Ulrike Wietzorrek, Matthias Kestel (Bilder)
Im gehetzten digitalen Zeitalter verarmen viele Menschen an sozialen Kontakten, besonders in Grossstädten. Wer leiht einem heute noch sein Ohr? Mitten in München schafft ein Raum fürs Zuhören Abhilfe.
Ein architektonisches Kleinod, zweifellos. Im Sommer 2023 ist es mir zum ersten Mal aufgefallen: der kleine feingliedrige Pavillon im hellgrünen Kleid. Damals stand er vor der Architekturgalerie in der Münchner Innenstadt. Ich wurde neugierig, trat näher und lugte hinein. Dort stand eine Espressomaschine auf einer roten Theke, die sich in die Tiefe des Raums verlängerte, in das Rund eines erhöht gelegenen Alkoven einschmiegte und so ganz selbstverständlich in eine Sitzbank verwandelte. Ich war dort zur falschen Zeit. Der Raum war geschlossen.
Im letzten Herbst begegnete ich dem Bau erneut. Jetzt stand er vor der Kirche auf dem Stephansplatz am Eingang des Südfriedhofs. «Zuhörraum» stand dort in ebenso grünen Lettern geschrieben. Doch wer hört hier eigentlich wem zu? Der Zuhörraum wurde von Martin Spitzenberger und dem Verein Momo hört zu initiiert, dessen Namensgeberin das kleine Mädchen aus dem Roman von Michael Ende ist. In der Geschichte rettet Momo die Menschen vor den grauen Herren, den sogenannten Zeitdieben, weil es die Gabe hat, besonders gut zuhören zu können. Und genau um ein solch wertschätzendes, bewertungsfreies, aber dennoch aufmerksames Zuhören geht es dem Verein.
Um dem Zuhören grössere Sichtbarkeit und einen konkreten Ort zu geben, wandte sich Spitzenberger an den Lehrstuhl für Entwerfen und Konstruieren von Professor Nagler an der TU München. Dort entstanden vier Entwürfe, von denen der von Josef Egelseder und Philipp Konrad ausgewählt und als Design-Build-Projekt von allen Studierenden realisiert wurde. Die grösste Herausforderung dabei lag darin, eine Typologie zu entwickeln, die Intimität und Geborgenheit für ein vertrauliches Gespräch ermöglicht, zugleich Hemmschwellen abbaut und einladend wirkt. Aus genehmigungstechnischen Gründen darf der Bau nur 75 Kubikmeter umfassen und muss einfach zu transportieren sowie auf- und abzubauen sein.
Am Stephansplatz geniesst der Zuhörraum nun ein verlängertes Bleiberecht. Von Montag bis Freitag zwischen 12 und 18 Uhr darf man hier alles erzählen, was man möchte – egal ob Freud oder Leid. Etwa 40 speziell geschulte Zuhörende stellen das unverbindliche, kostenlose und vertrauliche Angebot bereit, das pro Woche von etwa 80 bis 100 Personen angenommen wird. Der Zuhörraum soll aber weder Beichtstuhl noch Therapieersatz sein. Wer diesbezüglich Bedarf hat, wird freundlich weiterverwiesen.
Viele, so Spitzenberger, lassen sich im Vorbeigehen durch ihre Neugierde leiten und es entwickelt sich ein informelles Gespräch, das manches Mal auch in einen längeren, bis zu einstündigen «Momolog» mündet. Besonders niederschwellig funktioniert die Kontaktaufnahme in den Sommermonaten, wenn Tür und Fenster offenstehen und die Zuhörenden vor dem Häuschen auf Besucher warten.
Endlich beschliesse ich es selbst auszuprobieren. Ich muss fast eine Stunde warten, bis ich eintreten kann. Das Innere ist einfach und in unbehandeltem Holz belassen und trotz seiner kleinen Abmessungen wirkt der nur etwa 7 Quadratmeter grosse Raum nicht beengt. Ich fühle mich sofort wohl mit meinem Gegenüber und probiere verschiedene Sitzpositionen aus. Sichtbarkeit und Geborgenheit sind fein austariert: Während die Erzählenden vor allzu neugierigen Blicken durch eine kleine Schildwand geschützt sind, nimmt das Gegenüber etwas exponierter Platz. Zwischen uns befindet sich kein Tisch. Stattdessen wird hier dem Gespräch Raum gegeben.
Zum Abschluss erfahre ich, dass die Stadt München den Verein unterstützt, der ausserdem von Startsocial ausgezeichnet wurde. Das Programm fördert bundesweit Initiativen, die sich für ein besseres gesellschaftliches Miteinander einsetzen. Der ehrenamtlich betriebene Zuhörraum hat auch schon viel mediale Aufmerksamkeit erhalten und ich bin mir sicher, wir brauchen mehr solcher Initiativen.
Ulrike Wietzorrek (1969) ist Professorin für Architektur und Stadt und führt seit das Büro juli architekten in München. Sie ist Herausgeberin und Autorin zahlreicher Bücher und Korrespondentin von werk, bauen + wohnen.
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