Article from 3–2025

Haus mit Seele

Universitäts-Kinderspital Zürich von Herzog & de Meuron

Lucia Gratz, Maris Mezulis (Bilder)

Geht es um die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen, braucht es eine Umgebung, die Fürsorge unterstützt. Im neuen Kispi sind Angehörige und Mitarbeitende Teil des Heilungsprozesses. Die Architektur rückt dabei das grundsätzliche menschliche Empfinden in den Mittelpunkt.

Anfang November 2024 war es so weit. Sechs Jahre nach Baustart des neuen Kinderspitals Zürich zog ein langer Tross von Patienten, Pflegenden, Ärztinnen und weiterem Personal mit zahlreichen medizinischen Utensilien in das neue Haus in der Lengg. Dort, im Zürcher Osten, sind auch andere Gesundheitseinrichtungen angesiedelt. Das Akutspital löst zusammen mit einem Forschungs- und Lehrgebäude das in mehr als 150 Jahren gewachsene Konglomerat im Gründerzeitquartier Hottingen ab. Der teils denkmalgeschützte Bestand aus verschiedenen Epochen liest sich dort wie ein gebautes Lehrstück für die Entwicklung der Kindermedizin – zeigte aber auch seine Grenzen auf: beengte Bettenstationen, geringe Flexibilität und fehlende Effizienz der Abläufe durch verschachtelte Gebäudestrukturen – das brachte auch Einschränkungen für das Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen samt ihren Familien mit sich.

Vertraut und hochfunktional

Erst ein Grundstückstausch mit dem Kanton ermöglichte einen Neustart für die Eleonorenstiftung als Trägerin des Spitals. Eine Art Pavillon-Struktur ist das neue Haus von Herzog & de Meuron: Der lange Schwung der gegliederten Fassade begleitet das niedrige Gebäude. Vis-à-vis der Psychiatrischen Klinik Burghölzli liegt das Eingangstor – eine pure Geste. Mit hohen Flügelrahmen aus Beton steht es Tag und Nacht offen, geschaffen, um von den Kindern nicht mehr vergessen zu werden. Denn Erinnerungen sind das, was uns bleibt und zusammenhält. Dahinter führt eine Passage, begleitet von zwei langen Bänken aus Holz, in einen baumbestandenen runden Innenhof. Drei Hasenohrenskulpturen aus poliertem Marmor der Künstlerin Claudia Comte sind dort arrangiert. Die biomorphen Objekte scheinen die Kinder geradezu anzuziehen: anfassen, erklettern, mit dem eigenen Körper entdecken. Brüstungen und Galerien aus Douglasie fassen die verglasten Fassaden zum Hof ein, Dachüberstände vermitteln Schutz.

Betritt man das Haus, fehlen Eigenschaften wie weiss, kühl und fugenlos als Ausdruck einer klinischen Umgebung. Hölzerne Oberflächen, viel Tageslicht und die Präsenz der Natur vermitteln Vertrautheit – manche Besuchende fühlen sich sogar an ein Hotel erinnert. Doch täuscht dieser Eindruck auch: Aus medizinischer Sicht ist das Kispi ein hochfunktionales Spital. Nur steht hier nicht die hygienische Zweckform, sondern die Gesundheit selbst im Vordergrund. Christine Binswanger, projektverantwortliche Partnerin des Architekturbüros, differenziert: «Es gibt Bereiche mit hohen funktionalen Anforderungen, doch heisst das nicht, dass das ganze Spital so sein muss – daraus eröffnen sich Möglichkeiten für räumliche Vielfalt». Räume der Heilung und Pflege sind für sie eng verbunden mit einer Architektur, die die Sinne anspricht und das emotionale räumliche Gedächtnis aktiviert.

Heilung dank bürgerlichem Engagement

Fürsorge leisten, wo einem selbst die Hände gebunden sind; sich einsetzen dafür, dass Heilung möglich wird – das waren die Motive des Zürcher Arztes Carl Cramer, der Frau und Kind bei der Geburt verlor. Indem er 1868 die Eleonorenstiftung ins Leben rief, legte er den Grundstein für eine hochstehende Kindermedizin in Zürich. Was als bürgerliches Engagement mit einem 30-Betten-Haus und drei Ärzten begann, ist heute eine Einrichtung mit etwa 2000 Mitarbeitenden und einem universitären Lehr- und Forschungsbetrieb.

Ein Spital ist eine hochkomplexe Typologie, denn es ist für viele Menschen da und wird von vielen Menschen entwickelt und gebaut. Die Bauherrschaft startete das ambitionierte Vorhaben deshalb mit Zuhören: Die Bedürfnisse und Interessen von mehr als fünfzig Abteilungen flossen in das Raumprogramm ein. Nach dem Wettbewerb 2012 ging diese Arbeit zusammen mit Herzog & de Meuron am konkreten Projekt als iterativer Prozess weiter: «Die Vorschläge wurden so lange geschliffen, bis sie sassen», sagt Christine Binswanger. Am robusten Grundkonzept änderte sich dabei wenig: die grosse Ausdehnung in der Fläche, dafür nur drei Geschosse und zwei unter der Erde, im Inneren ein klares System zur Orientierung entlang einer Sequenz von Innenhöfen. Dabei sieht jedes Geschoss etwas anders aus. Was in der Planung aufwändig war, liess ein Haus entstehen, das spezifische Räume bietet, aber doch mit Raumtypen arbeitet. So könnten Büros auch in eine zusätzliche Bettenstation verwandelt werden. Tragende Wände gibt es im Inneren kaum, damit lassen sich die Grösse der Abteilungen und die Zuordnung von Räumen gut anpassen. Auch bei der Haustechnik gibt es Luft, um zusätzliche Rohre und Leitungen einzuziehen.

Flexibilität ist hier Ausdruck von Care: Das Haus lässt sich nach den Bedürfnissen der Patientenschaft programmieren. Fürsorge braucht Ressourcen, Zeit und Präsenz – und dies fängt bereits in der Planung und Ausführung eines solchen Bauwerks an.

Stadt im Haus

Mit einem direkten Bezug zur Natur, der Verwendung von Holz oder den geschützten Räumen mit ihren vorgelagerten Terrassen führen Herzog & de Meuron zahlreiche Ideen weiter, die sie mit der Rehabilitationsklinik REHAB in Basel vor mehr als zwanzig Jahren erfolgreich erprobt hatten. Auch die grünen Höfe und die aufgereihten Patientenzimmer finden sich hier wieder als Teil eines grundsätzlichen Verständnisses für solche Aufgaben. «Wir benutzen das Bild der Stadt, wenn wir über diese Spitäler reden», sagt die Architektin. Auf den Geschossen verbindet je eine prägnante Wegfigur die einzelnen Einrichtungen. Wie in einer Stadt soll sich der Weg durch das Kispi anfühlen, den Besuchenden von der Hauptgasse aus eine gute Orientierung ermöglichen. Diese wird enger oder weiter und bietet Wartezonen zum Aufenthalt an – wie Plätze in einer Stadt.

Natürlich gibt es auch zahlreiche Nebengassen, die vor allem Mitarbeitende nutzen. Dort wird es pragmatischer. Die Distanzen im gut 200 Meter langen Gebäude verlangen ihnen einiges ab. Doch ist der grossflächige Grundriss auch vertikal gedacht: Neben der prominent gelegenen Wendeltreppe am Eingang mit seiner magisch wirkenden Lichtinstallation des Künstlers Raphael Hefti gibt es zahlreiche kleinere Treppen, die als Shortcuts das Unten mit dem Oben verbinden. So können die Stationen stockwerkübergreifend zusammenarbeiten. Im mittleren Geschoss befinden sich Büros und Räume für die Mitarbeitenden. Schon die komplexe Aussenfassade und ihre spezifische Formulierung in den Höfen zeigt, worum es geht: Wohlbefinden ermöglichen mit den Mitteln der Architektur – Tageslicht, Verschattung, Aussenraumkontakt. Hier kann das Personal in Ruhe arbeiten, sich aus dem oft stressigen Spitalgeschehen herausnehmen und regenerieren, hat eigene Küchen und Terrassen mit Tischen draussen, wo man sich trifft. «Das ist unsere Aufgabe als Architekten, die Gemeinschaft zu fördern, das ist so wertvoll, oft wichtiger als alles Material oder Quadratmeterzahlen», sagt Christine Binswanger im Wissen um den Wert von Räumen, die nicht im Raumprogramm aufgelistet und qualitativ beschrieben sind.

Die Patientenzimmer sind die privatesten Räume im ganzen Spital. Sie sind wichtige Orte des Rückzugs für die jungen Patientinnen und Patienten und ihre Familien. Nächtigten Mütter früher auf Feldbetten in überfüllten Zimmern an der Seite ihrer kranken Kinder, gibt es im neuen Kispi eingebaute Bänke, die sich zu Liegen ausziehen lassen. «Eltern und Angehörige sind ganz wichtig. Wenn sie sich wohlfühlen, geht es auch dem Kind besser», ist die Architektin überzeugt. Die Räume spiegeln dies wider: Wie eine Reihe kleiner Häuser sitzen die Patientenzimmer ganz oben, jedes mit eigenem Fenster und Dach, jedes für ein Individuum mit einer eigenen Geschichte. Auch innen neigt sich die Decke, vermittelt Geborgenheit und Schutz. Das Fenster sitzt tief und ermöglicht den Blick nach aussen auch im Liegen. Hölzerne Rundfenster lassen sich öffnen, sorgen für frische Luft und den Kontakt mit der Aussenwelt.

Daneben gibt es auch gemeinschaftliche Räume für soziale Interaktion. Die Veranden aus Holz zu den runden Innenhöfen auf dem Bettengeschoss regen an, nach draussen zu gehen. Die Höfe sind nicht vom medizinischen Ambiente bestimmt. Einer ist wie eine Waldlichtung, im anderen hängen vier Kajaks im Luftraum, eine Kunstinstallation von Roman Signer, die die Phantasie anregt. Hier ist ein geschützter Aufenthalt im Freien möglich, und doch bleiben die Kinder und Jugendlichen Teil des Ganzen. «Die Kinder haben diese runden Innenhöfe für sich entdeckt, wir haben gar nicht daran gedacht, dass Kinder gerne im Kreis herumrennen», sagt Christine Binswanger – Freude zu empfinden, scheint in einer prekären Situation um so wichtiger. Neben der medizinischen Versorgung unterstützen Beschäftigungsangebote das Gesundwerden. Spitalclowns sorgen für Ablenkung, sogar eine Spitalschule gibt es für jene, die länger hier bleiben müssen.

Das Zürcher Kinderspital zeigt einen ganzheitlichen Zugang zur Genesung. Mit der gleichen Aufmerksamkeit adressiert es physische Betreuung und mentale Gesundheit, verbindet hochstehende medizinische Versorgung mit Orten einer vertrauten Lebenswelt. Dabei geht es Herzog & de Meuron nicht um eine Architektur, die neu und wie nie dage-wesen wirkt, sondern sie knüpfen sie an Dinge, die in der Alltagswelt als Qualitäten erlebt werden. Die Grundsätze der Architektur gehen hier mit den Grundsätzen des menschlichen Empfindens eine enge Verbindung ein.

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