Article from 11–2015

Eingebettete Architektur

Reportage aus der France profonde: Drei Bauten von BQ + A

Tibor Joanelly, Luc Boegly, Stephan Girard (Bilder)

Es sind die Dächer in der französischen Provinz, die mir immer wieder auffallen: ihre geziegelte Einheitlichkeit, die charakteristische Steilheit. Sie krönen zumeist ganz einfache Volumen; etwas unaufgeräumt und doch nach einer verborgenen Logik stehen sie zueinander. Französische Dächerdörfer sind pittoresk.

Auf dem Weg an den Atlantik hielt ich mit meiner Familie in Vézelay, einem malerischen Ort nördlich des Nationalparks Morvan. Das Unesco-Welterbe-Dorf liegt zwischen Dijon und Nevers, wo ich die Betonkirche von Claude Parent und Paul Virilio besichtigen wollte. Der Pilgerort Vézelay auf dem Jakobsweg ist in Frankreich ein nationaler Mythos. Literatur-Nobelpreisträger Romain Rolland und der Schriftsteller Georges Bataille lebten hier, ebenso der einflussreiche Verleger Christian Zervos. Eileen Gray wirkte hier als Architektin, und Viollet-le-Duc restaurierte die Abteikirche. Und auch Le Corbusier schaute immer wieder gerne vorbei. Völlig unerwartet begegnete uns hier neue Architektur im strahlenden Julilicht 2014: vier ziegelbedachte Kuben, Holz-Staketen an den Längsfassaden, die Stirnseiten in hellem Stein gemauert.

Vézelay

Ein Jahr später zur selben Jahreszeit traf ich vor Ort den Architekten, der für das neue Gesundheitszentrum verantwortlich zeichnet. Bernard Quirot ist ein Mann Mitte Fünfzig, mit einem freundlichen, etwas introvertierten Lächeln. Es sei eigentlich ein Wunder, dass dieses Zentrum gebaut werden konnte, meint er gleich zu Anfang. Denn, was das Bauen hier anbelange, so stehe Vézelay direkt unter kulturministerialer Aufsicht. Und überhaupt seien es vor allem Pariser Rechtsanwälte, die hier ihre Ferienhäuser besässen und dafür sorgten, dass das Dorf so bleibt, wie es ist.

Dass überhaupt gebaut werden konnte, ist nach dem Scheitern eines Vorgängerprojekts einer eigens zusammengestellten Expertenkommission zu verdanken; ein neuer Wettbewerb wurde durchgeführt. Das tat Not, denn hier wie allgemein in der französischen Provinz fehlen Ärzte. Oft lasse sich dem Mangel nur mit dem Bau eines Gesundheitszentrums begegnen, so Quirot. Entsprechend wird die Errichtung der Institution staatlich gefördert.

Das Zentrum wurde am Ortsrand auf einem der grossen Parkplätze für die sommers herbeiströmenden Touristen initiiert. Seit 1999 werden in Frankreich Gemeinden zu sogenannten Communautés de communes, zu Gemeindeverbünden zusammengefasst. Für einen solchen wurde Vézelay als Hauptort bestimmt, und neben den Räumen für die Ärzte umfasste das Programm auch Büros für die neue Verwaltung und einen Ratssaal. Diese sind allerdings nie fertig geworden, denn noch während der Planung wurde die Communauté de communes vergrössert, mit neuem Sitz im 16 Kilometer entfernten Avallon und schlagartiger Vergrösserung von 4 200 auf 19 500 Einwohner. Menschen und Macht seien so keine Einheit mehr, meint Quirot kopfschüttelnd. Wenigstens die Ärzte durften in Vézelay bleiben, und der ehemalige französische Staatspräsident, Nicolas Sarkozy, liess es sich nicht nehmen, anlässlich eines Besuchs medienwirksam von der nationalen Bedeutung der Médicine rurale zu schwärmen.

Die präsidiale Rhetorik verdeckt ein schier unentwirrbares Geflecht aus Vorschriften und partikularen Interessen. Bernard Quirot und seine Partner Olivier Vichard (verstorben 2014), Alexandre Lenoble und Francesca Patrono fanden sich darin zurecht, indem sie das Programm in einzelne, immer gleich überdachte Baukörper «zersplitterten». Dabei gelang es ihnen, die wesentlichen Achsen der Landschaft und den Blick hoch zur Basilika von Vézelay in Szene zu setzen. Bei der Besichtigung hat mich vor allem die homogene Gesamtwirkung des im Plan «unaufgeräumt» wirkenden Ensembles frappiert sowie dessen regelrechtes Einsinken in das Weichbild des mittelalterlich geprägten Orts.

Pesmes

Ein paar Tage vor dem Lokaltermin in Vézelay waren wir unterwegs von Dijon nach Pesmes, wo Quirot sein Büro hat. Die Fahrt ging auf der Landstrasse durch unzählige namenlose Dörfer, die im Osten des Departements Côte d’Or einen trostlosen Eindruck hinterliessen. Ich erinnere mich nicht, unterwegs je einen Menschen gesehen zu haben. An der Grenze zum Departement Haute-Saône wechselte mit Pesmes das Bild – wir überquerten einen Fluss am Fuss eines burgartig bebauten Hügels, zur Rechten ein kleines Restaurant und dann linkerhand gleich eine Bäckerei in einem Altstadthaus. In der Bar oben auf dem Hügel sassen Menschen beim Bier. Pesmes war wie Vézelay Hauptort einer Communauté de Communes gewesen und hat diesen Status ebenso in einer weiteren Gebietsreform verloren. Aktuell profitiert es aber als Handwerks-, Detailhandels- und Dienstleitungszentrum von der angestrebten Fusion der Regionen Bourgogne und Franche-Comté, in deren Mitte es zu liegen kommt.

Ich war eingeladen zum Abschluss-Vortrag einer Sommerakademie zum Thema Dorf, die Quirot zusammen mit befreundeten Architekten auf die Beine gestellt hatte. Es sprach Stefano Moor, Architekt in Lugano, Schüler von Luigi Snozzi. Er stellte einen Wettbewerbsentwurf für eine Schule in Caslano vor, der im französischen Kontext wie aus einer anderen Welt erschien: rigide geometrisiert, reine Struktur, ein anderer Massstab, Architettura del territorio. Architektur des intellektuellen Widerstands. Anders im Anschluss die Haltung Quirots im Gespräch, zusammen mit dem Bürgermeister von Pesmes: Ohne persönliches Vertrauen und gegenseitiges Engagement sei Architektur in dieser Gegend nicht möglich; das gehe so weit, dass man sich auch auf gemeinsame Händel einlasse. Bürgermeister und Architekt hätten hier in Pesmes etwa vereinbart, dass Neuzuzügern unentgeltlich Beratung beim Umbau ihrer Häuser angeboten werde. Umgekehrt werde der ortsansässige Architekt für Entscheidungen herbeigezogen, die den Umgang mit dem gebauten Raum betreffen. Wieder grüsst Monte Carasso!

Aufgrund eines gewonnenen Wettbewerbs haben Quirot und sein Büro in Pesmes Schule und Schulhof umgestaltet sowie ein Gebäude für die Kinderbetreuung neu gebaut. Der Neubau ist wie die vier Häuser in Vézelay eine Holzkonstruktion, und er vermittelt durch eine geschickt gesetzte Volumetrie zur Umgebung. Die Fassaden mit den eng stehenden Holzpfeilern wirken zwar etwas ortsfremd; die Art und Weise, wie der Bau aber den Bestand räumlich verdichtet, habe ich so lange nicht mehr gesehen. Snozzis Aphorismus, dass ein Haus immer von der Stadt her gedacht werden müsse, scheint hier umgesetzt.

Die Ansprüche der Nutzer, Eigentümer und Geldgeber waren hier wie in Vézelay kaum unter einen Hut zu bringen. Der vereinheitlichende und äusserst günstige Holzbau ermöglichte da wohl nicht zuletzt die notwendige Flexibilität. Für Quirot ist das Gesamtprojekt ein typisches Abbild dafür, wie öffentliche Bauten in Frankreich zustande kommen: Sie sind immer ein Ensemble de financement très compliqué. Das Département etwa bezahle die behindertengerechte Signaletik, die Region für die Aussenräume, und die Gemeinde werde wiederum über verschiedene Fonds bis hinauf zur Europäischen Union alimentiert.

Chaucenne

Tags darauf machten wir auf dem Weg zu Claude-Nicolas Ledoux’ Salinen in Arc-et-Senans Halt in Chaucenne, einem kleinen, eher gesichtslosen Ort. Mittendrin aber steht das von Quirot neu umgebaute und erweiterte Rathaus, ein architektonisches Juwel. Der hinzugefügte Flügel für die Gemeindeverwaltung duckt sich etwas von der Strasse weg. Seine Stirn wird von einem Portikus mit drei Jochen gebildet, der rechtwinklig zum Häuschen der alten Mairie steht und von ihm abgesetzt ist; beide Fassaden bilden einen kleinen wiesenbewachsenen und mit einem Baum bestandenen Hof. Das alte Haus hat Quirot ganz zum Ratssaal umgewidmet, indem er die Decke über dem Erdgeschoss entfernen und die eine Seite des so aufgewerteten Raums ganz zu diesem Hof hin öffnen liess. Den in rossianischer Manier sichtbaren Abfangträger schmücken nun die Worte Liberté Égalité Fraternité.

Doch wirkliche Feierlichkeit zeigt sich, wenn man das Ensemble umrundet und den Eingangshof betritt; ich bewegte mich entlang von Kolonnaden, wie ich sie auch bei den zuvor besichtigten Bauten kennengelernt hatte. Sie sind hier aus Beton gemacht – vermeintlich. Beim genauen Hinschauen entpuppten sie sich als massive Kalksteinquader, gekrönt durch einen vor Ort betonierten Architrav anstelle des sonst so typischen Ziegeldachs. Die Leute würden denken: das sei Stein, der wie Beton aussehe, meint Quirot verschmitzt. Die kolossale Ordnung rahmt den Hof auf zwei Seiten, und zugleich gibt sie den Blick frei in den einbündigen Verwaltungstrakt. Transparenz ist in der französischen Provinz also wörtlich zu nehmen. Beredt begrüsste mich über dem Empfangsraum wertschätzenderweise ein stattliches Oblicht.

Auf die Frage, wie eine so kleine Gemeinde es sich leisten könne, verschwenderisch zu bauen, antwortete mir Quirot fast entschuldigend: Dieser Stein sei halt sehr günstig, wenn man ihn in grossen Formaten bestelle. Und wenn man die Kosten nicht aus der Hand gäbe, so finde man auch bei kleinsten Budgets Möglichkeiten. – Allerdings, so fügt er an, sei der Kostendruck enorm, und aufgrund vereinfachender Auftragsvergabeverfahren bleibe immer weniger Luft für Architektur. Das Vorgehen in Chaucenne sei nur möglich gewesen, weil sein Team in einer persönlichen Bewerbung dreier Teams beauftragt worden sei, eine Praxis, die bislang in der französischen Provinz gang und gäbe war. Zunehmend würden aber öffentliche Aufträge für Sanierungen, Umbauten und kleinere Neubauten anonym und aufgrund der tiefsten Honorarofferte vergeben – mit unabsehbaren Folgen für die Qualität der Architektur.

Trotz bisweilen widriger Umstände lässt sich Quirot nicht vom sorgfältigen und überlegten Bauen abhalten. In Pesmes erheischte ich einen Blick auf seinen Arbeitsplatz: Nebst einem Booklet mit eigenen Arbeiten und anderem sah ich da Adam Carusos Buch über die Mailänder Architekten Asnago & Vender sowie L’architecture de la ville von Aldo Rossi. Nach den Dächern der Dörfer also die Fassaden der Stadt?

Die Praxis von der Stadt aufs Land verlegt

Bernard Quirot (1959) ist in Dôle geboren. Er diplomierte 1986 an der Ecole d’Architecture de Belleville in Paris und reiste mit einem Stipendium der Académie de France nach Rom. 1990 gründete er zusammen mit Stéphane Jousselin und Michel Ferranet ein eigenes Büro in Paris; 1996 übersiedelte er nach Besançon, wo er zusammen mit Olivier Vichard ( † 2014) wiederum ein Büro gründete. Im Dorf Pesmes arbeitet er seit 2008 zusammen mit Alexandre Lenoble und Francesca Patrono. www.quirotassocies.com

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