Roland Züger, Eik Frenzel (Bilder)
Am dunklen Waldrand im Pérolles-Quartier steht ein schneeweisses Haus. Seine zeitlose Anmut lässt den Betrachter im Unklaren. Erst im Inneren entfaltet es seinen Reichtum. Ein experimentelles Spiel in einem Grundriss ohne Korridor, das ungeahnte Perspektiven eröffnet.
An der bröckligen Gartenmauer, die das üppige Grün kaum im Zaume halten kann, empfängt mich ein Haus mit schlank aufragender Front. Ein kleines Haus, denke ich auf den ersten Blick, ein banales Baulinienprojekt. Erst beim genauen Hinsehen entdecke ich die Raffinesse. Das liegt nicht an den konstruktiven Details, einer klugen Farbgestaltung oder der ausschweifenden Erschliessung, im Gegenteil: Die Oberflächen sind alle weiss getüncht, egal welches Material die Farbe trägt; es gibt nur ein einziges Fensterformat – in französischer Manier, wie bei den Perret-Schülern hier in Freiburg üblich – und selbst die Treppe ist vom Bestand übernommen. Wie ein Werk ohne Autor vermittelt sich mir der Entwurf als von engen Prämissen bestimmt: dem Druck des Budgets, dem Baurecht und den Brandschutzregeln. Es dabei zu belassen wäre nicht falsch, nur würde man gerade das Wesentliche am Haus von Aviolat Chaperon Escobar Architectes aus den Augen verlieren. Zurück zum Anfang also.
An der bröckligen Gartenmauer, die das üppige Grün kaum im Zaum halten kann, empfängt mich ein Haus mit schlank aufragender Front. Eine Front wie der Bug eines Schiffs, hier im Meer der Vorstadt, am Rand des Pérolles-Quartiers in Freiburg. Gegliedert allein durch drei, vier zarte Gesimse. Trete ich wenige Schritte zur Seite, tragen diese feinen Bänder meinen Blick in die Tiefe. Von der Seite offenbart sich ein gewandt gestufter Baukörper, der seine Glieder zu recken scheint wie ein Teleskop. Unschwer zu erkennen: Seine optische Kraft verdankt der Bau der wohlkalkulierten Wirkung der Perspektive, unterstrichen von eben den Gesimsen, die meinen Blick zum Fluchtpunkt leiten. Dabei gibt der Bau eigentlich nur wenige Informationen preis. Seine weisse Oberfläche unterdrückt Tektonik und Hierarchie, um die Ambivalenz zwischen Volumenspiel aus Körpern oder einem gefalteten Gewand in der Schwebe zu halten. Man fühlt sich an die Casa della Meridiana (1924–25) von Giuseppe de Finetti in Mailand und dem Haus in Wien erinnert, das Paul Engelmann für Margarethe Stonborough-Wittgenstein, die Schwester des Philosophen, 1926–28 errichtet hat. Ob Mailand oder Wien – in Freiburg steckt jedenfalls eine Menge Loos. Beispielsweise im «schweigsamen Äusseren», das in seiner weissen Banalität zur Leinwand wird. Auf seiner Oberfläche wechselt mit dem Licht auch ständig die Tönung, unterstützt vom Farbenspektrum der Bepflanzung im Vorgarten.
Schreitet man die Gartenmauer entlang, so nimmt das Schattentheater auf der hellen Hauswand seinen Lauf: Die teils mächtigen, alten und unter Schutz stehenden Bäume haben ihren grossen Auftritt. Das Haus wird zum Hintergrund für dieses Schauspiel.
Von hinten erreiche ich das Treppenhaus und stehe im Nu in einer der vier Wohnungen, die sich jeweils über eine ganze Etage erstrecken. Was sich aussen als geschickte Tiefenstaffelung des Volumens präsentiert hat, findet im Inneren eine Entsprechung: Dank einer Enfilade durchmisst mein Blick die Tiefe des Grundrisses bis zum Fenster an dessen Ende. Die Augen des Besuchers geraten unweigerlich in den Bann der Tiefenwirkung, die durch die hintereinander angeordneten Rahmungen entsteht. Sie erzeugen einen regelrechten Sog in die Tiefe. Ein Blick auf den Grundriss verrät: Das Raumkonglomerat wird eigentlich von zwei Enfiladen aufgespiesst, die jeweils in Morgen- oder Abendlicht getaucht sind. Dadurch entstehen Momente der Weite und Grosszügigkeit sowie die Suggestion von Überblick.
Wie ein Sehapparat bringen die beiden Enfiladen sämtliche Räume miteinander in Beziehung, den hintersten mit dem vordersten, was einer ständigen Anpassungsleistung der Augen bedarf – ähnlich, wie wenn der Autofokus einer Kamera den Halt nicht findet. Aufgrund der teleskopischen Komposition verlaufen die Enfiladen schräg – die Türen liegen gleichwohl immer in der Mitte der Wände. Dies verstärkt den szenografischen Effekt der in die Tiefe gestaffelten Wände, die wie die Seitenkulissen einer Bühne erscheinen. Doch in diesem Bühnenbild hat das Leben seinen Auftritt.
Das Raumsystem selbst weist kaum eine Hierarchie auf und erscheint dadurch weit entfernt von einem bourgeoisen Villen-Grundriss oder dem Schlossbau, aus dem die Enfilade ursprünglich stammt.1 Vom grössten (18 m²) zum kleinsten Raum (10 m²) besteht nur wenig Unterschied. Sämtliche Räume sind zu allen Seiten hin mit Öffnungen versehen, was ein homogenes Raumkontinuum erzeugt. Beinahe. Denn die Haustechnik schnürt den Spielraum ein wenig ein; die Lage von Küche und Bad sind fixiert, aber wie man jeweils in diese Räume gelangt, bleibt offen. Das erschwert das Herstellen einer abgestuften Skala der Privatheit, wie man das aus dem Schlossbau kennt und die dort mit einem Zeremoniell verbunden ist.2
Wenn im Zürcher Wohnungsbau vor zwanzig Jahren die zweite Zimmertür als Rundlaufmöglichkeit propagiert wurde, so ist in Freiburg ein veritables Wegnetz ausgelegt.3 Es ist ein Lehrstück des nutzungsneutralen Grundrisses, in dem die Architekten das konventionelle Zusammenspiel von Privat und Gemeinschaft hinterfragt haben – wenngleich man zugeben muss, dass es sich auf 165 (obere Wohnungen) respektive 185 Quadratmetern (untere) in jedem Fall sehr entspannt leben lässt.
Wie jedes Wohnexperiment ist auch dieses Haus seinen Bewohnenden eine Herausforderung, die ihnen Fantasie abverlangt. Der Architekt Sébastien Chaperon weiss, wovon er spricht, denn er ist selbst mit seiner Familie eingezogen. Er betont, dass erst die Bewohnenden durch ihren Gebrauch die Festlegungen treffen. Sie bestimmen wie bei einem Setzkasten, in welcher Art die Räume genutzt werden und in welcher Zuordnung sie zueinander stehen. So ist auch in Chaperons Wohnung in mancher Tür nun ein Bücherregal montiert, weil die Stellfläche im aktuellen Lebensabschnitt wichtiger ist. Auch das lässt der Grundriss zu.
Seine Familie wollte keinesfalls aufs Land ziehen, und so hatte Chaperons Frau das bürgerliche Haus aus den 1930er Jahren gekauft. Mit der Vorstellung, grosse Wohnungen für Familien in der Stadt zu schaffen, ist die Idee für die Erweiterung und Aufstockung als Projekt der Architekten auf eigene Faust entstanden. Die drei anderen Etagenwohnungen sind mittlerweile verkauft. Die Dachterrasse und der Garten ums Haus bleiben jedoch allen zugänglich. In der légèren Atmosphäre der Wohnung der Chaperons mit ihrer bunten Auswahl an Möbeln, aus Erbschaft oder vom Flohmarkt, spiegelt sich am besten das Verständnis der Architekten für den Grundriss und die Möglichkeiten seiner Bespielung. Ihnen stand eine unaufgeregte Architektur vor Augen, die sich nicht in den Vordergrund drängt, sondern den Bewohnenden die Bühne überlässt.
1 Abgesehen von Geheimkorridoren und Hofumgängen vermutet Stephan Trüby den wohl «frühesten Dienerschaftskorridor in der Geschichte der Architektur» im Piano Nobile im 1466 errichteten römischen Palazzo Venezia, den Francesco del Borgo für Papst Paul II. gebaut hat. Darin taucht gleichzeitig auch erstmals dessen «Konkurrentin» auf, die Enfilade. «Die repräsentative Türenfolge perforiert alle Räume aussermittig, nämlich unmittelbar neben den Fenstern. Der Papst konnte, während er entlang der Enfilade auf seiner Sänfte von den Privatzimmern in die grossen Audienzsäle getragen wurde, schon aus der Ferne wahrgenommen werden.» Vgl. Stephan Trüby, Geschichte des Korridors, Paderborn 2018, ab S. 69–70.
2 Georg Satzinger, Marc Jumpers (Hg.) Zeremoniell und Raum im Schlossbau des 17. und 18. Jahrhunderts, Münster 2017.
3 Kreuzförmig erschlossene Kammergrundrisse haben wir mehrmals im werk besprochen. Vgl. das Wohnhaus in Cornellà de Llobregat (Barcelona) von Peris Toral in: wbw 10–2021, S. 64 sowie ein Haus in den Pyrenäen von Eric Lapierre in: wbw 6–2015, S. 22