Article from 11–2024

Stadtgemüse

Ferme du Rail in Paris von Grand Huit

Julia Tournaire, Myr Muratet, Jérômine Derigny (Bilder)

Der «Hof am Gleis» ist Restaurant, Wohnheim, Ausbildungsort und landwirtschaftliche Produktionsstätte in einem. In diesem innerstädtischen Hybrid gelingt soziale Integration dank der sorgfältigen Graduierung von Öffentlichkeit und dem Engagement eines intedisziplinären Kollektivs.

Die Ferme du Rail ist, wie ihr Name schon sagt, ein Ort der landwirtschaftlichen Produktion im Herzen von Paris. Sie ist Integrationsort und Unterkunft, Quartiertreffpunkt und Ort des Lernens, der Sensibilisierung und der Verpflegung. Diese Hybridität, die in genau zugeschnittenen Gemeinschaftsräumen verankert ist, führt zu zahlreichen Begegnungen auf unterschiedlichen Ebenen, vom Feld bis an den Tisch.

Es gibt viele Möglichkeiten, mit der Ferme du Rail in Kontakt zu treten. Wenn Sie eine Biene sind, werden Sie wahrscheinlich den Nektar der Blumen in den zahlreichen Blumenkästen sammeln. Wenn Sie eine Bewohnerin von oder ein Tourist in Paris sind, besuchen Sie nach einem Spaziergang auf der stillgelegten Bahnlinie Petite Ceinture vielleicht das Restaurant Le Passage à Niveau und probieren die Produkte des Hofs. Wenn Sie eine Bäuerin aus dem Departement Seine-et-Marne sind, haben Sie die Möglichkeit, Ihr Obst und Gemüse per Schiff anzuliefern, wo es an die Bauernvereine des Quartiers verteilt wird. Wenn Sie ein Ladenbesitzer aus dem 19. Arrondissement sind, werden Sie morgens von ihren Gärtnern besucht, die mit dem Fahrrad Ihre organischen Abfälle abholen, um sie zu kompostieren. Wenn Sie eine Nachbarin sind, können Sie Ihre Bioabfälle selbst zum Bauernhof bringen und bei dieser Gelegenheit eine Ausbildung im Gemüseanbau erhalten. In jeder dieser Situationen werden Sie der Bewohnerschaft der Ferme du Rail begegnen – Landwirte, Menschen in der Eingliederungsphase, Studenten, Erzieherinnen, Betreuer, Küchenchef –, die seit der Eröffnung der Ferme du Rail Ende 2019 auf dem Hof leben und/oder arbeiten, sich um den Gemüseanbau und umeinander kümmern.

Ein aussergewöhnliches Projekt

Die Entstehung des Projekts ist eine Geschichte von glücklichen Begegnungen zwischen einer Gruppe von Stadtbewohnenden, ihrem Quartier und einer Reihe engagierter Akteure. Diese Geschichte beginnt im Jahr 2014, als Architektin Clara Simay und Stadt- und Architekturphilosoph Philippe Simay auf der Liste der 23 Grundstücke des innovativen städtischen Projektaufrufs «Réinventer Paris»1 ein 1300 Quadratmeter grosses Grundstück entdecken, das nur wenige Schritte von ihren Wohn- und Arbeitsorten im sogenannten Ourcq-Quartier im Nordosten von Paris entfernt liegt. Motiviert durch die Möglichkeit, ein Projekt ohne vordefinierten Auftrag zu realisieren und an die Bedürfnisse des Quartiers, das sie gut kennen, anzupassen, beginnen sie, ein Team um einen anfänglichen Kern von Nachbarinnen und Freunden aufzubauen: Julia Turpin, Architektin und Büropartnerin von Clara Simay, Mélanie Devret, Landschaftsarchitektin, und Yves Renaud, Direktor des Integrationsunternehmens Travail et Vie. Mithilfe von Strukturen, die im Zuge von Travail et Vie entstanden sind, darunter das soziale Immobilienunternehmen Réhabail und der Mieterverein Bail pour Tous, schmiedeten sie ein Projekt zur ganzheitlichen Betreuung von Menschen in prekären Lebenslagen. Die landwirtschaftliche Tätigkeit, die in der Ausschreibung des Projektaufrufs vorgeschlagen wird, erscheint ihnen dabei als «ein grossartiges Werkzeug zum Erreichen dieses sozialen Anliegens und zur Förderung einer Kreislaufwirtschaft»2. Sie passt zudem gut zur Petite Ceinture,3 einer Zone für Biodiversität und einem wichtigen Bestandteil im grünen Netz der Pariser Agglomeration.

Seit dem Zuschlag setzt sich das Kollektiv dafür ein, dass dieses Projekt durch Fachwissen und Erfahrungen aller Beteiligten bereichert wird. Das Sammeln von organischen Abfällen bei Geschäften in der Nachbarschaft begann bereits vor Baubeginn, um den Boden für den Anbau vorzubereiten und die ersten Substrate zu bilden. Die Ausbildung der zukünftigen Bewohner-Bauern begann ebenfalls schon vor dem Bau, wobei die Gemeinschaftsgärten der Rue de Meaux und des P’tit bol d’herbe als Testgelände dienen. Auf der Baustelle arbeiteten Handwerker aus Eingliederungsmassnahmen und «konventionelle» Handwerker Seite an Seite, wobei manchmal auch die Planenden selbst Hand anlegten. Auch Quartierbewohnende waren mehrfach auf der Baustelle zu Gast. Die Verwendung von Stroh für die Gebäudeisolierung bot die Gelegenheit, eine Partnerschaft zwischen einem Landwirt aus Sonchamp und Apijbat, einer Genossenschaft für solidarisches ökologisches Bauen in der Île-de-France, zu begründen. Die Herstellung von Möbeln, Sonnenschutz, Stützmauern oder Blumenkästen aus wiederverwendeten Materialien ermöglichte es außerdem, Handwerker aus der Region an der Verarbeitung von Bau- oder Veranstaltungsabfällen zu beteiligen.

Gemeinschaft auf allen Ebenen

Diese kollektive Dynamik der Ferme du Rail strahlt weit über ihre Parzellengrenze hinaus. Obwohl die Ferme relativ versteckt ist – man muss sich unter einen der Bögen der Petite Ceinture wagen, um sie zu erreichen –, ist sie weder ein geschlossener noch ein privater Ort. Mit ihrem Programm, das soziale Integration und urbane Landwirtschaft miteinander verbindet, gelingt es ihr auf eigene Weise, wieder «Verbindungen zwischen Paris und den landwirtschaftlichen Gebieten4 aufzubauen», bestimmte Alltagspraktiken neu zu erfinden und Menschen in fragilen Lebensphasen wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Die Landwirte in Ausbildung empfangen Besuchende bei sich zu Hause in der Ferme du Rail, arbeiten aber auch ausserhalb davon in den Gärten des Quartiers oder auf Partnerhöfen.

Die Räume, in denen dieser Austausch stattfindet, weisen verschiedene, genau kalibrierte und orchestrierte Grade der Gemeinschaft auf. Diese ermöglichen es, die Farm für alle zu öffnen, ohne dass diese Öffentlichkeit das Leben der Pflanzen oder der Bewohnenden beeinträchtigt. Fünf Bewohner betreten ihr privates Schlafzimmer von einem gemeinsamen Bereich aus Küche und Wohnzimmer aus, der als «Zwischenraum zwischen der Intimität des Zimmers und der Gemeinschaft der Farm»5 konzipiert ist. Im Laufe der Zeit hat sich der Austausch zwischen den Bewohnenden intensiviert und die Logik der Etagengemeinschaften nach und nach aufgelöst. So werden die vier Gemeinschaftsräume tendenziell von allen 20 Bewohnenden der Farm genutzt, darunter auch fünf Gartenbaustudierende.6

Der Hauptgarten der Ferme befindet sich am Fuss des Wohnhauses, an der Schnittstelle zwischen dem Haupteingang, dem Zugangsweg zur Petite Ceinture und dem zweiten Gebäude, das ein Gewächshaus, ein Restaurant und einen Gemeinschaftsraum im Erdgeschoss umfasst. In diesem Raum treffen sich die rund 20 Integrationslandwirte, ob sie nun auf dem Hof wohnen oder nicht, vor und nach jedem Arbeitstag mit ihren Betreuern und Betreuerinnen. Hier teilen sie ihre Mahlzeiten, auch wenn das Restaurant geschlossen ist, tauschen sich aus und organisieren die Aktivitäten auf dem Hof. Neben dem Gemüsegarten verfügt die Farm über eine Vielfalt an produktiven Flächen (Dachgärten, Permakulturen, Obstgarten, Pilzzucht, Gewächshaus), die eine möglichst umfassende Ausbildung in landwirtschaftlichen Techniken und eine ökologische und vielfältige Produktion ermöglichen. Die Optimierung der Produktion hat auch die Architektur des Ortes bestimmt, einschließlich der Ausrichtung und der Grösse der Gebäude.

Neben der Sammelstelle für Bioabfälle am Eingang der Ferme du Rail ist es vor allem das Restaurant, in dem die Begegnung zwischen den Bewohnern und der Öffentlichkeit stattfindet. Das Restaurant liegt direkt an der Petite Ceinture und ist einer der bevorzugten Zugangspunkte zum einzigen «wilden» Biodiversitätsgebiet der Hauptstadt. Seine Terrasse bietet ausserdem einen weiten Blick über die gesamte Ferme. Das Restaurant kocht mit den Produkten der Farm und stellt ein Menü zusammen, das auf die Produktion der Woche abgestimmt ist. Alle Bioabfälle kehren selbstverständlich zur Farm zurück. Dank dieser fruchtbaren Zusammenarbeit ist das Restaurant in der Lage, seinen Gästen, einschliesslich der Bewohner der Ferme, hochwertige und saisonale Lebensmittel anzubieten. Letztere kommen in den Genuss einer täglichen Mahlzeit, die in ihrem Mietvertrag enthalten ist und vom Restaurant serviert wird. In dieser Kantine werden die Versorgenden zu Versorgten und umgekehrt.

Interdisziplinär und vernetzt

Wenn Grand Huit gebeten werden, weitere städtische Bauernhöfe nach dem Vorbild der Ferme du Rail zu entwerfen, kommt es nur selten zu einem positiven Feedback. Die Kopie ist nicht nur unmöglich, sondern steht im Widerspruch zu dem, was die Schönheit der Ferme du Rail ausmacht: ihre Sensibilität für eine spezifische urbane Situation, in der soziale und ökologische Aspekte einen einzigartigen Berührungs- und Ankerpunkt finden. Etwas nördlich haben Grand Huit nach einem ähnlichen Verfahren eine ehemalige Eisenbahnhalle in einen Ort umgewandelt, welcher der nachhaltigen Mode und der verantwortungsbewussten Ernährung gewidmet ist. Das Ziel bleibt dasselbe – eine Vielfalt von Zielgruppen zusammenzubringen –, aber durch ein anderes Programm und ein anderes Netzwerk von Akteuren.7 In der Maison des Canaux im 19. Arrondissement koordinierten Grand Huit ein multidisziplinäres Team aus Integrationsfirmen, Handwerkerinnen und Designern. Gemeinsam haben sie die Baustelle zu einem Demonstrator für Zirkularität und Inklusion gemacht, indem beispielsweise 70 Prozent der verwendeten Baumaterialien wiederverwendet wurden.

Wenn es also etwas gibt, das man nachahmen sollte, dann ist es die Architektur der Verbindung, die am Ort verankert ist und lokale Dynamiken stärkt. Eine Architektur von und für Menschen, gebaut auf Vernetzung und Teilhabe.

Julia Tournaire (1987) ist Architektin und Stadtplanerin. Sie ist Mitgründerin des Palmyra-Instituts und Dozentin an der ENSA Bretagne. Ausserdem ist sie Mitherausgeberin der Zeitschrift Habitante.

Aus dem Französischen von Jasmin Kunst. Originaltext

1 Réinventer Paris ist ein Aufruf zur Einreichung innovativer städtebaulicher Projekte, der im November 2014 an Bauträger, Investoren und Planer aus der ganzen Welt gerichtet wurde und sich auf 23 Pariser Standorte bezog. Die Anfang 2016 ermittelten Gewinnerteams konnten die Grundstücke dann kaufen oder mieten, um städtische Experimente von bisher unbekanntem Ausmaß durchzuführen. Vgl. www.paris.fr (abgerufen am 19.9.2024).
2 Clara und Philippe Simay, La Ferme du Rail. Pour une ville écologique et solidaire, Paris 2022.
3 Die Petite Ceinture de Paris ist eine 32 km lange zweigleisige Eisenbahnlinie, die Paris innerhalb der Boulevards des Maréchaux umschliesst. In den 1990er Jahren wurde sie stillgelegt. Einige Abschnitte sind jedoch seit Kurzem wieder für die Öffentlichkeit zugänglich. Vgl. www.petiteceinture.org (abgerufen am 19.9.2024).
4 Clara und Philippe Simay, Paris 2022.
5 Die Unterkünfte waren Gegenstand von Co-Design-Sitzungen zwischen Architekten und Ausbilderinnen, um den Grad an Privatheit und Gemeinschaft zu ermitteln, der jedem Raum eigen ist. Es wurde sehr früh vereinbart, dass jeder Bewohner ein Einzelzimmer erhält, da die Ausbildung der Gemeinschaft schrittweise erfolgen sollte. Clara und Philippe Simay, Paris 2022.
6 Eine der Etagen wird von fünf Studierenden der Gartenbauschule Le Breuil, der EIVP oder der École Nationale Supérieure d’Architecture de la Villette bewohnt. Das ermöglicht, sie bereits während ihres Studiums für die Herausforderung der Einbeziehung von Menschen in grosser Armut zu sensibilisieren und gleichzeitig ein gewisses Mass an Durchmischung zu gewährleisten. Sie sind auch eingeladen, an den Aktivitäten auf dem Bauernhof mitzuarbeiten und so praktische Erfahrungen in der urbanen Landwirtschaft zu sammeln.
7 Grand Huit haben die Teilnahme einer Sozialeinrichtung, einer Modeschule und eines Textilunternehmens angefragt.

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