Paula Sansano, Michel Bonvin, Cedric Widmer (Bilder)
Ein überlegter Finanzierungsplan schenkt einem Wohnblock zahlreiche Gemeinschaftsflächen. Die Planenden entwickelten diese mit der Bewohnerschaft, so dass sie der lebendigen Wohngemeinschaft viele stimulierende Möglichkeiten bieten.
«Wenn du hier wohnst, frag nicht, was dein Haus für dich tun kann, sondern was du für dein Haus tun kannst.» Das ist ein typischer Satz für Laurent Guidetti, Architekt und Gründer von Tribu architecture. Er sagt ihn ganz ruhig, ohne Verweis auf Kennedys Inaugurationsrede aus dem Jahr 1961, als sei das eine offensichtliche Wahrheit, die hier im neuen Wohnhaus Le Bled allen vor Augen stehe. Christophe Gnaegi, sein Büropartner, ergänzt augenzwinkernd, dass auch Guidetti mit seiner Familie hier vor einem Jahr eine Wohnung bezogen hat. «Tribu» lässt sich am ehesten mit «Sippe» übersetzen. Aber ist der Name auch Programm?
Wenn damit gemeint ist, dass ein Architekturbüro das Kollektiv dem Einzelnen vorzieht, zu Zusammenarbeit und Teilhabe anstiftet und eine Architektur der Beziehungen schafft, dann ja!1
2010 gewann Tribu den Wettbewerb für den Masterplan des Ökoquartiers Les Plaines-du-Loup in Lausanne, ein 32 Hektar grosses, gemischtes und nachhaltiges Quartier, das 8 000 Einwohnende und 3 000 Arbeitsplätze beherbergen wird (vgl. wbw 10 – 2021, S. 30 – 31). 44 Prozent der Wohnungen haben regulierte, 28 Prozent subventionierte Mieten und 28 Prozent sind auf dem freien Wohnungsmarkt. 2011 initiierten sie die Gründung der Wohnbaugenossenschaft Le Bled und bewarben sich erfolgreich für die erste Bauträgerausschreibung im Plaines-du-Loup. Darin sieht Tribu eine Möglichkeit, den von ihnen vorgeschlagenen Städtebau 1:1 umzusetzen.
Durch die jahrelange Erfahrung in Sensibilisierungsprojekten an Schulen setzte das Architekturbüro auf einen integrativen Ansatz in Zusammenarbeit mit der zukünftigen Bewohnerschaft. Zudem basiert das Bled-Projekt auf Prinzipien der Nachhaltigkeit, Flächeneffizienz, sozialer Vielfalt, Solidarität und Geselligkeit. Denn das, so erzählt Guidetti, «sind die Dinge, die ein Haus wertvoll machen.» Le Bled schlug neben den Wohnungen mit regulierten Mietpreisen auch Eigentumswohnungen vor. Dieses ökonomische Argument sollte dafür sorgen, dass sowohl das soziale als auch das finanzielle Gleichgewicht im Projekt gewährleistet sind. «Wir kennen uns gut mit Excel-Tabellen aus und alles weitere lässt sich mit einem sorgfältigen Notar erarbeiten. Es ist eigentlich leichter, als man denkt. Alles ist eine Frage der Balance.»
Für das Projekt selbst wurde kein Wettbewerb ausgeschrieben, Tribu und Le Bled wollten gemeinsam mit der zukünftigen Nutzerschaft die Rahmenbedingungen definieren: Wer macht was wann? Indem alle Beteiligten ein Verständnis für die oft komplexen und starren Rahmenbedingungen baurechtlicher, normativer oder finanzieller Natur entwickeln, wächst das gegenseitige Vertrauen und ermöglicht einen fruchtbaren Dialog aller Akteure.
Um klare Aufgaben zuteilen zu können, brauchte es eine verständliche Organisationsstruktur. «Damit vermeiden wir eine Pseudopartizipation.» Eine echte Zusammenarbeit ist ausgewogen und klar. Alle verständigten sich auf ihre Rollen und konnten aus diesem Verständnis heraus ihr Fachwissen einbringen. Das hatte den Vorteil, dass von Anfang an ein Projekt mit rund 80 ausgewählten Interessierten entwickelt werden konnte. Statt sich mit einem starren, oftmals überladenen Raumprogramm auseinanderzusetzen, erklärten Tribu und Le Bled den zukünftigen Bewohnenden zunächst die städtebaulichen Prinzipien, nach denen ihr Projekt gemeinsam entwickelt werden sollte.
Vier didaktische Piktogramme zeigen auf, worauf sich diese Gruppe schon während des Vorprojekts geeinigt hat. Erstens: Sonne und Aussicht für alle! Von allen Küchen und Esszimmern aus gelangt man auf die hofseitig durchgehenden Balkone, die gleichzeitig als Brise-Soleil Schatten spenden. Zweitens: Die Wohnungen orientieren sich mindestens in zwei Himmelsrichtungen. Dort, wo dies nicht einzuhalten ist, werden diese Kleinstwohnungen an guter Südlage angeordnet. Drittens: Alle Wohnungen haben einen direkten Bezug zum begrünten Innenhof. Und viertens: Jeder Haushalt lebt anders, also muss sich diese Vielfalt natürlich auch in den Wohnungen widerspiegeln.
Aus diesen einfachen Grundsätzen hat Tribu eine Sammlung zukünftiger Wohnungstypen erarbeitet. Im «Cahier des Typologies» tragen die Wohnungen Namen wie «el pueblo unido» (spanisch: das vereinte Volk), was bei einer zwölf Personen umfassenden Clusterwohnung vielleicht als Symbol des Widerstands gegen Vereinzelung verstanden werden könnte. Der «Blues Brothers»-Typ für vier Personen indes erstreckt sich über die gesamte Gebäudetiefe. Das zweigeschossige Wohnzimmer im Nordosten ist ein Luxus, dem sie sich laut Christophe Gnaegi selten hingeben, der die übertiefe Wohnung aber gut ausleuchtet. Nicht selten lässt sich ein Wohnungstyp durch das Weglassen einer Wand oder das Öffnen einer zusätzlichen Tür zum Treppenhaus neu organisieren. Kleine Randnotizen begleiten die Grundrisse und Illustrationen, damit die Eigenheiten der Wohnungstypen für alle verständlich werden. Mit wenigen Anpassungen konnten alle zwölf Typologien realisiert werden.
Auf 10 860 Quadratmetern und neun Stockwerken sind 77 Wohneinheiten organisiert. «Der Gemeinschaft stehen rund 800 geschenkte Quadratmeter zur Verfügung», so nennen die beiden Architekten die Gemeinschaftsflächen. Geschenkt? Ein ausgeklügelter Finanzplan ermöglicht eine Umverteilung der Mittel. Ein Beispiel: Für die Eigentumswohnungen wird ein höherer finanzieller Anteil an Gemeinschaftsflächen (20%) angesetzt als für die gemeinnützigen Wohnungen (5%). Das heisst, die Eigentümerinnen und Eigentümer bewohnen jeweils 100 von 120 bezahlten Quadratmetern. Die verbleibenden 20 Quadratmeter werden der Gemeinschaft zur Verfügung gestellt. Die unterschiedlichen Kategorien, aus denen sich der Finanzplan zusammensetzt, ermöglichen es, ein wirtschaftliches Gleichgewicht und Solidarität zwischen jenen Nutzungen zu finden, die Geld kosten, und solchen, die Geld einbringen. Co-working-Büros, eine Praxis für Gynäkologie und eine für Physiotherapie sowie ein Bioladen bilden die gewerblich genutzten Flächen.
Den geschenkten Flächen begegnen wir an der Bar, im Mehrzwecksaal, im Gemeinschaftswohnzimmer, der Werkstatt, im Hol-und-Bring-Raum oder in den hauseigenen Hotelzimmern. «Wir wollten zudem einen Raum fürs Lärmen bauen», sagt Laurent Guidetti. Dieser befindet sich heute gleich neben dem Velokeller im Sous-Sol und beherbergt ein Schlagzeug und gleich mehrere E-Gitarren und ist akustisch gut abgeschirmt. Eine Band soll sich schon formiert haben, erzählt Laurent Guidetti. Auf der Gemeinschaftsterrasse gedeiht ein Gemüse- und Früchtegarten, die Bewässerung erfolgt über Regenwassertanks. Hier wird gemeinsam geerntet, gekocht und gefeiert, über alle Stockwerke hinweg werden Geburtstagslieder angestimmt. In der Aussenküche soll demnächst ein Brotofen gebaut werden. Ein Bewohner aus dem «pueblo unido» hat das schon einmal gemacht und stellt Wissen und Tatkraft zur Verfügung.
In rund 19 Arbeitsgruppen beteiligt sich die Bewohnerschaft aktiv am Alltag im Le Bled. Ziel der Arbeitsgruppen ist es, Gemeinschaftsräume zum Leben zu erwecken und Projekte auf Nachbarschaftsebene zu entwickeln: Konzerte, Theater, Kindergruppen, landwirtschaftliche Genossenschaft, gemeinsame Mobilität, Filmclubs etc. Derweil kümmert sich ein Concierge um die Anliegen der Bewohnenden, begrüsst Besuchende und erledigt die Hauswartung. Die Reinigung des Hauses wird einem Team von neun Menschen mit geistiger Behinderung anvertraut. Deren Betreuerinnen und Betreuer haben ihren Arbeitsplatz im Biotope-Coworking im Erdgeschoss, in dem auch Tribu arbeitet. Sie nutzen einen gemeinsamen Pausenraum – auch wir, während wir unser Gespräch führen.
Überhaupt scheinen die beiden Architekten mehr über das Leben und Arbeiten im Le Bled sprechen zu wollen als über den Städtebau oder Konstruktionsdetails. Letztere sind solide und durch den einfachen Unterhalt langlebig. Die Strassenfassade ist aus vorgefertigtem Beton, die Hoffassade ein vorfabrizierter Holzelementbau, aus einheimischer Lärche gefertigt. Keine Neuerfindung, warum auch, wenn es sich bewährt hat? Die Aufmerksamkeit gilt der gelebten Architektur: Wie breit muss ein Balkon wirklich sein, damit ein Esstisch gut daraufpasst? Die Staketengeländer sind mit 1 Meter 10 höher als nötig, aber bei acht Obergeschossen machen sie die Balkone sicherer. Die zugezogenen, hellblauen Aussenvorhänge sollen den Kindern beibringen, dass trotz durchgehender Balkone die Nachbarn ab und an Ruhe und Privatsphäre brauchen.
Eine Neuheit, die Tribu hier testet, sind wassersparende Trockentoiletten. Den Prototyp zeigt mir Guidetti direkt in seiner Wohnung. Die Arbeitsgruppe der Regenwassersammler, ein Bottom-up-Ansatz, bei dem alle selbst ein Behältnis an ihr Dachwasser-Fallrohr installieren, ist sichtlich erfolgreich. Der DIY-Regenwassersammler hat sich auf vielen Stockwerken durchgesetzt.
«Was fragen wir wann und wie integrieren wir die Antworten?» So erklärt Christophe Gnaegi schliesslich, dass das richtige Timing ein entscheidender Faktor bei ihrem partizipativen Ansatz ist. «Keine Regeln ohne Testlauf. Wenn sich etwas bewährt, leiten wir eine Regel ab, vielleicht. Entschieden wird jedenfalls später.» Die Suche nach Balance ist mit der Fertigstellung des Hauses nicht zu Ende. Guidettis Sehnsucht nach Selbstwirksamkeit ist keine, die sich je erschöpft.
Paula Sansano (1972) ist Architektin und Kuratorin. Sie führt seit 2013 das Architekturbüro Studio Sansano in Bern. Seit 2016 leitet sie den Affspace – Offspace für Architektur, einen Projekt- und Ausstellungsraum für Kunst und Architektur in der Berner Altstadt
1 Vgl. www.tribu-architecture.ch/tribu/presentation/ (zuletzt aufgerufen 25.9.2024).
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