Diese Buchhandlung an der steilen Mariahilfgasse in der Luzerner Altstadt scheint aus der Zeit gefallen: Kein buntes Schild leuchtet, kein lustig dekoriertes Schaufenster lockt. Wer eintritt, hat den Eindruck, in einer Mischung aus Bibliothek und Lesesaal gelandet zu sein. In den soliden Holzregalen reihen sich Bücher an Bücher, einige sind mit sichtbarem Umschlag präsentiert. Unverwüstliche Tische und Stühle aus den 1950er Jahren, die aus dem Fundus der Luzerner Verwaltung stammen, laden ein, das eine oder andere Buch gründlich anzuschauen und zu studieren. Hier darf die Zeit stehen bleiben, denn hier schlummert ein geballtes Wissen aus den Bereichen Architektur, Kunsttheorie, Philosophie und Geisteswissenschaften.
Alter Ego ist eine Buchhandlung wie ein Naturalienkabinett. Darin fühlen sich Menschen sofort beheimatet, wenn sie ausgerüstet sind mit einer gehörigen Portion Neugier und der Erkenntnis, dass Wissen auch Lebendigkeit, Leidenschaft und Abenteuer bedeutet. «Mein idealer Kunde ist quasi ein Renaissance-Mensch, der sich von Büchern inspirieren lässt. Er sucht eigentlich nur ein bestimmtes Buch – und verlässt die Buchhandlung mit drei Büchern», sagt Heinz Gérard. Damit meint er nicht, dass der Kunde sich Bücher hat aufschwatzen lassen. Denn das würde der Buchhändler, der sich selbst als «Melancholiker mit misanthropischen Zügen» bezeichnet, sicher nie machen. Es geht vielmehr um das Gesetz der guten Nachbarschaft, das der Hamburger Kulturwissenschaftler und Büchernarr Aby Warburg erkannt hat. Statt des gesuchten Buchs wurde ein ganz anderes wichtig, das sich zufälligerweise in seiner Nähe befand.
Eigentlich sei er aus Zufall Buchhändler geworden, erzählt Gérard und blickt zurück. Er wird Primarlehrer, obwohl er nie unterrichten wollte, studiert an der Universität Zürich einige Semester Philosophie, landet schliesslich in einer Privatbank und merkt bald, dass ihm das Umfeld nicht behagt, dass er eine passendere Art braucht, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Er kündigt seine Stelle bei der Bank, ohne zu wissen, wohin ihn die Berufsreise führt. In den 1980er Jahren ist das kein Problem, denn die Gewissheit ist gross, dass etwas Neues auftaucht. Gérard bewirbt sich bei der Buchhandlung Stocker, die auch wegen ihrer theologischen Abteilung bekannt ist. Warum? «Ich kann das nicht genau erklären. Vermutlich hatte es mit meinen Philosophie- Semestern zu tun und der Erkenntnis, dass das Buch das Medium ist, Wissen aufzubewahren und zu transportieren.»
Mit der Blindbewerbung klappt es nicht. Doch für das hektische Weihnachtsgeschäft sucht die Buchhandlung Stocker Personal, und Gérard findet dadurch den Einstieg in den Buchhandel. Er macht eine Lehre als Buchhändler, ist bald Abteilungsleiter in der konservativ-katholischen Buchhandlung. Kurt Koch, der spätere Bischof von Basel, gehört zu seinen besten Kunden, auch der Schweizer Theologe Hans Küng kommt regelmässig vorbei.
Auf Reisen erwacht Gérards Interesse für Architektur. Neben der Philosophie wird sie zur zweiten Leidenschaft, denn auch in der Architektur stellen sich allenthalben Fragen nach der menschlichen Existenz. Wach wird dabei auch die Idee, eine eigene Buchhandlung zu gründen, die genau auf diesem Geflecht aus Architektur, Philosophie, Ästhetik und Geisteswissenschaften aufbaut. Im Dezember 1995 ist es so weit: Zusammen mit David Schurtenberger, seinem ehemaligen Schüler an der Luzerner Buchhändlerschule, eröffnet er die Buchhandlung Alter Ego in der Luzerner Altstadt.
Der Name ist Kompass für das anspruchsvolle Programm der neuen Fachbuchhandlung: Die Bücher dürfen als zweites Ich verstanden werden, als Medium, einen Perspektivenwechsel zu wagen, als Spiegel, die in ihrer Vielzahl zu einem inspirierenden Irrgarten wachsen. Eine spiegelverkehrte Weltkarte auf dem Firmenschild versinnbildlicht die Absicht. Dass der Rahmen unter der Weltkarte platziert ist, ist einem Missgeschick des Grafikers zu verdanken. Aber dieses Bild, aus dem Rahmen zu fallen, gefällt Gérard auch noch 27 Jahre später.
Bei der Eröffnung ist unter anderen der Architekt und Dozent Pino Pilotto dabei, der verspricht, immer wiederzukommen, weil es hier schön sei. Andere tun das auch: Architekten, Leute aus dem Quartier, Kunstinteressierte und Menschen, die Gérard dem Bildungsbürgertum zurechnet. Auch Gerhard Pfister, der aus der CVP die Partei Die Mitte machte, gehört zu seinen Stammkunden. In der Regel meldet sich der Politiker und Lehrer für Literatur und Philosophie an, Buchhändler Gérard macht ihm einen Stapel Bücher parat – alles Bücher, von denen er annimmt, dass der Politiker Gefallen daran findet. Ein Beispiel, das beweist, dass gute Buchhändler Gold wert sind für passionierte Leserinnen und Leser, die das Buch als physisches Objekt schätzen und darauf nicht verzichten können.
Mit seiner unabhängigen Fachbuchhandlung Alter Ego hat Gérard über die Jahre eine treue Stammkundschaft aufgebaut. Auf sie kann er zählen. Aber fürs Überleben sorgt letztlich die institutionelle Kundschaft: Die Zentral- und Hochschulbibliothek, Kantons- und Fachhochschulen schätzen das qualitätsvolle Angebot, Gérards Wissen und seinen verlässlichen Service.
Bei der Eröffnung der Buchhandlung vor 27 Jahren war die Welt des Buchhandels eine andere: In Luzern gab es zehn arrivierte und kleine Buchhandlungen, die Buchpreisbindung schrieb klipp und klar vor, für wieviel ein Buch verkauft werden durfte. Für Heinz Gérard war das ein fantastisches Umfeld, um sich mit einem eigenständigen Angebot aus geisteswissenschaftlicher Fachliteratur mit den Schwerpunkten Philosophie und Psychologie sowie Büchern aus den Gebieten Architektur, Kunst, Design und Fotografie zu profilieren. Die Abschaffung der Buchpreisbindung 2007 in der Deutschschweiz traf Alter Ego hart: Der Umsatz sank, wie bei anderen Buchhandlungen auch, um 20 bis 25 Prozent. Die Finanzkrise und der starke Franken machten die Situation nicht besser. «Einen Kunstband, der vorher 80 Franken kostete, verkaufe ich nach der Aufhebung der Buchpreisbindung und der Absenkung des durchschnittlichen Ladenpreises noch für 54 Franken», rechnet Gérard vor. Trotzdem hat er an seinem komplexen, anspruchsvollen Programm nichts geändert, auch das Angebot wurde an der Mariahilfgasse nicht reduziert. Dafür hat der Buchhändler sein Team verkleinert, und nachdem sein Geschäftspartner ausgestiegen ist, führt er Alter Ego allein.
Diese Entwicklung hat Spuren hinterlassen: Gérard, der sich selbst als eher introvertierten Menschen beschreibt, steht Tag für Tag in der Öffentlichkeit seiner Buchhandlung, er vernachlässigt das Reisen und lässt seine intellektuellen Ambitionen brachliegen. Wobei er verschmitzt gesteht, dass er in den letzten Jahren aus seiner privaten Bibliothek Raritäten in die Regale der Buchhandlung geschmuggelt habe. Bibliophile haben die Gold-Nuggets offenbar schnell entdeckt. Natürlich freut sich Gérard über das Lob und die Anerkennung seiner Kundschaft: «Wenn man das Lob, das ich für meine Buchhandlung Alter Ego erhalte, in Geld verwandeln könnte, wäre ich ein reicher Mann.»
Dass er für seine Tätigkeit und sein einmaliges wie inspirierendes Angebot an Büchern den Preis des Bundes Schweizer Architekten (BSA) erhält, hat ihn zuerst einmal erstaunt. Nach dem Staunen kam eine tiefe Freude, obwohl er bemerkt, dass er sich aus Preisen nichts mache. Der BSA-Preis erweist sich nun unbeabsichtigt auch als Abschiedsgeschenk. Denn Heinz Gérard, der sich bei aller Liebe für das Buch im Grunde als Unternehmer versteht, hat nach 27 Jahren entschieden, Alter Ego zu verkaufen. Sein jüngster Mitarbeiter, Roman K. Abt, übernimmt die Buchhandlung und zügelt mit ihr ab dem kommenden Jahr von der steilen Mariahilfgasse in Luzern nach Sempach-Station. Denn Abt, der in Leipzig Kulturwissenschaften studiert hat, ist auch Landwirt und betreibt seinen Hof in Neuenkirch. Dann wird Heinz Gérard Zeit haben, ordentlich zu reisen, zu lesen und ganz bestimmt nach Sempach fahren, um sich mit neuem Lesestoff einzudecken
Karin Salm (1962) arbeitet seit 2016 als freie Kulturjournalistin und war vorher 25 Jahre als Kulturredaktorin und Kulturkorrespondentin für Radio SRF tätig.