Überschuss statt Mief!

Schon manch eine Idee wurde im Treppenhaus abgemurkst. Kaum an einem anderen Ort begegnen sich die Interessen von Mietenden oder Besitzenden so direkt wie hier, und darum ist es kein Wunder, dass a) der Gebrauch des Treppenhauses durch Hausordnungen, Putzpläne, Feuerpolizei und Anonymität reglementiert und unterbunden wird und b) Treppenhäuser trotzdem beharrlich Oasen der Selbstdarstellung sind. – Und sei dies nur durch liebevoll und ordentlich aufgereihte Schuhe im Schuhschränklein oder Haufen Kinderschuhe vor der Tür. Oder durch einen lebensgross in Laubsägearbeit dargestellten Max aus Wo die wilden Kerle wohnen: Im Treppenhaus sind auch wir, so wie wir sind.

Der Inbegriff der Vorschriften, die solche Äusserungen der Individualität unterbinden – und aber auch Rettungsdiensten ein freies Durchkommen garantieren – ist das «Norm-Treppenhaus» an sich, mit zwei 1,25 Metern breiten Läufen und Podesten. – Ohne Unterschied, ob sich letztere vor der Tür oder an der Fassade und vor halbiertem Fenster befinden (wenn es denn überhaupt ein solches gibt). Das innenliegende Treppenhaus ist wie das mechanisch belüftete Badezimmer ein Symptom der Zeit, alleine sein Mief lässt sich kaum überbieten. Und da hilft auch die teure Silberfarbe wenig …

Dabei könnte die Treppe ein sinnlicher Ort sein: Mit Schwung die Läufe runter oder hoch und ein kurzer Blick auf den blühenden Apfelbaum vor dem Fenster bedeuten einen ganz anderen Beginn oder Schluss für den Tag. Dies gilt insbesondere jetzt und als Antidot gegen das um sich greifende Gefühl der Lähmung. Man stelle sich nur vor, das Treppenhaus wäre mehr als Vorschrift und böte Platz, um sich – in zwei Metern sozialer Distanz – auf bequemen Sesseln auszutauschen. Und in Nicht-Corona-Zeiten fände man auch mal beim Essen Gemeinschaft, so wie das schon auf den breiten Korridoren des «Amerikaner-Hauses» in Zürich vorgekommen ist (die Rede ist vom «Einküchenhaus» in Zürich an der Idastrasse von 1916, dessen Bau von Oskar Schwank durch Godins Familistère inspiriert war). Oder jüngst in der Seestadt Aspern bei Wien, anlässlich eines Kindergeburtstags?

Irgendwie schwingt beim Treppenhaus im Wohnungsbau dann doch immer etwas fürstliche Grandeur mit. Sie macht den Auftritt in der einen oder anderen Form möglich, sie provoziert ihn vielleicht sogar. Oder anders gesagt und vielleicht etwas weniger salopp: Das Treppenhaus ist derjenige Ort, wo die Architektur unmittelbar für die Gemeinschaft einen Überschuss produzieren kann. Dies bedeutet auch, dass sie sich beweist und zeigt, was sie zu bieten hat. Und dies wiederum schliesst ebenso ein Ausloten von privaten und halbprivaten Interessen und Zonen mit ein wie die architektonische Form.

— Tibor Joanelly

Mehr zu Treppen in der aktuellen Ausgabe.

© Philipp NP, @botic
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