1938: In Deutschland brennen die Synagogen, jüdische Geschäfte liegen in Trümmern, jüdische, aber auch linke oder liberale Künstlerinnen und Künstler werden verfolgt. Die Schweiz hat derweil ihre Grenzen für Flüchtende «nur aus Rassegründen» gesperrt und liefert diese systematisch an die Gestapo aus; die deutschen Emigrantinnen und Emigranten im Land werden von fremdenfeindlichen Behörden geplagt, Künstler mit Arbeitsverboten belegt. In jener Zeit gibt es auch in der freien Schweiz nur wenige Lichtblicke mutigen Widerstands. Der wohl wichtigste ist das Schauspielhaus Zürich, wo Theaterdirektor Ferdinand Rieser den Geflüchteten beisteht und bedeutende Künstlerinnen unter Vertrag nimmt – die berühmtesten darunter sind Wolfgang Langhoff und Therese Giehse: Die Pfauenbühne wird in den 1930er Jahren zur wichtigsten deutschsprachigen Bühne überhaupt und pflegt trotz Repressalien eine klar anti-nationalsozialistische Ausrichtung. Dieser Theatersaal ist heute ein historischer Zeuge ersten Ranges; als Zeichen des Widerstands inmitten einer ängstlich angepassten Schweiz darf man ihn als eine Art Rütli der freien Kultur betrachten – als historischer Ort ist er schweizweit einzigartig. 1987 widmete die Stadt Zürich diesem Ort und seiner Geschichte unter dem Titel «Fluchtpunkt Zürich» ihre Junifestwochen.
Eben diesen Saal will der Zürcher Stadtrat nun abbrechen. Saal und Bühne sind eng und technisch beschränkt, die traditionelle Guckkastenbühne steht in der Kritik. Daher soll der Pfauen-Komplex der Architekten Chiodera & Tschudi nun hinter der geschützten Fassade ausgekernt werden, um einem modernen Theater Platz zu machen. Das wäre selbstverständlich eine überaus spannende Architekturaufgabe, und wir zweifeln nicht, dass ein Wettbewerb gelungene Lösungen zur Auswahl bringen würde. Doch die Zerstörung dieses historischen Orts wäre ein Akt der Ignoranz, den sich eine kultur- und geschichtsbewusste Stadt nicht leisten darf.
Der heutige Saal wurde 1926 vom bedeutenden Architekten Otto Pfleghard in früh-modernem Sinn umgestaltet. Nicht jede und jeder mag seine rosa- und crèmefarbige, von organischen Linien bestimmte Architektur. Theatertechnisch ist er unbestritten in die Jahre gekommen. Er verbirgt aber einige baugeschichtliche Geheimnisse: So sind über der heutigen Saaldecke noch zwei weitere Stuckdecken in historistischem Stil erhalten: von Chiodera &Tschudi 1889 sowie den Theaterprofis Fellner & Hellmer 1899, denn aus Kostengründen wurde bei jedem Umbau eine neue Schale unter die bestehende gehängt. Beim Abbruch würden auch diese verborgenen Zeugen zerstört.
Nach dem Krieg knüpfte das Schauspielhaus am Niveau des Emigrantentheaters an, etwa mit Uraufführungen der Stücke von Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch. Theaterleute haben immer wieder auf den Wert dieses Saals für ein Theater der Unmittelbarkeit hingewiesen. «Das Schauspielhaus ist gerade durch seine Unvollkommenheit ein vollkommenes Theater» wird Friedrich Dürrenmatt zitiert, «ich liebe es deshalb auch mehr als andere Häuser» (zit. Nach Marion Wohlleben in: TEC21, 13-14/2020). Es ist eine Guckkastenbühne – wohlan: Das Schauspielhaus besitzt im viel zu wenig bespielten Schiffbau einen Raum mit fast unbegrenzten Möglichkeiten für das moderne Theater. Und hat nicht Bert Brecht, der den Begriff geprägt hat, selbst die historische Guckkastenbühne des Theaters am Schiffbauerdamm für sein Wirken gewählt? Würde in Berlin wohl jemals erwogen, jenen Saal mit seiner Geschichte zugunsten eines Neubaus verschwinden zu lassen?
Die Enge und Beschränktheit des Schauspielhaus-Saals sind keineswegs eine neue Erkenntnis. Nach dem Scheitern hochfliegender Neubaupläne der 1960er Jahre (Projekt von Jørn Utzon) erneuerten die Architekten Schwarz + Gutmann, die Erbauer des Theaters Basel, 1976–78 den Zürcher Pfauensaal. Dabei lernten sie seine Beschränkungen lieben, wie sie in der Zeitschrift Bauen+Wohnen berichten: Als subventionsloses Privattheater mit kaufmännischer Sparsamkeit erbaut, zeigt es «einen ökonomischen bis geizigen Grundplan». Doch es ist bei Schauspielern und Publikum beliebter als so mancher grosszügige und technisch vielseitigere Neubau, denn es sichert «dem Zuschauer: Nähe und Konzentration auf das Spiel; räumliche Intimität ohne sattes Behagen – dem Darsteller: extreme Nähe zum Publikum: eine Bühne, die ihn vorstellt, nicht erdrückt». (Bauen+Wohnen 5/1978, S. 189–194) Auch diese Werte gilt es zu erhalten.
Politik und Verwaltung der Stadt Zürich sind trotz allem entschlossen, den Abbruch voranzutreiben. Dagegen wehrt sich der Zürcher Heimatschutz – und eine von viel internationaler Prominenz unterzeichnete Petition, lanciert von den Professor/innen Stefan M. Holzer, Carola Jäggi, Silke Langenberg und Hans-Rudolf Meier. Aus der Schweiz haben unter vielen anderen Stanislaus von Moos, Christian Kerez, Annette Spiro, Laurent Stalder, Joseph Schwartz und Tom Avermaete mit unterschrieben, aus Deutschland etwa Andres Lepik, Thomas Will oder Petra Kahlfeldt neben einer grossen Zahl von weiteren Hochschullehrenden. Nur in Zürich wird der drohende Abbruch noch kaum diskutiert. Es ist höchste Zeit, dass sich das ändert.