Philippe Buchs
Der BSA-Preis 2025 geht an Nina Guyot, Blerta Axhija und Marine Evrard in Genf
Sie repräsentieren eine Generation von Berufsfrauen, die Stadtplanung auf eine neue Art denken. Mit ihrem 2023 gegründete Verein PAV living room entwickeln Nina Guyot, Blerta Axhija und Marine Evrard einen experimentellen Ansatz, der Disziplinen überschreitet und fest im Terrain verankert ist. Sie kuratieren Installationen, Performances, Szenografien und Publikationen und schaffen damit Situationen, die unsere Art hinterfragen, wie wir Räume im Wandel bewohnen.
Der Name ihres Projekts sagt, worum es geht: PAV steht für Praille Acacias Vernets, das riesige Transformationsgebiet im Südwesten von Genf. Seit Jahrzehnten herrschten hier Industrie und Logistik vor. Bis 2060 soll das Gebiet 20'000 neue Bewohnerinnen und Bewohner auf-wohnerinnen und Bewohner auf-wohnerinnen und Bewohner aufnehmen. PAV living room ist eine Art Salon inmitten dieses Wandels, ein ebenso vertrauter wie vergänglicher Raum, der zum Innehalten, Beobachten und Ausprobieren einlädt. Während die Entwicklungspläne eine lineare Verwandlung von Alt zu Neu vorsehen, findet PAV living room seine Bestimmung im Schwebezustand des Übergangs – und enthüllt das Potenzial des Dazwischen, als «espaces autres», wie sie Michel Foucault genannt hat: andere Räume.1
Alles beginnt mit einem Ort, besser gesagt: mehreren Orten. Die Aktionen von PAV living room engagieren sich im Hier und Jetzt, statt eine geplante Zukunft abzuwarten. In ihrer ersten Serie Imaginaires en situation haben sie sich Brachen, Zwischenräume und Logistikflächen vorgenommen: nicht als leere Räume, sondern als Räume mit Potenzial.
Diese ungewissen Orte werden zu Stätten der Begegnung und des temporären Zusammenlebens von Künstlerinnen, Forschenden, Bewohnern und Architektinnen. Die Aktion des Kollektivs Xenia zum Beispiel mischt Maschinen, Tanz und Architektur. Sie holt Werkzeuge in Logistikzonen, um neuartige Räume entstehen zu lassen. Danced Stances besetzt ein Fussballfeld und nimmt den traditionell männlich bestimmten Ort mit weiblichen Körpern in Beschlag. Das Kollektiv La Dalle schliesslich erkundet unterirdische Tunnels mittels einer neuartigen kulinarischen Performance. Bei all diesen Aktionen geht es nicht darum, fertige Objekte herzustellen, sondern neue Dynamiken zu wecken, aus dem Bestehenden neue Geschichten und gemeinschaftsstiftende Bilder zu schaffen. Durch die Transformation des Orts entstehen neue Erzählungen.
Diese Aktionen lassen Spannungen der Nutzungsweisen sowie der multiplen Schichten des Territoriums sichtbar werden und stellen damit essenzielle Fragen: Wie bewohnen wir den Zwischenraum? Wie können wir die Stadt als Prozess und nicht als starres Ergebnis denken?
Vor dem Hintergrund des Mottos in-discipline der Generalversammlung 2025 von BSA/FAS erscheint die heutige Anerkennung der Arbeit von PAV living room nur logisch, denn ihre Praxis macht die Interdisziplinarität zur Methode, sie verbindet unterschiedlichste Welten und Praktiken. Sie sucht verschobene, ungewohnte Blickwinkel und stellt unterschiedliche Erzählungen zur Diskussion, die einander ergänzen, ohne sich aufzudrängen. Ihre Praxis ist direkt und konkret, ohne abgehobene Abstraktionen. Statt mit fertigen Bildern für das Territorium – Momentaufnahmen von Projekten, wie sie in Masterplänen beliebt sind – arbeitet PAV living room mit einer schichtweisen, diachronen Lektüre des Orts, den es als Palimpsest versteht. Dieser Ansatz ermöglicht es, die reale Komplexität der Stadt zu erfassen – ihre unterschiedlichen Geschwindigkeiten, ihre sich überlagernden Nutzungen, ihre Widersprüche und Konflikte.
Die Forschung von PAV living room findet an der Nahtstelle von Praxis und Theorie statt. Einerseits entstehen Projekte vor Ort, die zusammen mit Städtebauenden, Kunst- und Architekturschaffenden erdacht und durchgeführt werden. Anderseits beschäftigen sie sich mit der Dokumentation, Reflexion und Verbreitung dieser Erfahrungen mittels Konferenzen oder über das jährlich erscheinende PAV living room Magazine. Dieses Hin und her zwischen Raum und Diskurs ist der eigentliche Kern ihres Ansatzes. Der rote Faden dabei ist die Neudefinition des öffentlichen Raums. Im Gebiet des PAV werden heute noch genutzte Gewerbeareale oft als exterritorial, als «verbotene Stadt» betrachtet, während die zukünftigen Bauprojekte konformistische Visionen des öffentlichen Raums zeigen. Die Kuratorinnen suchen und testen dagegen Räume neuer Art, jenseits der Normen. Zwischen diesen Polen sucht PAV living room einen anderen Weg: mit lebhaftem Interesse für die heutigen Nutzungen, für informelle Aneignung und die spontanen Formen von Urbanität.
Zwei Jahre nach ihrer Gründung ist die Vereinigung zu einer bedeutenden Akteurin der Genfer Baukultur geworden, an der man nicht vorbeikommt. Diese Beachtung verdankt sie ebenso der Relevanz ihrer Fragestellungen wie der Offenheit ihrer Aktionen. Sie eröffnet der jungen Generation ein Experimentierfeld, weitet die Grenzen der Disziplinen und integriert viele Stimmen. So erfindet PAV living room die Modalitäten der Stadtentwicklung neu. Statt auf ein geplantes Morgen zu warten, zeigt sie heute schon, was sein könnte, und probiert neue Arten aus, Urbanität zu schaffen. Ihr Ansatz, der im kollektiven Experiment verankert ist, lässt Raum für das Unerwartete, das Unvorhergesehene, die Erfindung. Und gerade dies ist vielleicht das Allerbeste an ihrer Arbeit: dass sie die Ungewissheit als Motor und nicht als Bremse verstehen.
Philippe Buchs (1989) ist Architekt EPFL und arbeitet in Genf. Er war dort 2020 Mitbegründer des Büros Sujets Objets und ist seit 2023 Mitglied von BSA Genf.
Aus dem Französischen von Daniel Kurz. Originaltext
1 Der Titel «Des espaces autres» (andere Räume) zitiert einen Vortrag von Michel Foucault aus dem Jahr 1967.