Bauen oder Freihalten?

Eben erst ist in Bern das Interesse am Wohnungsbau, an neuen gemeinschaftlichen Wohnformen und an durchmischten Wohn- und Lebensformen erwacht: Das Warmbächli (Städtebau: BHSF und Salewski & Kretz) oder das Haus an der Bahnhalde (Holzhausen Zweifel) zeugen davon. Aber auch der städtebauliche Ideen-Wettbewerb für das seit 50 Jahren brachliegende Gaswerk-Areal an der Aare, den die Stadt Bern 2021 ausgeschrieben hat. Das Siegerprojekt (Holzhausen Zweifel / Camponovo Baumgartner / rk Studio / Eder Landschaft) skizziert ein durchaus faszinierendes, stark durchmischtes Quartier am Fuss der Monbijou-Hochbrücke, direkt neben den Kulturzentren «Gaskessel» und «Dampfzentrale». Mitten im Herzen der Stadt und nur wenige Schritte vom Marzilibad und der Aare entfernt, könnte hier ein dichter, urbaner Stadtteil entstehen, ohne ein einziges bestehendes Gebäude zu opfern. Klingt überzeugend.

Überzeugend klingen aber auch die grundsätzlichen Einwände von kompetenter Seite, welche die «Gaswerk-Charta» gegen dieses Projekt erhebt. Sie kommt zum Schluss: Hier im Schwemmland der Aare sollte überhaupt nicht gebaut werden, und sie hat dafür starke Argumente. Verfasserinnen und Verfasser der Charta sind die Mitglieder eines Wettbewerbs-Teams – und das ist interessant! –, das während der Arbeit am Projekt zur Überzeugung gelangte, das Gaswerk-Areal müsse eine freie Brache bleiben: Zu diesem Team gehören XM Architekten, Graber Pulver, Salewski & Kretz, Antón Landschaft, Usus und BBZ.

Die wichtigsten Argumente der Gaswerk-Charta

  • Verdichtung sollte erstens an gut erschlossenen Lagen stattfinden. Das Gaswerk-Areal an der Aare ist weder mit dem Velo noch mit öffentlichem Verkehr vernünftig erreichbar. Die Verdichtung muss auf der Stadtebene greifen, nicht im Einschnitt der Aare.
  • Die Wohnnutzung bedroht zweitens vorhandene Urbanität in der Gaswerk-Brache mit dem Gaskessel und der Dampfzentrale. Die vorhandene Kulturnutzung würde durch Nutzungs- und Lärmkonflikte zerstört und mit der benachbarten Brache ein wenig regulierter sozialer Freiraum.
  • Eine wachsende Stadt braucht zentrale Grünräume. Das Schwemmlandgebiet der Aare bildet heute einen grossen, zusammenhängenden Landschaftsraum – einen Central Park für die verdichtete Stadt der Zukunft. Dieser Landschaftsraum kühlt die Stadt, schützt sie vor Hochwasser und bildet einen artenreichen Naturraum. Das Schwemmland liegt im Hochwasser-Gefahrenbereich der Aare. Zusätzliche Dämme müssten gebaut werden, um die Überbauung zu schützen – die Aare wäre nicht mehr frei zugänglich.
  • «Das Aaretal macht Bern»: Die Charakteristik der Stadt beruht auf dem Gegensatz zwischen der dicht bebauten Stadtebene und dem tiefen Einschnitt der Aare mit seinen Steilhängen. Der Zusammenhang des Aaretals als Naturraum ist eine Bedingung für die Erhaltung des historischen Ortsbilds von dicht bebauter Altstadt und grünem Aareraum.

Zusammengefasst: Die Charta plädiert für einen weiteren Denkhorizont und einen grösseren Atem bei der Entwicklung des Aare-Schwemmlands in Bern. Es braucht Mut, in einem Wettbewerbsverfahren statt einem Projekt ein Manifest einzureichen, das die ganze Unternehmung in Frage stellt. Dieser Mut wird in den nächsten Jahren häufig gefragt sein, denn viele Wettbewerbsprogramme lassen sich kaum mehr mit der Herausforderung der Klimaerhitzung in Einklang bringen. Grundsatzdiskussionen müssen mit aller Ernsthaftigkeit geführt werden. Die Gaswerk-Charta weist den Weg.

— Daniel Kurz

Das Thema bietet Diskussionsstoff. Deshalb veranstaltet das Architekturforum Bern eine Podiumsdiskussion am 26. April 2022.

Gaswerk-Charta

Wettbewerbsergebnisse Gaswerk-Areal

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