Anna Puigjaner im Gespräch mit Jasmin Kunst und Lucia Gratz
Die alternde Gesellschaft und die Krise der Pflegeberufe sind Herausforderungen der Gegenwart, die auch die Architektur angehen. Wir sprachen mit der katalanischen Architektin und ETH-Professorin Anna Puigjaner darüber, welche räumlichen Potenziale sich auftun, wenn wir Care-Arbeit gemeinschaftlicher denken.
wbw Als Partnerin im Architekturbüro Maiobefassen Sie sich mit sozialen Fragen, an der ETH Zürich sind Sie seit 2023 Professorin für Architektur & Care. Woher kommt Ihr Interesse für diese Themenfelder?
Anna Puigjaner Ich habe an der ETSAB in Barcelona studiert, eigentlich eine hervorragende Hochschule. Wohnungsbau wurde aber oft auf die optimale Anordnung von Räumen im Grundriss reduziert, die Positionierung eines Volumens im Kontext. Es gab keinen kritischen Blick auf die sozialen Konstrukte dahinter, die Rolle von Gender oder Care-Arbeit. Dank Professor Xavier Monteys begann ich mich mit dem Thema der Häuslichkeit, der Domesticity, zu beschäftigen. Die argentinische Architektin und Professorin Zaida Muxí, für die ich nach dem Studium arbeitete, hat mich in das Feld der Gender Studies herangeführt. Da habe ich gemerkt, dass es in unserer Disziplin noch viel zu tun gibt.
wbw Welchen Zusammenhang sehen Sie zwischen Care-Arbeit, Gender und Architektur?
Puigjaner Wir erleben gerade eine Krise der Care-Arbeit. Krisen kommen in der Geschichte immer wieder vor und jedes Mal reagiert auch die Architektur darauf. Manchmal kann sie soziale Ungleichheiten abbauen, manchmal aber verstärkt sie auch die bestehenden Hierarchien. Architektur ist nie neutral. Sie ist ein strategisches Mittel, um Machtverhältnisse in einer Gesellschaft zu definieren. Während der ersten industriellen Revolution begann man zunehmend Wohn- von Arbeitsräumen zu trennen. Darüber hat eine Gruppe von Feministinnen, unter ihnen Silvia Federici und Mariarosa Dalla Costa, in den 1970er und 1980er Jahren viel geschrieben und publiziert. Mit der Auslagerung der Lohnarbeit wurde die zuhause verbleibende Care-Arbeit isoliert, verlor mit der fehlenden Sichtbarkeit auch ihren sozialen und ökonomischen Wert. Zudem hatte der Wohnungsbau des 20. Jahrhunderts die Kleinfamilie im Fokus. Diese spiegelt sich in typischen Wohngrundrissen wider: Der Raum etabliert bestimmte Hierarchien und Verhaltensweisen, bereits innerhalb der Familie. Heute leben in der Schweiz effektiv weniger als 30 Prozent der Menschen in solchen Kleinfamilien – 40 Prozent leben allein. Wohnungen und Demografie stimmen nicht mehr überein.
wbw Wie sollten wir Wohnungen gestalten, um dieses Missverhältnis zu korrigieren?
Puigjaner Kürzlich haben wir mit unserem Büro Maio einen Wohnungsbau in Sant Feliu de Llobregat, Barcelona fertiggestellt. Dieser beruht auf einem hierarchielosen Grundriss. Alle Räume haben eine ähnliche Grösse, das häusliche Programm ist also nicht vorbestimmt. Das Schlafzimmer, ja sogar die Küche, lässt sich flexibel positionieren. Das ist inklusiver und lässt vielfältige Familienmodelle und Lebensentwürfe zu. Diesen Wohnungsgrundriss haben wir aber nicht neu erfunden, er ist eine Art Reenactment einer Typologie des 19. Jahrhunderts. Eine Wohnung aus Räumen ähnlicher Grösse – mit zweiseitiger Orientierung zum Querlüften – war üblich in Spanien. Das Schlaf- und Wohnzimmer wurde getauscht, je nach Jahreszeit. Dass Form und Funktion unmittelbar zusammenhängen, ist ein Konstrukt der Moderne. Das versuchen wir aufzubrechen. Die Form sollte keine besondere Funktion erfüllen, sondern Möglichkeiten zur Aneignung eröffnen.
wbw Sprechen wir etwas allgemeiner über den Begriff Care: In der Vorbereitung für diese Ausgabe gab es in der Redaktion rege Diskussionen, was Care-Architektur überhaupt ist. Es geht dabei ja um viel mehr als um das Entwerfen von Alterszentren oder Spitälern.
Puigjaner Der Begriff Care wird in unserer Disziplin in letzter Zeit so oft verwendet, dass er seine Bedeutung zu verlieren droht. Ähnlich wie beim Greenwashing sprechen wir am Lehrstuhl vom Phänomen Carewashing. Wir bleiben dem Begriff gegenüber kritisch. Er darf nicht zu einem Verkaufsslogan werden, ohne die Absicht, die Art und Weise, wie wir Dinge tun, zu ändern. Für uns hat Care mit allen Tätigkeiten zu tun, die nötig sind für das tägliche Leben: von der Körperpflege über das Wäschewaschen, auch das Kochen, Essen und Putzen, bis hin zur Einnahme von Medikamenten. Es geht um die Selbstfürsorge, aber auch um die Pflege anderer. Wenn wir also über Care-Architektur sprechen, meinen wir alle Räume, in denen diese Tätigkeiten stattfinden. Leider sind diese oft auf die private Wohnung reduziert.
Das Gesundheitssystem baut darauf auf, dass Familienangehörige Pflegeaufgaben übernehmen. Doch die Familien von heute leben oft gar nicht mehr zusammen. Wenn wir ein System und Räume hätten, die uns unkompliziert bei der täglichen Selbstfürsorge unterstützen, würde das unser Gesundheitssystem, unsere Spitäler und Pflegeeinrichtungen entlasten.
wbw Warum hat die ETH Zürich einen Lehrstuhl für Architecture and Care geschaffen? Hat sich das Bewusstsein für das Thema geändert oder erfordern es die Umstände jetzt im Besonderen?
Puigjaner Seit einiger Zeit gründet das Architekturdepartment Lehrstühle zu bestimmten Themen, um Wissenslücken und Leerstellen in der Forschung zu schliessen. Es gab den Wunsch, die Gesundheitswissenschaften mit der Forschung zum Raum und der gebauten Umwelt zu verbinden. Zunächst war die Rede von einem Fokus auf Architektur von Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen. In der Diskussion erweiterte sich das Feld. Wir arbeiten in einem weiteren Sinn am Thema Care. Es geht darum, Gender Studies und Architektur zu verbinden und um die Arbeit am menschlichen Körper, im kleinen und grossen Massstab.
wbw An welchen Themen und Typologien untersucht ihr das mit euren Studierenden konkret?
Puigjaner Letztes Semester arbeiteten wir zum Thema Building Pleasures. Es ging darum, Räume der Sinnlichkeit und des Vergnügens für eine alternde Gesellschaft zu entwerfen. Wir sehen es sehr kritisch, wie dies heute geschieht. Wir neigen dazu, ältere Körper zu entsexualisieren, obwohl es erwiesen ist, dass ein sinnliches und genussvolles Leben auch in späteren Lebensphasen einen enorm positiven Einfluss auf unsere Gesundheit und unser Glücksempfinden hat. Ein Beispiel: Warum sind Orte des Vergnügens, Technoclubs zum Tanzen etwa, oft nur jungen Menschen vorbehalten? Bezogen auf eine Pflegeeinrichtung, geht es in diesem Zusammenhang oft um das Thema Privatheit. Wie können wir Räume entwerfen, wo ältere Menschen erfüllt und lustvoll leben, ohne das Gefühl zu haben, etwas falsch zu machen? Wir befassen uns auch mit Ageism, den Vorurteilen gegenüber dem Alter. Das geht in beide Richtungen. Um beim Beispiel zu bleiben: Wir nehmen oft an, dass der junge Körper aktiv ist und bis fünf Uhr morgens tanzen will und ein alter Körper Ruhe braucht. Überhaupt stehen wir dem Begriff Alter kritisch gegenüber. Er ist eine soziale Konstruktion. In unserer Gesellschaft gilt man ab 65 als alt, also ab dann, wenn man keine Lohnarbeit mehr leisten muss oder kann.
wbw Wie zeigen sich diese Vorurteile gegenüber dem Alter in der Architektur?
Puigjaner Die gebaute Umwelt teilt Körper ständig ein. In solche, die Zugang haben, und solche, die keinen Zugang haben; solche, die etwas können oder nicht können. Schauen wir einmal Wohnhäuser an, die keinen Lift haben. Oft fehlt dafür der Platz, ich weiss. Wir müssen also kreativ sein, wenn es darum geht, unsere Umgebung zu transformieren, ohne Bestand abzubrechen. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir Abhängigkeiten verringern und positiver besetzen können.
Ein grosses Thema bei älteren Menschen ist zum Beispiel das Duschen zuhause. Wenn eine Person dies nicht mehr allein tun kann, kommt zur Unterstützung jemand Fremdes in die Wohnung. Bereits das ist ein Akt der Gewalt, wenn einem die unmittelbare Umgebung das Gefühl gibt, nicht angemessen funktionieren zu können; dass der eigene Körper nicht mehr die Leistung erbringt, die die Gesellschaft erwartet. Das erzeugt Scham, insbesondere auch, weil unsere Gesellschaft verlangt, sauber zu sein.
Wie könnten also Räume aussehen, in denen die tägliche Körperpflege unkompliziert stattfindet? Wir könnten zum Beispiel über öffentliche, kollektive Badehäuser nachdenken, damit das Angewiesensein auf Hilfe bei der Körperpflege nicht mehr so negativ behaftet ist. Ich könnte jemanden darum bitten, mir die Seife zu reichen, ohne grosses Drama. (lacht) Und wir müssen aufhören, zwischen Räumen für Alte und solche für nicht Alte zu unterscheiden. Das Altersheim ist keine zukunftsfähige Typologie. Körper sind in allen Lebensphasen in der Lage, unterschiedliche Arten der Fürsorge zu leisten und zu empfangen.
wbw Mit welchen Ideen kollektiver Formen und Räumen der Care-Arbeit haben Sie sich in Ihrer Forschung bisher beschäftigt?
Puigjaner In meiner Doktorarbeit Kitchenless City untersuchte ich küchenlose Häuser in New York und kollektive Küchen. Dabei interessierte mich die kritische Auseinandersetzung mit der Idee, dass Kochen und Häuslichkeit unmittelbar zusammenhängen. Danach begann ich eine Forschung, die ich urban Kitchens nenne. Urban, weil ich sie von gemeinschaftlichen Küchen unterscheiden möchte, die nur einer bestimmten Gruppe vorbehalten sind. Ich untersuchte das Phänomen von öffentlichen Küchen in Mexiko-Stadt, Tokio und Lima. Dort existieren sie zu tausenden, funktionieren als öffentliche Versorgungseinrichtungen und sind Orte, wo sich Frauen politisch organisieren. Sie funktionieren unabhängig von Regierungen oder Institutionen, sind selbstverwaltet oder mit Bürgerinitiativen verknüpft. Das Phänomen begann Ende der 1970er Jahre und hat seit 2008 stark zugenommen. Es steht in Zusammenhang mit Krisen des späten Kapitalismus – steigender Migration, globalen Wirtschaftskrisen und den Auswirkungen des Klimawandels wie Erdbeben.
wbw Sind urban Kitchens ein Phänomen, das auch in Europa vorkommt?
Puigjaner Nicht direkt. Ich versuche aber, die Erkenntnisse meiner Forschung immer auch auf den Kontext anzuwenden, in dem ich arbeite. In Barcelona habe ich solche Küchenkonzepte einer Gewerkschaft von Pflegekräften vorgestellt. Jetzt arbeiten wir daran, ein Koch-Netzwerk zu etablieren, damit kleinere Organisationen im Quartier El Poble-sec leichter in Kontakt kommen und zusammenarbeiten können. Kürzlich haben wir selbst eine mobile Küche fertiggestellt, die im Stadtraum genutzt werden kann. Beteiligt sind nun schon fünf Organisationen: unter anderen das Teatre Lliure, wo die Küche untergebracht ist, oder das Gemeinschaftszentrum Mescladís, wo migrierte Personen mit Kochkursen eine Ausbildung erhalten. Es ist ein Projekt, mit dem wir langfristig wirklich Einfluss auf die Stadt haben können.
wbw Warum ist die Küche so ein kraftvolles Werkzeug?
Puigjaner Essen ist etwas, das uns verbindet. Der dazugehörige Raum der Küche wurde lange benutzt, um die Rolle der Frau zu definieren, den Körper im häuslichen Raum zu rationalisieren. Die Architekten der Moderne haben behauptet, dass Effizienz und richtiges Design die Care-Arbeit im häuslichen Bereich vereinfachen würden. Heute ist jedoch erwiesen, dass wir genauso viel Zeit für die Reinigung und Pflege unserer Räume und uns selbst aufwenden wie im 19. Jahrhundert. Trotz der Versprechen der Moderne hat sich das also nicht geändert. Küchen haben aber das Potenzial, die häusliche Sphäre in den öffentlichen Raum zu erweitern. So wird Care-Arbeit kollektiviert und sichtbarer.
wbw Wir haben viel über klassisch weiblich konnotierte Räume gesprochen: die Wohnung, das Bad, die Küche. Wie steht es um Care in einer mehr männlich konnotierten Umgebung, zum Beispiel am Arbeitsplatz?
Puigjaner Das ist eine sehr interessante Frage. Kürzlich habe ich mich mit zwei Mitgliedern des Lehrstuhls, Lisa Maillard und He Shen, mit Stillräumen befasst. Solche Räume werden derzeit vor allem in von Männern dominierten Arbeitsumgebungen eingerichtet. Auf der einen Seite ist das befreiend, weil wir ein Recht auf einen Raum zum Stillen erhalten. Auf der anderen Seite sind sie extrem repressiv, weil wir dort und nicht einfach in der Öffentlichkeit stillen sollen. Das Beispiel zeigt: Es gibt bereits kleine Veränderungen, wir müssen aber kritisch bleiben. Nicht dass sie uns, wie die Stillräume zeigen, am Ende mehr schaden als nützen.
Anna Puigjaner (1980) ist Architektin und Mitgründerin von Maio Architects in Barcelona. Seit 2023 ist sie Professorin für Architecture & Care an der ETH Zürich. Für ihre Doktorarbeit Kitchenless City erhielt sie 2016 den Wheelwright-Preis der Harvard School of Design.
Aus dem Englischen von Jasmin Kunst
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