Annette Spiro
Die Temperaturspitzen Andalusiens sind Vorboten für unser Klima von morgen. Wie ist es, in Sevilla zu leben, und wie stellt man sich dort auf die Hitze ein, wenn sie den Alltag bestimmt? Ein Erlebnisbericht.
«In Sevilla legen sich die Hunde schon im Februar in den Schatten zum Schlafen», sagt mein Freund Ricardo. Es ist Winter und warm. Schon bald werden in den Strassen die Orangenbäume blühen. Ihr Duft ist betörend, doch als Schattenspender taugen sie wenig. Dafür gibt es die Toldos. In den ersten Apriltagen fixieren die Monteure bereits die Vorrichtungen für die weiten Stoffmarkisen, die die Strassen überspannen. Seit über 150 Jahren werden im Sommer am frühen Morgen die Tuchbahnen über die Gassen der Altstadt gezogen. Im gedämpften Licht unter dem Stoffdach lässt es sich wie in einem orientalischen Bazar flanieren, selbst wenn die Sonne senkrecht steht.
Dieses Gedankenspiel ist weniger weit hergeholt, als man denken könnte. Ein halbes Jahrtausend dauerte die maurische Herrschaft und ihre Spuren sind allgegenwärtig: in Begriffen der Sprache, der Hoftypologie der Architektur, im Labyrinth der Altstadt. Enge, gekrümmte Gassen, lange, geschlossene Mauern, dahinter verstecken sich Höfe. Hölzerne Gitterkonstruktionen, Muxarabis genannt, verwehren vor den wenigen Öffnungen den Einblick, nicht aber den Ausblick. Das öffentliche und das private Leben waren im muslimischen Alltag strikt getrennt. Doch gerade die Teilung hat zwischen Strasse und Hof wunderbare Übergangsräume geschaffen. Man tritt nie direkt in den Hof. Hinter dem geschlossenen Holztor verbirgt sich eine Art Vestibül, der Zaguán – auch das ein arabisches Wort, wie so viele im andalusischen Vokabular. Vom Zaguán führt ein filigranes Gittertor zum Patio, dem Herzstück des andalusischen Hauses. «Wer sich früher in Sevilla ein Haus bauen wollte, soll, so wird erzählt, dem Architekten oder Maurer einfach das Mass des Patios angegeben haben. Um diesen herum wurden dann die Zimmer angeordnet, wie es sich aus der Situation ergab», schreibt Aldo Rossi in seiner Wissenschaftlichen Selbstbiografie.1
Fünfzig Jahre ist es her, dass Rossi den Auftrag erhielt, den historischen Corral del Conde in Sevilla zu restaurieren. Corrales de vecinos, Nachbarschaftshöfe, wurden die kollektiven Wohnanlagen genannt. Bis Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts war dieser Haustyp in den andalusischen Städten weit verbreitet. Hinter einem Tor zur meist engen Strasse dehnt sich die gemeinschaftliche Wohnanlage über einen langgestreckten Hof in die Tiefe der Parzelle.
Schattenspendende Laubengänge aus Holz auf mehreren Geschossen umringen den zentralen Hof. In der Mitte ein Brunnen – die Familien mussten sich die einzige Wasserstelle teilen. Einige Corrales existieren in Sevilla noch heute, auch wenn die Nachbarschaften nicht mehr dieselben sind. Den Neugierigen sei ein Spaziergang durch das einstige Arbeiterviertel Triana empfohlen.
Die Wohngemeinschaften der Corrales sind zwar Vergangenheit, doch der verbindende Patio ist auch in neueren Wohnbauten ein architektonisches Vorzeigestück. Selbst das traditionelle Stockwerkhaus kommt nicht ohne Hof aus, denn die Häusergevierte der Altstadt sind tief und der Fassadenanteil des einzelnen Hauses klein. Doch vom Hof als Lebensraum bleibt dort wenig. Wäscheleinen spannen von Wand zu Wand und der einstige Patio ist zu einem Lichtschacht reduziert, in dem nur noch die Wäsche trocknet. Auch in den schnell hochgezogenen Wohnblöcken der Aussenquartiere, im H-Block, wie der Vierbünder mit seinen Back-to-back-Wohnungen genannt wird, erlaubt der Lichtschacht eine grosse Bautiefe: Der Hof jedoch ist auf ein Minimum geschrumpft.
Ganz anders in den Patios der stattlicheren Häuser und Paläste in Sevilla. Dort sorgen schattenspendende Bäume und ein Brunnen für Komfort. Bäume und Wasser sind der wahre Luxus. Erst wer die maurisch-andalusische Gartenkunst mit ihren Wasserspielen in der sengenden Hitze erlebt, kann den islamischen Topos vom Garten als Abbild des Paradieses ganz erfassen.
Die auf den heissen Sommer ausgelegte Typologie des Hofhauses funktioniert noch heute. Schreitet die Erwärmung jedoch weiter so rasant fort, bleibt bald nur doch die Aire acondicionado, um das Leben erträglich zu machen. Dabei hat die andalusische Kultur über viele Generationen Mittel und Methoden entwickelt, um der Hitze zu trotzen. Dabei hat sie Erfindungen gemacht, die nicht nur Abhilfe verschaffen, sondern Vergnügen bereiten, die man nicht mehr missen möchte.
Die vielleicht genialste spanische «Erfindung» ist die Siesta. Die heissesten Nachmittagsstunden verbringt man in der kühlen Wohnung, im Dämmerlicht, hinter den Persianas, einer Art aufgerollter Matten aus Holzlamellen, die, über die Balkongeländer hinuntergelassen, das Zimmer beschatten und zugleich die Luft zirkulieren lassen. Keine aufwendige Technik, eine Schnur genügt - solange sie nicht klemmt! Wie oft musste ich mich auf einem Stuhl stehend bedrohlich über den schmalen Balkon lehnen. Hinter der Persiana verbringt die Sevillanerin ihre Siesta in ungestörter Ruhe, denn ein Anruf in diesen heiligen Stunden ist absolut tabu. Am späten Nachmittag beginnt der Tag ein zweites Mal. Erholt geht man zur Arbeit, denn schon bald winkt die Stunde des Paseo, die unzähligen Runden durch die ebenso zahllosen Bars. Die spanische Bar wäre ein Kapitel für sich. Das aber überlasse ich besser Luis Buñuel. Der Filmregisseur hat ihr in seinen Memoiren einen seiner schönsten Texte gewidmet.2
In geselliger Runde geht man also von Bar zu Bar. Kein mehrgängiges Menu belastet den hitzegeplagten Körper. Die Tapas und die Raciones zum Teilen lassen sich stehend verzehren, drinnen vor dem Tresen, unter den stets offenen Fenstertüren oder auf dem Trottoir vor der Bar.
An dieser Stelle muss es einmal gesagt werden, selbst wenn es nicht direkt mit den heissen Temperaturen zusammenhängt: Die spanischen Kellner – noch immer vorwiegend ein Männerberuf – sind Weltklasse. Sie erspähen jeden neuen Gast, selbst wenn er oder sie in der hintersten Reihe steht, und flugs steht das gefüllte Glas auf der Theke. Manchmal wird die Konsumationen noch wie einst mit Kreide auf die Theke geschrieben. Das Sägemehl auf dem Fussboden ist jedoch Vergangenheit, der kollektive Aschenbecher für die kleinen Servietten und Olivensteine hat ausgedient.
Und auch die Siesta ist bedroht, denn sie passt so gar nicht zum Zeitplan der europäischen Nachbarn. Zudem eignet sich diese Erfindung besser für Städte mit überschaubarer Grösse, die es erlauben, die drei Ruhestunden zu Hause zu verbringen – lange Arbeitswege sind ein Hindernis. Da kann höchstens der gekühlte Kinosaal Abhilfe schaffen. Oder abends als Alternative das Cine de verano in den Hinterhöfen. Die weissen, fensterlosen Mauern sind für das Sommerkino wie gemacht. Manchmal bieten allein die Schattenfiguren auf den Wänden ein ungeplantes Vergnügen.
Sol y Sombra heissen eine Platzkategorie in der Stierkampfarena, ein Cocktail und auch eine legendäre sevillanische Bar. Sonne und Schatten begleiten durch die einsame andalusische Landschaft wie die leeren Gassen an einem heissen Nachmittag. Die langen, weiss oder gelb getünchten Mauern setzen den Schattenwurf wirkungsvoll in Szene. Es gibt keine Zwischentöne wie im Licht des Nordens. Scharfe Kontraste und wenige, starke Farben dominieren das Bild: Weiss, Rot, Schwarz und das charakteristische Ockergelb, das sich im Albero, dem andalusischen Sandbelag in der Stierkampfarena und auf vielen Plätzen wiederfindet.
Das kräftige andalusische Licht bringt auch die Reliefs der maurischen Baukunst erst richtig zur Geltung. Das islamische Bildverbot hat Ornament und Relief in Architektur und Kunst zur Hochblüte gebracht. In vielen Bauten kontrastiert die Strenge der Form mit reichen Ziegelornamenten. Ein Juwel der maurischen Baukunst und ein Beispiel für das kontrastreiche Spiel von Licht und Schatten ist die kunstvoll durchbrochene Ziegelfassade der Giralda von Sevilla, dem Glockenturm und einstigen Minarett neben der Kathedrale. «Ach mein Turm aus Licht, Schilfrohr aus Salz, Zypresse aus Mond und Honig, ach meine Geliebte aus Felsen und Kristall, Giralda, wenn ich einst sterbe, werde ich kommen und deinen Körper umarmen», beschwört der Gitarrist des Flamenco-Duos Lole y Manuel den Turm in einem herzzerreissenden Sprechgesang.3
Abkühlung ist alles, und Schatten und Wasser sind die wirksamsten Mittel. So wurden in Sevillas Altstadt in den frühen Morgenstunden die Strassen abgespritzt. Es dauerte ein paar Nächte, bis die Neuzugezogene begriff, das nicht ein allnächtlicher Regenguss die Ursache der ersehnten Kühlung war. Doch Wasser ist ein kostbares Gut und steht nur noch für das Allernotwendigste bereit. Denn auch die schattenspendenden Bäume benötigen Wasser. Schatten spenden sollte auch die monumentale Struktur des Berliner Architekten Jürgen Mayer H., die sich seit bald fünfzehn Jahren über die Plaza de la Encarnación, einen der grössten Stadtplätze und einstigen Marktplatz von Sevilla, wölbt – doch mit wie viel mehr Material und Aufwand gegenüber dem einfachen Toldo. Pilze nennen sie hier die riesigen begehbaren hölzernen Sonnenschirme. Ihre Fundamente haben inzwischen die wahren Schattenspender, drei riesige Magnolienbäume, zu Fall gebracht.
Die Mittel, um Sonne und Hitze zu begegnen, sind vielfältig und brauchen nicht monströs zu sein. Den kleinsten Gegenstand zur Kühlung hat die Sevillanerin immer zur Hand. Praktisch, effizient und effektvoll in doppeltem Sinne, wie es ein weiterer Flamenco-Vers in Worte fasst: «Derselbe Fächer, mit dem / du dir Wind zuspielst, / macht einem Jemand Zeichen, / der dir bekannt ist. / Und das ist der Grund, / warum, was dir Kühlung schafft, / mich zum Glühen bringt.»4
Annette Spiro (1957) war 2007 – 22 Professorin für Architektur und Konstruktion an der ETH Zürich. Mit Stephan Gantenbein führt sie ein Architekturbüro in Zürich und hat diverse Bücher veröffentlicht. Sie ist Vorsitzende der Redaktionskommission von werk, bauen + wohnen. 1984 – 85 hat sie bei Guillermo Vázquez Consuegra gearbeitet und in Sevilla gelebt.
1 Aldo Rossi, Wissenschaftliche Selbstbiografie, Bern / Berlin, S. 20.
2 Luis Buñuel, Mein letzter Seufzer, Erinnerungen, Königstein 1983.
3 Auszug aus dem Songtext: Giralda, Pasaje del agua, 1976.
4 Flamenco-Verse, Auswahl und Übertragung: Fritz Vogelsang, Zürich 1964, S. 37.
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