Am Welterbe weiterbauen

Erneuerung der Schneegalerien auf Alp Grüm von Conzett Bronzini

Lucia Gratz

Mit dem Ersatz dreier Galerien ist der Winterbetrieb der Berninabahn auf lange Zeit gesichert. Die Weiterentwicklung der konstruktiven Idee der Bauwerke trägt auch zum Erhalt der Welterbe-Landschaft bei.

Es ist kein neuartiger Umgang mit dem Boden, den die Ersatzbauten der Schneegalerien auf Alp Grüm repräsentieren. Das Churer Ingenieurbüro Conzett Bronzini schreibt damit konstruktive Überlegungen aus den Vorgängerbauten fort und integriert Anforderungen, die unsere Gesellschaft heute an diese Bauwerke stellt. Nüchtern zusammengefasst ging es darum, die schadhafte Betonkonstruktion der drei Galeriebauten bei laufendem Betrieb zu erneuern, aus Sicherheitsgründen deren Lichtraumprofil zu vergrössern und die neuen Bauteile nach heute geltenden Vorgaben zu konstruieren. Der Eingriff in den Boden beschränkte sich während der fünfjährigen Bauzeit auf die Ränder der Linienbauwerke. Talseits wurden die Stützenfundamente neu erstellt und bergseits mit der Erhöhung der Stützmauer aus Naturstein die Entwässerung verbessert.

Betrachtet man die Galerien jedoch als Teil eines grösseren Zusammenhangs, geht es um mehr: Unter dem Zeichen des Erhalts durch Erneuerung schreibt die Rhätische Bahn ihre Präsenz in der hochalpinen Bergwelt fort. Dadurch nimmt sie ihren UNESCO-Welterbe-Auftrag wahr, der die Wahrung von Charakter und Erscheinungsbild der Strecke und ihrer Bestandteile vorsieht. Damit verbunden ist auch die Wahrnehmung der Landschaft entlang der Bahnroute.

Furchen im Hang

Die 1910 erbaute Berninalinie, ursprünglich als schmalspurige, elektrifizierte Sommerbahn mit geringem Budget angelegt, unterscheidet sich von der weniger steilen und mit grösseren Radien operierenden Albulalinie. In ihrer Inszenierung der Landschaft bescheidener, schlängelt sie sich 61 Kilometer lang über die Hochebene der Passlandschaft, bevor sie in engen Kehren ins Puschlav hinunterklettert und in Tirano endet. Mit weit weniger Kunstbauten ausgestattet, zieht sie dennoch einige beachtenswerte Furchen in die Landschaft. Einer der bekanntesten Streckenabschnitte ist Alp Grüm: Das Trassee entlang der exponierten Kuppe des Prü dal Vent zu legen, bedeutete grössere Gefahren durch Schneeverfrachtungen und Lawinen, aber auch ein grandioses Landschaftserlebnis – hier der weite Blick ins Bündner Südtal, dort der Gigant Piz Palü. So investierte das Bahnunternehmen neben dem Bau des Trassees auch in Lawinenverbauungen. Die finanzielle Übernahme der Berninalinie durch die besser aufgestellte Rhätische Bahn ermöglichte 1949 den Bau der beiden Schneegalerien Palü sotto und Palü sopra. Ein Lawinenunglück war 1952 der Auslöser für die Erstellung der obersten Galerie Grüm. Hans Conrad, der Oberingenieur der Rhätischen Bahn, wählte damals eine typisierte Konstruktion aus leichten, vorfabrizierten Betonelementen mit im Spannbettverfahren hergestellten Deckenrippen, die man vor Ort mit einem Überbeton untereinander verband. Neben den ökonomischen Gründen war auch die durchdachte konstruktive Lösung entscheidend: Das Rahmensystem erwies sich als statisch leistungsfähig, und mit den Rippendecken liess sich Material einsparen. Trotz der Filigranität ihrer Elemente, sind die Bauwerke – damals wie heute – in der Landschaft präsent: Mit klarem Rhythmus durchschneiden sie den «Palühang» dreimal leicht schräg in seiner gesamten Breite. Sie unterbrechen dessen Vegetation und Morphologie mit rationalem Ausdruck, begleitet von Schwerkraftmauern aus Bruchstein im Rücken der Schutzbauten, befestigten Böschungen, einer älteren Eisengalerie und dem aus dem Fels gehauenen Kehrtunnel Palü.

Topografie wird zu Kilowattstunden

Was der Architekt Nicolaus Hartmann jun. wohl dazu gesagt hätte? Bis zum Bau der Schneegalerien prägten seine Hochbauten diesen Streckenabschnitt der Berninalinie. Mit dem Stationsgebäude Alp Grüm von 1923 und der Kraftwerkszentrale Palü von 1927 rahmen zwei seiner wichtigsten Bauten den Hang entlang der Strecke. Im Heimatstil errichtet, verweisen sie auf eine wichtige Strömung in der Architektur zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Eine zentrale Rolle spielte dabei die Einbettung der neuartigen Technik in die Landschaft und eine Verbindung neuer Bauaufgaben mit Bauformen, die vertraute Bilder weckten.

Hartmanns Zentrale Palü gleicht einer Burg, wie sie in einem der Nachbartäler auf einem Felssporn stehen könnte. Scheinbar zufällig gesetzte Fenster im festungsartigen Bau suggerieren Wachstum über längere Zeit anstatt einer abgeschlossenen Planung. Wo man hinter einem grossen Fenster den Rittersaal vermutet, steht in Wirklichkeit die Turbine. Darunter reicht die Kraftwerksanlage dreissig Meter tief in die Erde. Eine dicke, unterirdische Druckleitung kommt hier vom 300 Meter höher gelegenen Passstausee Lago Bianco an, eine weitere führt steil in einem Stollen 200 Meter nach unten zur Zentrale Cavaglia. Die Kraftwerksbauer sahen in der Topografie Kilowattstunden, Gletscherwasser lieferte die scheinbar nie versiegende Energiegarantie. Vom Berninapass bis zum Puschlaver Talboden ist die Landschaft durchwirkt mit Technik zur Energiegewinnung und für den Energietransit mit Fernleitungen, die sich über die Bergflanken spannen. Was man heute in der Landschaft als eigenständige Bauten und Strukturen liest, gehörte ursprünglich funktional eng zusammen, stillte doch die regionale Nutzung der Wasserkraft anfänglich den grossen Energiehunger der Bahn.

Effizienz und Sensibilität

Die Galerien am «Palühang» sind nicht aus schwerem Bruchstein gemauert. Luftig und filigran wie Touristenbusse der 1950er Jahre vermittelten sie Reisenden das Gefühl, unmittelbar Teil der Landschaft zu sein. Auch heute nimmt man vom Zug aus lediglich das rhythmische Vorüberziehen der Stützen als minimalen Eingriff in die Aussicht wahr, während im Hintergrund der Palügletscher in seiner monumentalen Erscheinung ruht.

Conzett Bronzini Ingenieure orientierten sich für den Ersatzbau nicht nur am Ausdruck der bestehenden Galerien, sondern machten sich auch die konstruktive Logik dahinter zunutze. Wie damals fiel die Wahl talseits auf ein Rahmensystem. Heute läuft es ohne schadensanfällige Dilatationsfugen mit einem gleichmässigen Stützenabstand durch. Um Bewegungen im Bauwerk aufzunehmen, gibt es eine Bewehrung, die Schwindrisse feinverteilt. Auf den ersten Blick scheint auch die Stützenform ähnlich. Anders ist jedoch, dass die vorgefertigten Betonstützen nun unten quer zum Gleis breit sind, um die Anprallsicherheit zu gewährleisten.

Die Idee materialsparender Rippendecken war auch heute sinnvoll, diese wurden in Ortbeton erstellt. Die bestehende Galerie diente dabei als Lehrgerüst, um darauf die Betonschalung abzustellen. Nach dem Aushärten brach man die alte Konstruktion von unten ab und transportierte sie zusammen mit der Schalung auf Bahnwägen ab.

Wenn Gianfranco Bronzini von Purismus spricht, meint er einen Ausdruck, der sich an statischen Kräften orientiert und sie abbildet. Dieser ist nie opulent oder beliebig. Kräfteverlauf und Formwille gehen Hand in Hand, wenn die Unterzüge neu in der Mitte eine Verjüngung haben und die Stützenform doppelt trapezoid ist. In der Tradition der gestaltenden Ingenieure
der Bahn-Pionierzeit, sind für Conzett Bronzini die Effizienz der Mittel und die Sensibilität für die umgebende Landschaft massgebend. Waren früher die Verwendung lokaler Materialien und eine handwerkliche Machart wichtige Ausdrucksmittel, um Gebäude in die Landschaft einzupassen, ist es für sie etwa die Wirkung einer rauen, saugfähigen Bretterschalung, um Farbton und Oberfläche des Betons an das Gestein der Umgebung anzugleichen.

Landschaft in Bewegung

Die Landschaft, so wie sie vor mehr als hundert Jahren mit ihren drei Grundpfeilern Tourismus, Bahn und Wasserkraft entworfen wurde, ist ungebrochen gültig. Zum Welterbe geadelt, spielen Topografie und Wahrnehmung darin eine wichtige Rolle. So ist der Ersatz der Schneegalerien auf Alp Grüm auf einer Höhe von 2100 Metern über dem Meer ein Beitrag zum Erhalt und zum Ausbau dieser Kulturlandschaft – in der, längst vertraut, Infrastruktur und Technik ihren festen Platz haben. Die Rhätische Bahn trägt dazu bei, indem sie – wie auf der Albulalinie – Tunnelröhren neu sticht oder weiter ausbricht, Brücken in Teilen erneuert oder auch Lawinenverbauungen unterhält. Die Energiebetreiber von Repower bauen im Puschlav weiter, indem sie Druckleitungen mit optimierten Querschnitten verlegen und effizientere Turbinen einbauen, um noch mehr Energie aus der Gunst der Topografie zu schöpfen. Als dritte Kraft formt der Tourismus die Landschaft und vor allem unsere Wahrnehmung davon. Auch heute beeindruckt eine Reise mit dem Berninaexpress durch das Landschaftserlebnis einer kargen Bergnatur. Wenn auch eingeschneite Züge, wie in den Pionierjahren der Bahn, heute selten sind, so ist es das stille Abenteuer, Zeugin eines historischen Gletscherschwunds zu sein. Als meistfotografiertes Sujet auf Alp Grüm ist mit dem Palügletscher auch sein Abschmelzen dokumentiert. Der schleichende Wandel offenbart unser indirektes Einwirken hin zu einer neuen Dimension des Eingriffs in die Landschaft.

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