Artikel aus 7/8–2025

Ruine als Spielplatz

Transformation einer Kläranlage in Aproz von En-Dehors

Lukas Stadelmann, Noël Picco, Baptiste Coulon (Bilder)

Dreissig Jahre lag die Kläranlage brach. Nun nehmen sie Kinder mit grosser Begeisterung als Spiellandschaft in Beschlag. Die Ausdauer, diese Infrastruktur so lang zu erhalten, war ein Schlüssel zum Erfolg. Manchmal braucht es eben Zeit, um die passende Nutzung für eine ausgediente Struktur zu finden.

Vielleicht hilft es, sich Romain Legros und Arnaud Michelet von En-Dehors als Archäologen vorzustellen, die auf eine für sie komplett neue Welt stiessen, als sie über die Betonränder der stillgelegten Kläranlage im Walliser Dörfchen Aproz kletterten. Aber anstelle deren ursprünglicher Funktion hatten die beiden bereits eine neue Nutzung im Sinn. Kurz zuvor war ihr Auftrag gescheitert, einen neuen Spielplatz auf der Nachbarparzelle zu gestalten. Die Gemeinde wollte den Bauplatz lieber für die Schulerweiterung reservieren. Wahrscheinlich war es genau dieser Moment, der den neuen Spielplatz im alten Klärbecken begründet hat.

Statt der Anlage eine fixe Idee oder das Standardmobiliar aufzuzwingen, arbeiteten die Landschaftsarchitekten die Spielelemente aus dem Bestand heraus – und in diesen hinein. Die Vielfalt, die mit wenigen Elementen entstand, täuscht darüber hinweg, wie eng der Raum im Klärbecken eigentlich ist. Indem sie den mittleren Teil der Betonwand aufklappten, öffneten En-Dehors den Raum mit einer grossen Geste. Das Wandelement dient nun als Treppenstufen. An den Wänden hängen Stein- und Betonbrocken, die zum Klettern einladen. Verstreut stehen Taster, Wasserspeier und Drehhebel, deren Funktion auf den ersten (und zweiten) Blick unerklärlich erscheint. Die Gestaltung verweigert sich klaren Vorgaben, der Raum will spielend erlebt werden. Sträucher und Bäume sind gezielt platziert und verstärken das Bild einer romantischen Ruine. Aber um im ehemaligen Klärbecken einen Baum zu pflanzen, schneidet man nicht einfach durch eine kleine Bodenschicht, sondern durchdringt knapp einen Meter Beton. Darin zeigt sich auch die Lebenszeit, die diesem Bauwerk einst zugewiesen worden war. Und die Absurdität, es bereits heute als historisches Artefakt zu betrachten.

Höhepunkt des Schweizer Abwassernetzes

Seit einem Jahrhundert baut man in der Schweiz Kläranlagen, um die Umwelt vor dem Menschen zu schützen. Und eigentlich auch den Menschen vor sich selbst. In den 1970er Jahren wechselte die Finanzierung von den Kantonen auf die Bundesebene und führte zu einem Bauboom für Abwasserreinigungsanlagen. So explosionsartig diese auf der Landkarte aufgetaucht sind, so schnell verschwinden sie nun wieder. Obwohl ihre Funktion so notwendig bleibt wie zuvor. Der Grund dafür liegt in den Kosten, die der Kampf gegen Spurenstoffe, Pestizide und Mikroplastik verursacht. Die Kommunen können sie nicht mehr stemmen. Stattdessen werden Gemeindegrenzen überwunden und Infrastrukturen zusammengelegt. Zurück bleiben leere Betonbecken an schönsten Lagen: in Naturschutzgebieten, entlang von Seen und Flüssen. Oder wie in Aproz: inmitten der Agglomeration. Es ist davon auszugehen, dass in den nächsten Jahren zwei Drittel aller Anlagen von einer Stilllegung betroffen sind. Meist sind es kleinere Gemeinden, die sich damit auseinandersetzen. Gemeinden wie die, die sich an unsere Zugstrecke von Basel nach Aproz reihen. Denn wie die meisten Infrastrukturen folgen auch die Kläranlagen den Gewässern, der Schwerkraft – und dem Föderalismus. Jede Gemeinde baute ihre eigenen Becken an der tiefsten Lage, an einem Wasserlauf und nicht selten an der Grenze zur nächsten Ortschaft.

Mit dieser Ausgangslage war es für uns nicht schwierig, hunderte Kläranlagen auf Luftbildern zu identifizieren – nach aktuellem Stand 768 schweizweit. Im Rahmen der Arbeit unseres Büros Malheur & Fortuna dokumentieren wir seither deren Verschwinden mit einer selbst entwickelten künstlichen Intelligenz und im Gespräch mit Betreiberinnen und Gemeinden. Zusätzlich bauen wir eine Wissensdatenbank mit guten (und schlechten) Beispielen, gängigen Herausforderungen und Prozessfragen auf. So versuchen wir Lücken zu füllen, die entstehen, wenn eine Infrastruktur das Ende ihrer bisherigen Nutzung erreicht.

Während des Betriebs sind die Anlagen im VSA (Verband Schweizer Abwasser- und Gewässerschutzfachleute) zusammengefasst. Aber wie der Verband im Gespräch selbst erklärt, fällt eine Kläranlage nach ihrer Stilllegung aus dem Netz. Dass dem zukünftig nicht mehr so ist, daran arbeiten wir mit dem VSA. Denn mit dem Funktionsverlust fällt die Verantwortung in der Regel auf die Standortgemeinde zurück. Die Konsequenz zeigt sich in den immergleichen Artikeln in Lokalzeitungen, die zu Beginn von grossen Ideen und Potenzialen sprechen, zunehmend aber Konflikte kommentieren und am Schluss von der Eröffnung eines neuen Parkplatzes an der Stelle des ehemaligen Klärwerks berichten. Nach grossen Ambitionen kommen hohe Rück- oder Umbaukosten zu den zonenrechtlichen Herausforderungen und den Umweltfragen aufgrund der Gewässer- und Naturschutzräume hinzu. Es sind Komplexitäten, auf welche die Strukturen kleiner Kommunen (und um diese geht es hier) nicht ausgerichtet sind. Und eine Kläranlage nimmt man auch nur einmal ausser Betrieb. Deswegen wird das Wissen über die Prozesse und Nutzungspotenziale kaum weitergetragen.

Dreissig Jahre Geduld

Die entscheidende Herausforderung ist, die stillgelegte Infrastruktur einer sinnvollen neuen Nutzung zuzuführen. Der Gedanke, dass dabei das passende Programm nicht erfunden, sondern nur entdeckt werden kann, zeigt sich in Aproz. Statt von Wiese, Wald und Rhone ist dort das Klärbecken heute zu drei Seiten von Einfamilienhäusern eingefasst. Der Fokus scheint auf dem Privaten zu liegen: Zwischen Hecken und Gartenmauern wuchert das Grün. Die Quartierstrassen sind mehr Schlaglöcher als Strassenbelag. Trotz guter Gemeindefinanzen ist kaum öffentliche Infrastruktur und für Kinder wenig geteilter Raum vorhanden. Deshalb fehlen auch Spielplätze. Vor diesem Hintergrund ist es eine Qualität, dass seit der Stilllegung des Klärbeckens vor bereits 30 Jahren kein Rückbau stattgefunden hat. Im Wallis hat man gewartet, bis eine passende Nutzung gefunden war. Das mag in diesem Fall keine strategische Entscheidung gewesen sein, kann aber dennoch als Vorbild dienen. Vielleicht muss nicht immer sofort gehandelt werden. Die gebaute Umwelt ist oft kein Problem, das einer dringlichen Lösung bedarf, sondern eine Ressource, die man auch der nächsten Generation hinterlassen darf.

Zustand des Unfertigen

So betrachtet, bleibt die gebaute Substanz beständig, die Nutzung geht jedoch immer weiter. Selbst die kleinsten Kläranlagen haben heute oft mehrere Ausbauphasen hinter sich. Becken werden erweitert, Reinigungsstufen ergänzt, die Technik ändert sich, und damit ändern sich auch die Bauten. Und auch der Spielplatz in Aproz erklimmt nur die nächste Stufe der ständigen Anpassung. Die Infrastruktur, wie auch das Projekt von En-Dehors, verträgt Veränderungen, Eingriffe und selbst Vandalismus. Einige Wochen nach Eröffnung liess die Gemeinde ein grosses Wandgemälde an der Aussenseite der Spielfläche erstellen. Die farbigen Markierungen, die dem Projekt den ikonischen Charakter verleihen, waren ein Wunsch der Eltern. Auch wenn dies nicht dem Entwurfsgedanken der Landschaftsarchitekten entstammt, wirkt es alles andere als störend. Wie dem Entwurf hängt auch dem heutigen Stand etwas Unfertiges an. Den Kindern wird Raum gelassen. Abgesehen von der Rutschbahn ist kein Spielelement in seiner Nutzung vorbestimmt. Schon beim Bau wartete man auf die nächste Umdeutung, die nächste Aneignung. Es stört auch nicht, dass die ersten Steingriffe bereits aus der Kletterwand gerissen sind und ein Schalter abgeschlagen neben einem Brandloch am Boden liegt. Hier zeigt sich vielmehr der Nutzungsdruck, der sich am spärlichen öffentlichen Raum entlädt. Denn auch wenn nun ein erster Raum für die Kinder gefunden ist, so fehlt er weiterhin für Jugendliche. En-Dehors geht damit pragmatisch um. Sie verstehen den Spielplatz als gelebte Infrastruktur. Ideen für Rück- und Aussenseiten der Becken sind bereits vorhanden, ein neuer Anspruch an die Kläranlage ist gestellt und der Blick darauf verändert sich erneut.

Antworten auf nicht gestellte Fragen

Es greift natürlich viel zu kurz, die Spiellandschaft in Aproz als sensible Gestaltung in einem anspruchsvollen Bestand zu beschreiben, Kreislaufwirtschaft in der Baubranche zu thematisieren oder den historischen Wert der Abwasserreinigung zu beleuchten. Die bemerkenswerte Leistung von En-Dehors liegt an einer anderen Stelle: Sie bringen ein Bedürfnis und eine Ressource zusammen. Wie sie selbst sagen: In einem Wettbewerb hätten sie mit diesem Vorschlag wohl kaum gewonnen. Das eigentliche Projekt liegt vor der Gestaltung. Es ist die richtige Idee, zur richtigen Zeit, am richtigen Ort. Eine passende Analogie bringt einer der Projektautoren gleich selbst. Beim Kaffee erzählt Arnaud Michelet, wie auf einer Gletscherwanderung eine kleine, wertvolle Skulptur gefunden worden sei. Erst nach Jahrzehnten gelangte sie aus dem Privatbesitz in die Hände von Fachpersonen. Der ursprüngliche Finder kannte den Wert des Objektes für die Wissenschaft nicht. Und diese wusste wiederum nicht, dass es etwas zu finden gab.

In den letzten Jahren wurden, schmelzenden Gletschern gleich, zahlreiche Klärbecken, Silos und Retentionsbauten «freigelegt». In stillgelegten Infrastrukturen schlummern verborgene Potenziale oder Antworten auf oft nicht gestellte Fragen. Sollen wir für neue Energiespeicher, Produktionsstätten oder Mobilitätshubs nicht zuerst auf die Suche nach ungenutzten Strukturen gehen, bevor wir das Prozessdiagramm zeichnen? Was, wenn wir Infrastruktur nicht für eine spezifische, sondern für möglichst viele Funktionen betrachten? En-Dehors haben im Kleinen aufgezeigt, was aus einer Kläranlage gemacht werden kann. In unserer Datenbank warten 767 weitere. 

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Lukas Stadelmann (1992) und Noël Picco (1994)
haben an der ETH Zürich Architektur studiert und mit Arbeiten zur Güterver- und -entsorgung diplomiert. Beiden Arbeiten wurde die ETH-Medaille verliehen. Seit 2022 arbeiten sie als Malheur & Fortuna (u.a.) an der Transformation von aktiver und stillgelegter Infrastruktur.

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