisch mit einfacher Technik und regenerativen Ressourcen zusammengedacht.

Ratti denkt da in anderen Dimensionen. Für ihn werden Algorithmen und künstliche Intelligenz unsere Probleme lösen. Klar wird dies beim Durchschreiten zweier langer Wände, bestückt mit Mega-Diagrammen. Die Technikgeschichte «from empires to ai» informiert von ersten Tonaufnahmen über Waffensysteme bis zu Wikipedia und zur KI -Datenexplosion.

Big Data als Heilsbringer

Überhaupt scheint das Sammeln von Big Data die Arbeit von Architekturschaffenden zu ersetzen. Eine Vielzahl der Projekte bemüht sich um Wissenserhebung, durchaus mit guten Absichten: Tauchbojen saugen Informationen aus dem Ozean, um Wetterlagen vorauszusagen (Proxy Ocean). In Istanbul sichern Liveinformation dank KI die Rettungs- und Versorgungswege im Erdbebenfall (A Way Out). Ein chinesisches Team misst Hirnströme in Echtzeit und stellt fest, ob sich Menschen in einem Raum gestresst, entspannt oder ängstlich fühlen (Brain–Storm–Streaming). Alles im Sinne einer besseren Gestaltung – hoffentlich.

Konkret wird die Übersetzung von Daten in Architektur an einem Tableau mit 370 Grundrissmodellen aus dem sozialen Wohnungsbau in Spanien. Dabei wird KI zu RI – Recycling Intelligence. Ist so die Verbindung von Technik und Nachhaltigkeit zu verstehen? Aus einer Analyse vergangener Wohnbauwettbewerbe werden unter Eingabe von Schlagwörtern wie «klimagerecht» oder «divers» Wohntypen per Knopfdruck produziert. Auswertung paart sich hier mit Verwertbarkeit, ohne störenden Zeitverlust.

Generell scheint die Sehnsucht, den Entwurfs als mathematische Formel zu entschlüsseln, hier allgegenwärtig. Die letzte Bastion der Architektur wird sukzessive outgesourced. Wenn nur genug Daten vorliegen, liefert eine Maschine die einzig logische und freilich auch grüne Lösung. Werden Roboter uns das Denken abnehmen?

In Venedig sind sie die meistfotografierten Stars der Show. Anthropomorphe Maschinen mit Gesichtern stehen neugierig herum. Für Am I a Strange Loop lernt ein Roboter im Dialog mit den Besuchenden sich selbst besser kennen, entwickelt ein Gedächtnis und produziert Gesichtsausdrücke. Gramazio Kohler dürfen hier natürlich nicht fehlen: In ihrem Beitrag schwebt ein Roboter in einer Wolke aus Bewehrungsmatten und träumt von seiner Rolle in der menschlichen Welt. Episodenhaft prophezeien solche Beiträge die Selbstfindung und drohende Menschwerdung dieser lernenden Maschinen.

Spuren des Kollektiven

Im nächsten Raum packt ein Roboter wirklich mit an. Der gehört jedoch bereits zu Rattis drittem Ausstellungsteil, zur kollektiven Intelligenz. Mehr Arm als Körper, fräst die KI-gesteuerte Maschine mit bhutanischen Holzschnitzern um die Wette. Ancient Future der Bjarke Ingels Group verdeutlicht das Zusammenwirken menschlicher und technischer Fähigkeiten. Der Begriff des Kollektiven bleibt ansonsten enttäuschend unscharf. Viele der Beiträge erschöpfen sich in interdisziplinären und bottom-up-initiierten Projekten sowie Rückgriffen auf indigenes Wissen über Materialien und Bauweisen.

Teils auch ganz ohne Architektinnen und Architekten, wie der Beitrag Carosello (u.a. von Christopher Roth). Dieser lehnt sich bewusst an Bernard Rudofskys Ausstellung Architecture without Architects (1964) an und erzählt in einem grossen Diorama die Genese des traditionell vernakulären Hauses in China nach.

Um dem Kollektiven auf die Spur zu kommen, bleibt wiederum der Weg in die Länderpavillons, zum Beispiel zum amerikanischen, der der Porch gewidmet ist. Eine hölzerne Veranda schafft vor dem Pavillon einen Schwellenraum. Hier sitzend, lässt sich die Qualität dieser Architecture of Generosity im Feldversuch erproben. Ähnliches gilt für Yasmeen Laris Bambushütte vis-à-vis von Stirlings Bücherpavillon. Ursprünglich als Notbehausung für Erdbeben- und Flutopfer entwickelt, markiert die leichte Konstruktion der pakistanischen Architektin den künftigen Standort des Pavillons von Katar. Der verweist gastfreundlich auf die Ausstellung Beyti Beytak – My home is your home im Palazzo Franchetti an der Ponte dell’Accademia. Wer Arsenale und Giardini hinter sich lässt, entdeckt an diesem ruhigen Ort Originalzeichnungen von Hassan Fathy. Allein sie sind diesen Umweg wert. Fathys Pläne leiten eine Ausstellung ein, die alte und neue Bauten aus den Regionen des Nahen Ostens, aus Nordafrika und Südasien versammelt. Sie dokumentiert die Oase als historischen Ort der Begegnung und des kulturellen Austauschs, zeigt aber auch Reinterpretationen als Gemeindezentren von Bangladesch bis Palästina. Bauten von Balkrishna Doshi, Geoffrey Bawa oder Hassan Fathy zeigen, wie man bereits vor vielen Jahren mit lokalem Wissen einfach und klimagerecht zu bauen verstand. Ein wichtiger Hinweis, von wem man für kommende Aufgaben Sinnvolles lernen kann.

Rattis Vision schielt da in andere Sphären. Wenn alle Technik unseren Planeten doch nicht retten kann, nutzt man sie zur Flucht. Nicht nach vorn, sondern nach oben. Seinen letzten Ausstellungsraum widmet Ratti dem Traum finanzstarker Tech-Mogule, fremde Planeten zu kolonisieren. Illustres von «Off-world-agriculture» bis hin zu Mars-Städten ist zu durchschreiten, um endlich zum Ausgang der Ausstellung zu gelangen. Wer angesichts solch Musk’scher Fantasien den Kontakt zur eigenen Lebensrealität wahren mag, dem bleibt nur die Flucht in manch künstlerische Installationen.

Flucht in die Ironie

Beispielsweise in den Schweizer Pavillon. Hier wiegen weisse Stoffe poetisch im Wind. Das Team mit Elena Chiavi, Kathrin Füglister, Amy Perkins, Axelle Stiefel und Myriam Uzor baut die Kunsthalle von Lisbeth Sachs der Schweizerischen Ausstellung für Frauenarbeit SAFFA (1958) in den Pavillon von Bruno Giacometti (1951) ein. Aus der Überlagerung des kreisförmigen Gebildes mit dem orthogonalen Bau vor Ort entstehen spannende Raumsituationen. Die Kuratorinnen wollen zudem auf die geringe Sichtbarkeit von Frauen in der Architektur aufmerksam machen. Aber warum ist dann über das Werk von Lisbeth Sachs in der Ausstellung nichts zu erfahren? Glücklicherweise erschien Rahel Hartmann Schweizers Monografie von 2020 über Sachs just zur Schau auf Englisch (gta Verlag).

Eine Stoffinstallation hängt auch an der Decke des serbischen Pavillons. Gestrickt wurde sie mit Hilfe der «Belgrader Hand». So nennt man die 1963 in Serbien entwickelte erste bionische Handprothese. Kleine, solarbetriebene Spulen lösen das Gewebe jedoch langsam auf. Bis zum Ende der Biennale wird von der Stoffskulptur im Raum nichts mehr übrig sein. Subtil erinnert Unraveling – New Spaces daran, dass die Zeit läuft.

Einen humorvollen Empfang bereitet auch der polnische Pavillon nebenan. Hier werden Gesten und kollektives Wissen untersucht, wie böse Geister dem Haus fernbleiben. Ironische Bezüge zum Katholizismus und das Überspitzen aktueller Haustechnik finden in einer Art Altar für Feuerlöscher zueinander.

Hintersinnig ist auch der bulgarische Beitrag Pseudonature. Im Garten des Centro Culturale Don Orione Artignalli lässt eine solarbetriebene Kanone künstlichen Schnee auf das Solarpaneel fallen, das sie antreibt. Nur wenn es die Sonne schafft, den Schnee zu schmelzen, schneit die Maschine weiter. Deckt der Schnee das Paneel ab, stoppt die Maschine sich erfolgreich selbst. Die spitzfindige Demonstration zeigt, dass Technik vieles kann, aber nicht die eigene Absurdität erkennen: eine gelungene Persiflage auf Rattis Schau.

Biennale Architettura 2025
bis 23. November 2025
Arsenale, Giardini und div. Aussenstationen, 30122 Venedig
www.labiennale.org
Di–So 11–19 Uhr (ab Okt. 10–18 Uhr)

Katalog
Intelligens. Natural. Artificial. Collective
Carlo Ratti (Hg.)
Silvana Editoriale, Mailand 2025
Gestaltung: Bänziger Hug Kasper Florio
2 Bände, engl./ital.
728/254 Seiten, zahlr. Abb.
21 × 27 cm, gebunden, im Schuber
EUR 90.—
ISBN 978-8-836661-17-6

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