Article from 1/2–2025

«Wie bewahren wir die Reichhaltigkeit des Burckhardt’-schen Denkens?»

Drei Fährten in Lehre, Praxis und Politik

Maria Conen, Thomas Kissling und Philippe Koch im Gespräch mit Christoph Ramisch und Roland Züger, Diaarchiv LAB UB (Bilder)

Als Redaktor und als Dozent an der ETH Zürich führte Lucius Burckhardt Gespräche am runden Tisch. In dieser Tradition des interdisziplinären Austauschs eröffnen sich unterschiedliche Blickwinkel auf das Wirken und die Aktualität von Annemarie und Lucius Burckhardt.

wbw Wie seid ihr auf Lucius und Annemarie Burckhardt gestossen?

Philippe Koch Als einziger Sozialwissenschafter im Architekturdepartement der ZHAW habe ich Vorbilder gesucht und stiess auf die Burckhardts. Für Wissenschaftler wie mich sind die Texte von Lucius Burckhardt aber auch frustrierend, weil er nie preisgegeben hat, woher seine Ideen stammen. Er fühlte sich den akademischen Regeln nicht verpflichtet. Gleichzeitig war genau das ein Punk-Moment, der mich faszinierte.

Maria Conen Burckhardt hat Dinge beschrieben, die im Studium nie gelehrt worden sind, wie im Text «Der kleinstmögliche Eingriff».1 Im Unterricht haben wir uns immer nur um grössere Dinge gekümmert. In einem anderen Text beschreibt er: «Hinschauen, das tun wir oft schon gar nicht mehr.»2 Die Spaziergangswissenschaft sucht den Ort auf und versucht, das Betrachten wiederzuentdecken. Betrachten heisst: neue Blickwinkel erschliessen, Sehweisen ausprobieren, Ungewohntes wahrnehmen, störende Elemente aufdecken. Im Studium sind wir selten raus und haben einen Ort besichtigt. Heute machen wir das mit unseren Studierenden. Wir beobachten, was da ist, und fragen uns, wie wir damit umgehen. So entdeckt man Schichten, die man auf dem Foto oder Plan noch nicht erkennt. Es wird vieldeutiger.

Thomas Kissling Ich habe 2008 an der ETH Zürich das Entwurfsstudio von Günther Vogt besucht. Dabei war kein konkretes Programm oder konkreter Endprodukt vorgegeben. Stattdessen stand eine komplexe Fragestellung im Zentrum: Welche Rolle kann das Gaswerkareal Schlieren spielen, nachdem es seine Nutzung verloren hat? Wir waren gefordert, beim Entwerfen die engen disziplinären Grenzen zu überschreiten. Die Herangehensweise war ganz der Tradition der Burckhardts verpflichtet und stellte einen, ich würde es nennen, humanistischen Gegenpol zum damals noch klassisch organisierten Entwurfsunterricht dar. Dieser verfolgte das Ziel, ein vorgegebenes Terrain mit einem Gebäude als konkrete Lösung zu beplanen.

wbw Bei den aktuellen Debatten um den Autobahnausbau in der Schweiz wähnt man sich in den Kämpfen von Annemarie und Lucius Burckhardt gegen die Stadtautobahnen in Basel zurück. Wo seht ihr weitere aktuelle Bezüge?

Koch Burckhardt schrieb einst: «Wir neigen dazu, Probleme, die eigentlich durch Strategien behandelt werden müssten, benennbaren Lösungen zuzuführen. Beispiel: auf das Problem des Alterns in der heutigen Gesellschaft antworten wir mit dem «Altersheim›.»3 Ihm geht es um die Wechselwirkung zwischen Nutzung, Gebäude und Raum. Man muss das als System begreifen. Solche komplexen Zusammenhänge sind überhaupt noch nicht Realität, weder in der Ausbildung noch in der Praxis. Man könnte sich ja anhand der gebauten Umwelt fragen, in welche Richtung sich die Gesellschaft entwickeln könnte?

wbw Warum passiert das nicht?

Koch Heute besteht die Gefahr, dass Burckhardts Wirken zur Kunst wird, statt im Alltag anzukommen. Weil sein Denken für viele zu anspruchsvoll ist. Man müsste beispielsweise das ganze Curriculum der Architekturschule infrage stellen. Wir Burckhardt-Interessierten bilden ja nicht den Mainstream.

Conen Mich fasziniert ja Burckhardts Foto des Löwenzahns, das bei einer Kasseler Aktion «Sichtbar machen» mit einem botanischen Schild versehen zum Exponat wird. Es gibt eben nicht nur gebaute Strukturen, sondern auch gewachsene. Wer kann noch Blumen benennen? Bei der Gestaltung des Lebensraums sind nicht nur Menschen, sondern eben auch Pflanzen oder Tiere betroffen.

Koch In Kassel lehrte Lucius im Studiengang «Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung». Dort versuchte man interdisziplinäre Studiengänge aufzubauen, die sich sowohl um die Wahrnehmung wie auch um praktische Fragen der Verkehrs- oder Stadtplanung kümmerten. Als Professor in Kassel, wo er 1972–97 wirkte, war Burckhardt kein Spinner, sondern gehörte einfach dazu. Bei der Reform der Hochschullandschaft kam der Zwang wieder auf, die Studiengänge nach Fachdisziplinen zu ordnen. Für einige war das eine Erleichterung: Endlich durften sie sich wieder auf ihre eigenen Dinge konzentrieren.

wbw Maria, du unterrichtest an der ETH. Wie sieht dein Blick von innen aus?

Conen An unserem Lehrstuhl arbeiten eine Biodiversitätsfachfrau und zwei Fotografen, die Architektur studiert haben. Das Schauen-Lernen ist mir wichtig. Zudem suche ich die Zusammenarbeit mit anderen Departementen, wie dem Siedlungswasserlehrstuhl von Max Maurer. Wir entdecken viel Neues in den Themen des Wasserkreislaufs, der Biodiversität oder beim Dokumentieren des Bestands. So entsteht eine Vielschichtigkeit, die Lucius Burckhardt schon anspricht. Gleichzeitig gibt es Kritik, dass wir zu viele Themen und Schichten ansprechen.

Koch Das Institut an der ZHAW, an dem ich unterrichte, hat ebenfalls eine interdisziplinäre Ausrichtung. Unter den Studierenden, die zuvor meist eine Lehre gemacht haben, erkenne ich eine grosse Neugierde für interdisziplinäre Fragen, weil sie im Berufsfeld schon damit konfrontiert waren. An der Fachhochschule folgt aber keine theoretische oder konzeptionelle Auseinandersetzung mit Architektur, sondern eine praxisorientierte. Deshalb sind auch die Burckhardts anschlussfähig, weil sie ihre Gedanken immer aus praktischen Problemstellungen entwickelt haben.

wbw Am Lehrcanapé an der ETH Zürich 1970–73 unterrichtete Lucius Burckhardt im Tandem, zusammen mit einem Architekten. Die Aufgaben waren immer sogenannte bösartige Probleme, auf die es keine eindeutige Antwort gab. Wie können solche verzwickten Fragen heute wieder in der Lehre formuliert werden?

Kissling Im Lehrcanapé liegt auch eine Symbolik. Es gibt immer einen Platz neben den Personen, die unterrichten. Damit wird das Konzept des Lehrstuhls radikal hinterfragt. Die Gespräche auf dem Canapé finden auf Augenhöhe statt. Diese Haltung war uns beim Entwerfen mit den Studierenden immer wichtig. Aber auch im Büro steht das Argument im Zentrum der Diskussionskultur. Bei der Aushandlung der unterschiedlichen Positionen geht es um den Versuch der Konsensbildung.

wbw Das Gespräch ist sicherlich die Grundlage, aber wie kommt es dann zum konkreten Projekt?

Koch An der ZHAW unterrichte ich das Fach Urban Research, bei dem ein Entwurf nicht vorgesehen ist. Das ist frustrierend für einige Studierende, aber am Ende bemerken sie eine veränderte Sichtweise, weil sie sich der Analyse hingeben konnten. Viele Architekturschaffende verspüren einen Zwang zu gestalten und sich darin auszuzeichnen. Dieser Gestaltungswille ist meines Erachtens oft ein Hindernis.

Conen Als Architektin widerspreche ich, denn am Schluss geht es nicht nur um die Analyse: Wir gestalten Räume. Räume haben Eigenschaften. Sie können hoch, tief, dunkel, hell sein – alles Fragen der Architektur. Eine Analyse ist noch keine Architektur.

Kissling Wir verstehen die Analyse immer schon als Teil des Entwurfs. Denn jede Analyse ist unter Berücksichtigung unterschiedlicher Positionen wertend zu betreiben. Im besten Fall führt diese Auseinandersetzung direkt zum Programm. Dieses soll aber keinen reinen Raumbedarf abbilden, wie ein Schulhaus mit Zimmern und Turnhallen. Das Programm umkreist vielmehr die Frage: Wie wollen wir unterrichten? Gleichzeitig muss das Programm anpassungsfähig bleiben, um auf zusätzliche Erkenntnisse reagieren zu können.

Conen Mit verschiedenen Freunden haben Raoul Sigl und ich 2011 das Projekt Hubertus Temporary initiiert: das Führen und Programmieren eines leerstehenden Restaurants in Albisrieden. Da ging es primär um das Programm. Dadurch entstand ein neuer Treffpunkt im Quartier. Wenn man im Bestand arbeitet, ist das Raumprogramm wichtig. Manchmal wichtiger, als ob der Raum weiss, gelb oder rot ist. Gleichwohl verändert Farbgestaltung oder Beleuchtung die Stimmung in einem Raum, deshalb haben wir diese auch mitgedacht. Denn die Programmierung allein ist wohl doch noch keine Architektur.

Koch Lucius und Annemarie haben den Raum aber immer in unterschiedlichen Dimensionen cokonstitutiv verstanden. Angesichts der CO₂-Debatte heute könnte man ja auch mal nichts bauen und versuchen, über soziale und organisatorische Massnahmen einen Raum zu verändern.

Kissling Es ist ein Missverständnis, dass Architektur oder Landschaftsplanung den Raum absolut bestimmen. Denn Raum umfasst neben einer baulichen auch eine gelebte und eine mental konzipierte Dimension. Die Planung kann Voraussetzungen schaffen, die aber als eine Konsequenz davon nicht mit der Erstellung eines möglichen Bauwerks enden sollten. Gerade im öffentlichen Raum ist es von essenzieller Bedeutung, dass wir auch darüber nachdenken, wie ein Ort im weiteren Prozess unterhalten, gepflegt und gemeinschaftlich genutzt werden kann.

wbw Die Burckhardts haben schon früh zum ökologischen Bauen publiziert, beispielsweise die beiden Bücher Für eine andere Architektur4 Sie sind voll mit Ansätzen des sozial-nachhaltigen und ökologischen Bauens, die heute vergessen sind, aber aktuell wären. Warum sind sie 40 Jahre lang niemandem aufgefallen?

Koch Wissen genügt nicht, um jemanden zu überzeugen, das ist mir als Politikwissenschaftler klar. Heute gibt es aber Architekten und Architektinnen, die sich wieder dafür interessieren und versuchen, das «in richtige Architektur zu übersetzen». Das zeigt das Problem: Diese Ansätze aus den 1980er Jahren zählen nicht zur «richtigen Architektur». So verstummte eine ganze Tradition, die nie Anerkennung erhalten hat.

Conen Auch gewisse Tendenzen der Postmoderne, die Stararchitektur und das Wachstum der 1990er Jahre haben zum Vergessen beigetragen. Bauen im Bestand war nicht etwas, das aktiv gelehrt oder studiert wurde während meiner Ausbildung. Wir haben im Büro am Anfang viele Umbauten gemacht. Dafür mussten wir uns oft rechtfertigen. Dabei ist die Architekturgeschichte voll davon. Alles ist Weiterbauen.

Kissling Lucius’ Interesse an der Ökologie ist im Naturschutzgedanken angelegt – von ganz klein auf, in der Familie. Wir haben hier im Case Studio Vogt neben der Bibliothek auch seine Sammlung von Schneckenhäusern. Sein sehr frühes Interesse an der Naturbetrachtung wird hier sichtbar. Zusammen mit dem Wunsch nach einer gewissen Systematik. Seine Umweltinteressen kommen bei der Gründung der Grünen Partei (1987 als Grüne Alternative Basel) dann besonders deutlich zur Sprache. Dabei geht es ihm im Wesentlichen um die Interaktion zwischen uns Menschen und der Umwelt: Können wir als Folge dessen Umwelt überhaupt abschliessend beschreiben? Ist die Umwelt nicht vielmehr ein Konstrukt in unseren Köpfen?

wbw Wie kann man die Reichhaltigkeit an unterschiedlichem Wissen und Traditionen des Burckhardt’schen Denkens bewahren?

Kissling Die von den Burckhardts zur Sprache gebrachten Themen waren im Diskurs der Zeit eingebettet. Einzelne Themen wurden zwischenzeitlich weitgehend implementiert. Zum Bespiel die Frage «Wer plant die Planung?» Andere Themen sind der heutigen Zeit voraus. Dazu zähle ich viele der Umweltfragen. Der aktuelle Diskurs flüchtet sich in eine Art Scheinwissenschaftlichkeit. Eindimensionale und regelhafte Lösungen sind das Resultat. Wir erkennen in diesem Handeln eine Art Kapitulation vor der Grösse der Fragestellung. Die Planung bricht die Problematik herunter auf oftmals symbolische Gesten, die mantraartig wiederholt werden.

Koch Selbst im Fachdiskurs gibt es ein unterschiedliches Verständnis von den Dingen. In unserem Seminar an der ZHAW merkte ich, dass die Vorstellungen von Landschaft, Park und Strasse weit auseinandergingen. Wenn man das mit der lokalen Bevölkerung diskutiert, verstärken sich die Unterschiede nochmals. Der Erfahrungshorizont, den die Burckhardts noch hatten, ist heute heterogen.

wbw Was nehmt ihr von den befruchtenden Erfahrungen aus den Texten von Annemarie und Lucius in die Zukunft mit?

Koch Seinen untrüglichen Humor. Mich fasziniert sein steter Versuch zu verstehen, wie Dinge funktionieren. Wie wird ein Brot hergestellt? Wie kommt es zu mir? Welche Schritte braucht es? Es geht darum, zu verstehen, was tatsächlich gemacht wurde und wie man an Dingen etwas Kleines verändern könnte.

Kissling Am Case Studio Vogt interessiert uns der Aufbau ihrer Lehrkonzepte. Wie war der Unterricht strukturiert und welche Medien haben sie zur Vermittlung genutzt? Dabei möchte ich den «Inselkurs» in der Landschaftsarchitektur am damaligen Technikum Rapperswil 1990 hervorheben. Dazu gibt es übrigens, ganz untypisch, auch konkrete Entwürfe – in Form von Briefmarken. In diesem Konzentrat steckt die Frage der Kommunikation. Wie rede ich über den Entwurf?

Conen Mich beschäftigt die Biografie von Lucius Burckhardt. Seine Schneckensammlung verweist auf eine frühe, aber prägende Erfahrung. Die kann man nicht lehren. Aber man kann sie vielleicht wecken oder eben eine Kultur des Schauens lehren.

Kissling Dafür braucht es intrinsische Motivation. Leidenschaft kannst du nicht lehren, nur vorleben.

Koch Genau dieser Punkt ist kritisch, denn wollen wir zurück zur Meisterschule? Wir wissen, es lastet so viel auf uns und dem, was wir ausstrahlen. Wie bewahrt man da die Augenhöhe? Es gibt kein Rezept. Man muss Leidenschaft repräsentieren, ohne zum Meister zu werden.

Maria Conen (1979) studierte Architektur an der ETH Zürich, wo sie heute den Lehrstuhl für Architektur und Wohnungsbau führt. Zusammen mit ihrem Partner Raoul Sigl leitet sie seit 2011 das Architekturbüro Conen Sigl in Zürich.

Thomas Kissling (1980) studierte Architektur an der ETH Zürich und leitet das Büro von Vogt Landschaftsarchitekten. Er ist Herausgeber des Buches Lucius Burckhardt, Anthologie Landschaft (Zürich 2003). Im Case Studio Vogt ist die öffentlich zugängliche Bibliothek der Burckhardts untergebracht.

Philippe Koch (1977) schloss an der Universität Zürich 2009 ein Doktorat in Politikwissenschaft ab und forscht an der Architekturabteilung der ZHAW. Dort publizierte er mit Andreas Jud das Buch Bauen ist Weiterbauen (Zürich 2021) über Lucius Burckhardts Arbeit als Werkredaktor.

1 Lucius Burckhardt, «Der kleinstmögliche Eingriff» (1982), in: Lucius Burckhardt, Design ist unsichtbar, Entwurf, Gesellschaft & Pädagogik, hg. von Silvan Blumental, Martin Schmitz, Berlin 2012, S.297–304.
2 Lucius Burckhardt, «Was ist Spaziergangswissenschaft?», aus: Kulturbeutel, Organ der Spaziergangswissenschaft, hg. vom Fachbereich Stadtplanung/Landschaftsplanung, Gesamthochschule, Kassel 1993.
3 Lucius Burckhardt, «Bauen – ein Prozess ohne Denkmalpflichten» (1967), Vortrag vor dem Deutschen Werkbund, in: Lucius Burckhardt, Wer plant die Planung? Architektur, Politik und Mensch, hg. von Jesko Fezer, Martin Schmitz, Berlin 2004, S.26–44.
4 Michael Andritzky, Lucius Burckhardt, Ot Hoffmann (Hg.), Band 1: Für eine andere Architektur. Bauen mit der Natur und in der Region, Frankfurt a.M. 1981, sowie Band 2: Für eine andere Architektur. Selbstbestimmt bauen und wohnen, Frankfurt a.M. 1980.

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