Wer hat Angst vor Theorie?

Das Institut für Geschichte und Theorie der Architektur an der ETH Zürich, kurz: das gta, feiert sein 50-jähriges Bestehen. Während die Bedeutung des Worts «Geschichte» in seinem Namen klar hervortritt, verhält es sich mit dem zweiten Begriff «Theorie» etwas weniger klar. Theorie ist in der Architektur ein ziemlich flatterhaftes Wesen. Es kommt mal martialisch daher und mal ätherisch, mal weltanschaulich, mal wissenschaftlich. Selten lässt es sich verbindlich nieder im Projekt. Vielleicht ist dies der Grund, dass viele Architekturschaffende vor einer vertieften Beschäftigung mit theoretischen Fragestellungen zurückschrecken.
«Architekturtheorie» ist im Wesentlichen eine Erfindung der 1960er Jahre, einer Zeit, in der an amerikanischen und italienischen Hochschulen bedeutende Institute mit entsprechender Ausrichtung gegründet wurden. Architekturtheorie erlangte so Autonomie und ein eigenes Standing. An der ETH waren es vor allem die beiden Kunsthistoriker Paul Hofer und Adolf Max Vogt, die mit der Gründung des gta laut Antrag an die Schulleitung verstreute Interessen zu «Architekturgeschichte, Architekturtheorie, Geschichte des Städtebaus und Denkmalpflege» zusammenführen wollten.
Zum Einstand erhielt das gta die in der Bau-Bibliothek gelagerten Bestände von Gottfried Sempers Arbeiten, und mit ihnen auch einige Nachlässe seiner Schweizer Schüler. Sempers Theorie zwischen Praxis und Wissenschaft war also von Anbeginn ins Erbgut des gta eingeschrieben, wurde aber dann vor allem im Sinne einer wissenschaftlichen Geschichtsforschung verfolgt. Es gab ja auch viel zu entdecken! Über Gustav Gull, Karl Moser, die internationale und Schweizer Moderne, den CIAM, die Architektur der Nachkriegszeit. Aus einem Geflecht von Archivbeständen, internationalen Verbindungen – etwa über Colin Rowe oder Aldo Rossi –, Zeitzeugenschaft und persönlicher Recherche entstand so auf vielfältige Weise Theorie, die die Schweizer Architektur nachhaltig beeinflusst hat: Schlüsselbegriffe sind Autonomie, Tendenzen, Typologie, dialogische Stadt, Transparenz und Collage City, Analoge Architektur.
Und heute? Man hat durchaus Grund, kritisch zu sein mit der Theorie à la gta. Auf der einen Seite verführt die Erschliessung der Geschichte gerne zu Selbstzweck oder Bestandsverwaltung. Auf der anderen Seite ist auch die ETH Teil eines internationalen akademischen Systems, in dem Publikationen und Kongressteilnahmen viel zählen, und die Verbindung zur Architekturpraxis mittlerweile nur noch wenig gilt. Und auch der Erfolg des gta könnte einem Angst machen. Auf seinen «Schultern» stehend ist die Aussicht wunderbar – doch Geschichte hält keine «Botschaft» mehr bereit wie 1967, als es darum ging, unter den von der Moderne verschütteten Beständen Ideologie oder Ästhetik als Grund zur Theoriebildung zu erschliessen.
Mit den anlässlich der Ausstellung Phantom Theory stolz präsentierten Forschungsfeldern entlang der oben genannten Theorielinien könnte das «t» im Namen des gta aber auch gut für «Tradition» stehen, für die Kontinuität einer Theoriebildung nämlich, bei der mit den Worten des jetzigen Leiters Laurent Stalder «historische Fakten ernsthaft aufbereitet werden, um Modelle für veränderliche Situationen zu gewinnen». Damit wird die Beschäftigung mit Theorie und Geschichte aktualisiert: Theoretische Modelle sind Werkzeuge, genauso wie es Architekturmodelle sind. Sie ermöglichen es, der vielgestaltigen Realität der Architektur habhaft zu werden. Kurt W. Forster, auch er einst Leiter des gta, hat das anlässlich eines Gesprächs zum Jubiläum so auf den Punkt gebracht: «Der Gedanke hinter einem Konzept befähigt einen, etwas von dieser Realität zu verstehen. Theorie ist ein Befähigungs-Instrument.» Braucht man davor noch Angst zu haben?

— Tibor Joanelly

Die nächste Veranstaltung ist hochkarätig besetzt. Werner Oechslin, Hans Kollhoff und Bruno Reichlin diskutieren zur Frage: Welche Geschichte? Das Gespräch leiten Martin Tschanz und Laurent Stalder. 29. November 2017, 18h im HIL E 1, ETH Hönggerberg.

Neben den Veranstaltungen zum Jubiläum hat das gta auch eine neue Schriftenreihe aufgelegt. Die gta papers in der Form eines englischsprachigen Magazins zeigen ausgewählte Forschungsergebnisse. Ausgabe 1 widmet sich dem Thema ARCHITECTURE/MACHINE.

gta
© Thomas Boga
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