Susanne Stacher, Antoine Espinasseau (Bilder)
Eine Architekturschule kann nicht nur Teil einer Stadt sein, sondern auch Stadt generieren. Dabei ist wichtig, wie das Raumprogramm angeordnet wird, da es das Innen- und Aussenleben definiert. Reduziert auf das Essenzielle, wirkt Architektur durch ihre Materialität und durch spezifisch gesetzte Elemente, vor allem aber durch das Herstellen von Beziehungen.
Wie soll man eine Schule gestalten, in der Entwurf gelehrt wird? Diese grundlegende Frage stellte sich das Architekturbüro NP2F, als es am Wettbewerb für das neu gegründete Institut Méditerranéen de la Ville et des Territoires in Marseille teilnahm. Darin sollte eine Schule für Architektur, Städtebau und Landschaftsgestaltung untergebracht werden – eine grossartige Herausforderung, die der Diskussion bedurfte.
So stellten die Architekturschaffenden, die in der ehemaligen Architekturschule von Marseille studiert hatten, ein Team zusammen mit Point Supreme und Marion Bernard, einem Büro, das in Marseille ansässig ist und für die Ausführung zuständig war. Mit dabei waren auch die Landschaftsgestalter des Ateliers Roberta und in beratender Funktion der Architekturtheoretiker Jacques Lucan (1947 – 2023) (vgl. wbw 4 –2024, S. 51), der bereits im Team von Bernhard Tschumi an der Erstellung des Raumprogramms der Architekturschule Paris-Est mitgewirkt hatte. Aus den intensiven Diskussionen kristallisierten sich folgende Grundprinzipien heraus, die die Wettbewerbsjury überzeugten: Im Gegensatz zur ehemaligen Architekturschule, die weit von der Stadt entfernt auf einem Hügel im grünen Pinienhain lag, sollte sich das neue Institut zur Stadt hin öffnen. Das rege Innenleben wünschte man sich sichtbar und anziehend, ein Teil sollte öffentlich zugänglich sein. Um Synergien zwischen den bisher getrennten Fachrichtungen zu fördern, wollte man eine Trennung der drei Fachbereiche der Schule vermeiden: Funktionen sollten zusammengefasst werden.
Es stellte sich die Frage der Form und der Symbolik, die das Institut vermitteln sollte. Als Inspirationsquelle diente der Grundriss des Vespasianischen Tempels, der einen grossen Platz in sich birgt und gleichzeitig seinen Umraum durch Säulenreihen definiert. Diese Strategie ist am Baukörper der Schule ablesbar. Er liegt am Rande eines Platzes, in dessen Zentrum ein Triumphbogen steht, der 1837 unter dem Regime der bourbonischen Restauration errichtet wurde. Anfang der 1970er Jahre wurde eine Autobahn gebaut, die direkt in den Kreisverkehr um das Monument mündete. In diesem lauten, in unmittelbarer Nähe des Bahnhofs gelegenen Stadtviertel siedelten sich die ärmsten Bevölkerungsschichten an. Die Stadt beschloss, den öffentlichen Raum aufzuwerten und die Autobahn vorher enden zu lassen. So konnte der Platz für den Fussverkehr gewonnen und teilweise bepflanzt werden.
Auf der östlichen Seite steht nun an prominenter Stelle das Institut Méditerranéen, das tatsächlich eine tempelartige Fassade hat. Sie besteht aus schlanken, hellgrauen Betonsäulen, deren vertikale Ausrichtung durch Friese aus Weissbeton unterbrochen wird, die die Fassade horizontal gliedern. Über dem platzseitigen Haupteingang, im Zentrum der Fassade, wirken diese horizontalen Elemente schwebend. Als Stege ausgebildet, erscheint hinter ihnen der offene, atriumartige Innenhof. Den Abschluss bildet eine Art Kranzgesims, das den Blick auf den dahinterliegenden Himmel freigibt – ähnlich wie bei der Vespasianischen Tempelruine. «Es handelt sich hier allerdings nicht um ein autarkes, Gott zugewandtes Gebäude, sondern um eines, das sich zur Stadt hin öffnet und mit ihr in Resonanz tritt», betont François Chas von NP2F.
Von aussen wirkt die Komposition in ihrer klaren Strenge beinahe klassisch. Das Architekturteam strebte zwar nach einer «generischen, globalen Sprache, aber mit spezifischen, punktuellen Wortelementen», die in die neutrale Struktur hineingesetzt sind, so François Chas. Die Auswahl und Kombination dieser Worte mache die Feinheiten aus. Treppen, Stege, Sitzobjekte und Pflanztröge sind als einzelne Elemente derart in die Betonstruktur hinzugefügt, dass sie Spannung in die (Sprach-)Struktur bringen und die Spezifität des Baus ausmachen. Die Treppenelemente, die mal einladend abgerundet, freischwebend luftig oder massiv untermauert sind, erzeugen zusammen mit den leichtfüssigen Stegen und Gangflächen (die gelegentlich runde Öffnungen für Blickbeziehungen aufweisen) eine räumliche Komplexität, die an die Räume in den Zeichnungen Piranesis erinnert. So entstehen unterschiedliche Situationen, die spezielle Orte des Aufenthalts bieten – wie Plätze in der Stadt.
Die Materialität des Gebäudes ist auf wenige Bestandteile reduziert. Die Fassaden bestehen weitgehend aus Beton, denn eine Holzverschalung ist im maritimen Klima von Marseille keine dauerhafte Lösung. Lediglich auf der Südostseite wurde eine Holzverschalung auf der zweiten Fassadenschicht angebracht, geschützt durch den breiten Laubengang. Für die Weissbetonfassaden wurde die gleichen ungehobelten Holzbretter als Schalung verwendet. So entsteht ein homogenes Erscheinungsbild, das bei genauer Betrachtung feine Nuancen aufweist. Auch die farbliche Abstufung zwischen dem Weissbeton und dem Hellgrau der Säulen sowie deren unterschiedliche Querschnitte, die je nach Lage im Gebäude rund oder rechteckig sind, tragen zur Nuancierung bei. Es geht hier nicht um ein stures Ordnungsprinzip, sondern um ein spielerisch-kreatives Ausloten der unterschiedlichen Situationen und Möglichkeiten – mit Überraschungseffekten. Genau darin unterscheidet sich dieser Bau von seinem generischen Nachbarn, der vorhersehbar ist und dadurch langweilig wirkt. Das Institut Méditerranéen regt die Sinne an und erzeugt Spannung mit geringen, aber umso effizienteren Mitteln. Es setzt ein enigmatisch-anziehendes Zeichen in der Stadt.
Die verschiedenen Möglichkeiten, Sonnenschutz nicht nur in Abhängigkeit von der Himmelsrichtung, sondern auch von der Lage im Gebäudekomplex zu konzipieren, gehören ebenfalls zu den architektonischen Leistungen: Im obersten Doppelgeschoss des südlichen Gebäudes sind dünne Betonplatten schräg wie Markisen vor der Verglasung angebracht. Sie sind gelenkig an nicht sichtbaren Stahlträgern fixiert – so, als wären sie leichte Holzlamellen. Im hinteren, östlichen Trakt sind es hochklappbare, grossmaschige Gitterroste, die vor Sonneneinstrahlung schützen. Sie lösen gleichzeitig ein architektonisches Problem, nämlich das Erzeugen einer homogen wirkenden Fassade trotz unterschiedlicher Raumhöhen, die sich aus den verschiedenen Nutzungen ergeben. Durch diese Fassadengestaltung werden visuell jeweils zwei Geschosse zusammengefasst, wobei beim unteren die Verglasung sichtbar bleibt, während das obere mit einem Gitterrost verkleidet ist. So wird die Sonne zu einem bestimmenden Faktor der Ästhetik – und diese zu einem Beitrag für die Stadt.
Die Organisation des Raumprogramms ist ausschlaggebend für das gute Funktionieren einer Schule und für das Entstehen von Beziehungen nach innen und aussen. Das Herz des Instituts ist der langgestreckte Innenhof, seitlich gesäumt von einer schattenspendenden Baumreihe. Mehr war nicht möglich, denn darunter liegt die Metro. Im nördlichen Teil des Hofs, unmittelbar neben dem Eingang, liegt die Cafeteria, zum Hof geöffnet und vom Platz her sichtbar, als sozialer Treffpunkt mit frischgemachten Crêpes. Eine angewendelte Treppe führt hinauf zum dreigeschossigen Ateliertrakt. Die Einheiten mit jeweils hundert Quadratmetern sind durch mobile Holztrennwände scheinbar unendlich erweiterbar. Das Mobiliar wurde von den Architekturbüros im Einklang mit den bereits vorhandenen Elementen konzipiert: weiss lasierte Holzplatten auf einfachen Stahlrohrgestellen. Die Tische sind flexibel verwendbar, sie können auch als Präsentationswände dienlich sein.
Breite Laubengänge entlang der Ateliers und grosse Dachterrassen mit zahleichen Verbindungsstegen zwischen den Gebäuden ermöglichen Rundgänge mit eindrucksvollem Ausblick und regen zum Arbeiten im Freien an – eine Reminiszenz an die ehemalige Schule im Pinienhain.
Im südlichen Trakt ist im Erdgeschoss das sogenannte «Forum» untergebracht: ein grosser, vom Eingang direkt erreichbarer Ausstellungsraum, in dem auch öffentliche Veranstaltungen stattfinden. Es ist gut einsehbar von der Stadt, wie eine Vitrine. Darüber liegen die Büros der Administration und der Städtebauabteilung und im obersten Doppelgeschoss die Bibliothek. Ein kreisförmiger Aufbau krönt den Institutsbau, in dem der repräsentative Raum der Doktoranden liegt. Hier finden auch Sitzungen und Veranstaltungen statt, mit Ausblick auf die Schule und über die umliegende Stadt.
Die im ansteigenden Terrain vergrabenen Auditorien und die ebenerdige Modellbauwerkstatt sind im östlichen Gebäude im hinteren Bereich des Hofs untergebracht. Er gabelt sich an dieser Stelle auf in einen stufenartig angelegten Garten entlang des Ateliertrakts und einen querliegenden Hof. Dieser glashausartige Bereich dient dem Experimentieren mit Materialien und steht in direkter Verbindung mit der zweigeschossigen Modellbauwerkstatt. Mit ihren Stegen, Arkaden und Plätzen wird die Schule zu einem Stück Stadt in drei Dimensionen, mit Blickbeziehungen und gemeinsam genutzten Räumen – eine wahrhaft offene Struktur.
Susanne Stacher (1969) ist Architektin, Kritikerin und Professorin in Versailles. Ihre interdisziplinäre Forschung konzentriert sich auf Krisen und mögliche Narrative für den Entwurf von Projekten in Beziehung zur Welt.
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