Artikel aus wbw 7/8 – 2024

Wahrhafte Momente

Drei transformierte Bauten der Kirche

Christoph Ramisch

Seit drei Jahrzehnten rekonstruiert Dresden seine ersehnte Identität. So manches bleibt dabei Kulisse. Wie kann man mit Vergangenem umgehen, um näher bei sich selbst zu sein? Drei Alternativen zur Rekonstruktion.

In Dresden ist die Vergangenheit wichtig, denn sie ist vollständig verschwunden. Binnen einer einzigen Nacht im Februar 1945 zerbombten alliierte Flieger das gesamte «Elbflorenz». Eine apokalyptische Zerstörung, welche die Liebe der Überlebenden zu ihrer Stadt manifestierte. Aus dem verschleppten Trauma des Verlusts erwuchs nach der politischen Wende 1989 die Sehnsucht nach Heilung durch Rekonstruktion. Nach den Diktaturen des 20. Jahrhunderts entdeckte man die eigene Identität im Dresden Canalettos, jener barocken Stadtgestalt, die der Maler in seinen Veduten verewigte und die dem geplanten Wiederaufbau als Vorbild dienen sollte.

Die schönste Kuppel auf den Gemälden Canalettos ist die Frauenkirche, deren Ruine zum Fanal der Kriegszerstörung wurde. Ihr Wiederaufbau ist Balsam für die Dresdner Seele und Symbol der europäischen Versöhnung, war aber auch Initiator einer grossflächigen Rekonstruktion, die um die Kirche herum wucherte. Dabei entstand nicht nur Brillantes. Zu oft liess sich die Nostalgie von den Avancen des ostwärts strömenden Kapitals verführen. Statt Identität entstand daraus so manch mittelmässiges Imitat. 

Neue Altbauten mit kurzer Halbwertszeit

Einer dieser neuen Altbauten zwischen Schloss und Frauenkirche ist das Haus der Kathedrale. Ein Renaissancepalast – kaum 25 Jahre alt. Aus Stahlbeton und Poroton wurde er über den Kellern des zerbombten Originals von 1567 für das Bistum Dresden-Meissen nachgebaut – samt Tiefgarage, Autolift und zeitgemässer Haustechnik. Genau diese gab schon 2017 Anlass, den Bau zu sanieren. 35 Rohrbrüche in 20 Jahren, mangelnder Brandschutz und fehlende Pläne zeugen von einer Epoche des «Wilden Ostens», in der der Schnellere der Geschwindere war. Ausbaden durfte dies der Dresdner Architekt Alexander Poetzsch. Mit Feingefühl, doch ohne Ehrfurcht vor falscher Geschichte, nahmen sein Team und er sich des katholischen Bischofssitzes an.

In sieben Bauetappen bei laufendem Betrieb ging es neben der Haustechnik um eine Kapelle für den hausinternen Gebrauch, Korrekturen im dysfunktionalen Grundriss und die Neuorganisation der öffentlichen Nutzung. Den Haupteingang verschob Poetzsch an die einzig richtige Seite, nämlich zum Schloss hin. Direkt von der Schlossstrasse erreicht man nun den Hof als öffentlichen Ankunftsort. Der nötige Rettungsweg des oberen Saals wurde zum Wandelgang erhoben. In dessen Arkaden gelingt eine räumliche Staffelung zwischen Hof und Foyer. Dort sind die Oberflächen aufgefrischt und, wo erforderlich, erneuert. Helles Eichenholz und weisse Wände fassen den vormals heterogenen Bau zu einer gestalterischen Einheit. Während die Attrappen der Sandsteinsäulen im Foyer stehen blieben, wurden sie im grossen Saal für gute Sicht bis auf den Betonkern entmantelt. Eine neue Saaldecke verbessert die bis anhin schlechte Akustik. Ihre gefaltete Geometrie erinnert an invertierte Gewölbe. Sie parodiert die hohlen Rabitz-Kreuzgewölbe des Foyers mit einem Augenzwinkern.

Von einer didaktischen «Enttarnung» mag Alexander Poetzsch nicht sprechen, doch seine Eingriffe deuten die Grenzen dessen an, was Rekonstruktion zu leisten vermag. Ein Abbild schafft noch keine Identität. Diese gedeiht vielmehr an Orten, wo Vergangenes wahrhaftig wird, als Ruinen, Spolien oder Überbleibsel. Doch davon gibt es nicht mehr viele, denn ausgerechnet hier leistete die DDR einmal ganze Arbeit. Die sozialistische Stadt gierte nach Raum für neue Utopien. Kriegsruinen standen da im Weg und mussten weichen, städtebaulich, aber auch ideologisch. Die «Enttrümmerung» traf viele Kirchen, die einst neben der Stadtsilhouette auch das Selbstverständnis jener Menschen prägten, die danach per Staatsdoktrin Arbeiter und Bäuerinnen sein sollten.

Selbst vor der letzten mittelalterlichen Kirche wurde nicht zurückgeschreckt. Auf persönliche Weisung des Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht wurde 1962 unter massiven Protesten die Ruine der Sophienkirche abgetragen. Am Postplatz vis-à-vis dem Zwinger sollte stattdessen eine Gaststätte entstehen, im Volksmund «Fresswürfel» genannt. Noch während der Bauarbeiten sicherten Dresdnerinnen und Dresdner Relikte aus den Trümmern der Kirche – in der vagen Hoffnung, sie irgendwann wiederverwenden zu können.

Reproduktion statt Rekonstruktion

Die Neuplanung des Postplatzes nach 1989 bot diese Chance. Der geplante Rückbau des Fresswürfels mehrte die Forderungen, zwischen den neu entstehenden Bauten auch der abgeräumten Sophienkirche zu gedenken. Bereits 1995 gewann das Büro Gustavs & Lungwitz einen Ideenwettbewerb für den 2020 fertiggestellten DenkRaum Sophienkirche.1 Pars pro toto empfahlen die beiden Dresdner den Aufbau der Busmannkapelle aus dem 15. Jahrhundert, einst ein Annex am Chor. «Keine Re-konstruktion, sondern Re-produktion des historischen Raums» sei dies, erklärt Siegmar Lungwitz bestimmt. Am originalen Ort formen sandsteinfarbige Betonelemente den abstrahierten Kapellenraum. Über ihm zeichnen rote Konturen aus Stahl die Rippen des Gewölbes in die Luft. Vor der Kapelle reihen sich fünf Betonstelen, die das Schiff der alten Kirche andeuten. Deren Grundriss ist mit Meissner Granit in den Stadtboden eingeschrieben und wird an manchen Stellen von den Bauten der jüngeren Stadtplanung verschluckt.

In ihrer gläsernen Vitrine wird die Betonkapelle zum Exponat und wichtigem Vermittlungsraum. Die 122 gesicherten Spolien fügen sich mit ihren Brand- und Kriegsspuren in den neuen Beton ein. Zwischen den Konsolensteinen mit Stifterporträts erinnert eine geborgene Christusfigur an die schmerzhafte Zerstörung Dresdens. Das dezente Nagelkreuz daneben ist ein Geschenk aus Coventry, der heutigen Partnerstadt, einst selbst durch deutsche Bomben zerstört.2 Eine stählerne Wendeltreppe führt auf das Ausstellungspodest hinauf, und in den Raum der Stille hinunter. Neben Infotafeln, Lesungen und Konzerten werden Vermittlungsprogramme angeboten: über das Schicksal der Kirche und die Zerstörung der Stadt, aber eben auch über die Gräuel und Verbrechen des Nationalsozialismus. Erinnerungskultur statt Nostalgie. Einer Dresdner Identität fühlt man sich nah in dieser Ruine, selbst wenn sie neu errichtet wurde.

Kloster Eldena in Dresden

Was bei der Sophienkirche unmöglich war, gelang der Trinitatiskirche. Beharrlich wies die Gemeinde ihrer Ruine den wichtigen Nutzwert nach, für Freiluftgottesdienste, später als Baustofflager. Das verhinderte den schnellen Abbruch, so dass die Ruine unterdessen länger steht, als sie je Kirche war. Dem Backsteinbau von 1894, aussen mit Sandstein eingekleidet, fehlen seit der Bombennacht das Dach sowie weite Teile beider Flanken. Mit einfachen baulichen und geringen finanziellen Mitteln stabilisierte die Kirchgemeinde den Turm, setze dem Chor einen Ringanker auf, deckte Mauerkronen ab und machte einzelne Räume nutzbar. Im offenen Kirchenschiff stand nach der Wende ein Bauwagen. In Jahren des sozialen Umbruchs bot er dort Raum für Jugendarbeit, gleich welcher Herkunft oder Konfession. Ähnlich der Klosterruine Eldena, wie sie Caspar David Friedrich in Dresden malte, keimte auch in den Trümmern der Trinitatiskirche neues Leben. Die Wahrhaftigkeit der mahnenden Ruine blieb dabei aber stets erhalten und auch ihr jüngst vollendeter Umbau zur Dresdner Jugendkirche wollte und sollte daran nichts ändern.

Nur, wo es unumgänglich war, berührte das Team des Dresdner Büros Code Unique die Ruine. Dennoch sind die Spuren, die sie hinterliessen, radikal und deshalb sensibel gegenüber den authentischen Resten. Von Weitem sieht man erst einmal wenig. In alten Öffnungen mit zerstörten Gewänden erblickt man neue Fensterrahmen, vom alten Sandstein dunkel abgesetzt. Zwischen die verbliebenen Mauern des Längsschiffs fügt sich, kaum zu erkennen, ein schlanker Turm. In diesem Implantat liegen die Büros der Jugendkirche. Dezent zeigt sich hingegen auf dem Rumpf des zerstörten Querschiffs ein neuer Betonkranz, gekrönt mit einem Band aus schwarzen Staketen. Das ist der Rand eines neuen Deckels, den die Architekten und Architektinnen dem offenen Kirchenraum aufsetzten. In der Vierung öffnet sich der Deckel im Quadrat, darüber thront eine kubische Laterne aus Glas und dunklem Metall. Zwischen den alten Mauerresten ruht sie inmitten der Ruine, die ihre historischen Bögen aus Rochlitzer Porphyr in den neuen Fassaden spiegelt. 

Leise Momente der Mahnung

Deutlich setzt sich auch im Inneren das Neue vom Bestehenden ab. An nur wenigen Stellen touchiert der Sichtbeton die Ruine. Das neue Tragwerk steht autark. Der Abdruck des Büroturms trennt einen Zentralraum als Saal aus dem vormaligen Längsschiff heraus. Unter dem weiten Oblicht finden neben Jugendarbeit auch Messen, Konzerte und Familienfeiern statt. Die Seitennischen der alten Kirche sind bei Bedarf zuschaltbar. Sie dienen als Séparée, Altarraum oder Bühne; im südlichen Querschiff als Anlaufstelle, Treffpunkt und Café, das von den Jugendlichen gut besucht und autark betrieben wird. Die vielseitige Nutzung der Ruine beweist: Man kann einen zerstörten Bau revitalisieren, ganz ohne ihn zu rekonstruieren.

Von einem Drang zum synthetischen Bild ist hier nichts zu spüren, zu stark sind die gewählten Kontraste. Statt sie weichzuzeichnen, schärfen sie die Ruine. Diese bleibt wahrhaft präsent, haptisch und visuell, mit allen Spuren der Geschichte. Aus solcher Authentizität kann Identität entstehen, wenn Vergangenes nicht «korrigiert», sondern als Geschehenes akzeptiert und sorgsam fortgeschrieben wird. So bewahrt die Jugendkirche Trinitatis – als eine der drei letzten Kirchen, die Dresden als Ruine blieben3 – der Stadt die leise Mahnung, Geschichte nicht zu idealisieren. Ein wichtiger Fingerzeig in lauten Zeiten, gerade in Dresden, denn es mag zwar stimmen: Zukunft braucht Herkunft – aber zu dieser Wahrheit gehört eben auch, dass Herkunft Zukunft braucht, um weiter zu bestehen.

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1Nach dem Wettbewerbsentscheid 1995 wurde die Kapelle 2009–20 in mehreren Etappen umgesetzt. Grund dafür war die sukzessive Finanzierung durch Spenden und Fördermittel.

2Während des «Coventry-Blitzes» zerstörten deutsche Kampfgeschwader in der Nacht des 14. November 1940 weite Teile der englischen Industriestadt, darunter die Kathedrale aus dem frühen 15. Jahrhundert.

3Auch die Ruine der Kirche St. Pauli in der Dresdner Neustadt wurde mit einem Glasdach gesichert und dient seither als Theaterraum. In der Südvorstadt wurde die Ruine der Zionskirche mit einem Wetterschutzdach gedeckt und dient als Lapidarium.

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