Der Römer Architekt Luigi Moretti (1907–1973) war ein massiger Mann. Man sagt von ihm, dass er stets die neusten und grössten Modelle amerikanischer Autos fuhr, im Rom der Vespas und Fiat 500 war das eher exaltiert. Ganz im Gegensatz zu seiner Körperfülle zeigte er sich aber als feinsinniger Sammler zeitgenössischer Kunst und als Kenner der Antike.
Morettis Vorlieben führten zu einer bemerkenswerten Mixtur von Anschauungen und ästhetischen Theorien: Seinen Einstand in die Architektur feierte er zur Zeit des Faschismus, um sich später im Nachkriegsitalien in konsequenter Modernität (und Kontinuität) als Architekt bürgerlicher Kreise zu etablieren. Zugleich suchte er in der von ihm selbst herausgegebenen Zeitschrift Spazio in geschwollenen Sätzen nach einem Anschluss an die antike Tradition – weit weg von Stilzitaten oder von Typologien, weit weg von Novecento oder Rationalismus.
Eines seiner meist verwendeten Wörter war Struttura: Das Wesen, das einem Kunstwerk innewohnt und ihm einen «Sinn von Existenz» verleihe. In zwei seiner Essays leitete er diesen Sinn von der Plastizität in der Architektur ab: In Valori della modanatura (Spazio Nr. 3, 1952) beschrieb Moretti, wie Gesimse das «geometrische Skelett» des Baukörpers oder des Raums sichtbar machen; in Discontinuità dello spazio in Caravaccio (Spazio Nr. 5, 1953) verglich er den exzessiven Einsatz von Hell-Dunkel-Kontrasten durch den Maler Michelangelo Merisi da Caravaccio mit Roms frühbarocker Architektur, bei der ein Wechselspiel von gleissendem Licht und unheimlichem Schatten eben jenen «Sinn von Existenz» erzeuge. (Le Corbusier hatte in Rom unter demselben Licht ganz andere Dinge gesehen. Das Barock schien ihm unerträglich.)
Seine Erkundungen in die Kunstgeschichte verband Moretti in eigenen Entwürfen mit Erkenntnissen, die er aus den von ihm gesammelten Kunstwerken des Informel gewann – von Giuseppe Capogrossi, Lucio Fontana, Claire Falkenstein und anderen. Bei einer seiner grössten Bauten, dem Complesso edilizio per abitazioni e uffici am Mailänder Corso d’Italia, kann man dies exemplarisch nachvollziehen. Mit vollem Körpereinsatz lehnt da eine Hochhausscheibe aus dem Stadt-Hintergrund ins Licht der Mailänder Strasse, ganz so wie es eine Figur in Caravaccios Abendmahl in Emmaus macht. (Eine andere Lesart böte diejenige des antiken Torsos des Discobolo di Castelporziano an, über den Moretti zur selben Zeit schrieb.) Die stark und rhythmisch gegliederten Fassaden, profiliert durch Brüstungen und Balkone, sind hingegen eine Reverenz an die modernen Kunstwerke in seiner Sammlung.
Licht und Schatten müssen für den ehrgeizigen Römer Architekten eine persönliche Bedeutung gehabt haben. Den Auftrag für den erwähnten Bau erhielt Moretti in der Folge eines Gefängnisaufenthalts in Mailand, während dem er einen potenten Bauunternehmer kennenlernte. Er war in Haft gekommen, weil er zum Ende des Krieges einen bekannten Faschisten unterstützt hatte. Der Bau am Corso d’Italia kann so auch als die nicht unbescheiden verkörperte Ankündigung von Morettis eigener Rehabilitation verstanden werden: in Richtung Rom schauend, scheint er Anfang der 1950er Jahre sagen zu wollen: Italien, sieh, ich bin wieder da!
Mehr Licht und Schatten im aktuellen Heft wbw 10–2016.