Olaf Bartels, Maja Wirkus (Bilder)
Der Umbau ihrer DDR-Typenhauses ermöglichte es Susanne Brorson, eine alte Bautradition Rügens neu anzuwenden. Die begleitende Feldforschung mit Studierenden zu biobasierten Baustoffen weist in die Zukunft und macht das Haus zum Experiment.
Auf Deutschlands grösster Insel Rügen überschneiden sich verschiedene kulturelle Einflusssphären. Im alten Dörfchen Streu am Kleinen Jasmunder Bodden in der Nähe des Hauptorts Bergen lebt und arbeitet die Architektin Susanne Brorson in einem mit wenigen, aber gravierenden Eingriffen umgebauten Einfamilienhaus – wenn sie zuhause ist und nicht gerade die Welt bereist. Würde nicht ein Damm den Bodden von der Ostsee trennen, könnte sie direkt übers Meer segeln – wie die Wikinger oder die Slawen, die vor ihr hier siedelten und kulturelle Spuren hinterliessen. Das Gut Streu, der Ursprung des Dorfs, hat eine bis ins Mittelalter zurückreichende Geschichte. Es gehörte zeitweilig in den Machtbereich des Bischofs von Roskilde in Dänemark.
Susanne Brorson plant und baut in Streu an einer ökologischen Siedlung, die auf dem Grund des alten Guts entsteht. Dessen letzte Scheune war nicht mehr zu reparieren und musste kürzlich abgerissen werden. Sie wird durch eine Gemeinschafts- und Wohnscheune ersetzt. Zukünftig sollen hier Menschen in eigenen Haushalten, aber als Gemeinschaft in Häusern leben, die analog lokaler Dreiseithöfe zu je drei Gebäuden um je drei mittige kleine Höfe stehen. Mit zwei weiteren Häusern gruppieren sie sich um ein Zentrum als «Dorfkern». Dort trifft sich die Gemeinschaft zum gemeinsamen Kochen, Essen und anderen Aktivitäten. Schützend stellen sich die Häuser gegen den Wind und gegen das Wasser. Sie sind flach, haben geneigte Dächer ohne Überstände sowie eine Deckung, die der Wind nicht wegtragen kann. Auf Rügen baut man unter den Bedingungen der Windlastzone 4 mit durchschnittlichen Windgeschwindigkeiten von 30 Metern pro Sekunde. In die Häuser der neuen Siedlung, insbesondere in ihr Volumen, ihre Grundrisse mit grossen Gemeinschaftshallen, die Anordnung der Loggien, Art und Mass der Dachneigung sowie in einige der Detaillösungen flossen die Erkenntnisse aus der Untersuchung historischer lokaler Bauweisen ein, die Susanne Brorson unter anderem auch in digitalen Windströmungssimulationen analysieren liess.
Klimagerechtes Bauen versteht Susanne Brorson nicht allein im Sinne materieller Energieeffizienz durch dicke Dämmung, Dreifachverglasung oder optimierte Haustechnik. Klimakonform zu bauen, ist für sie ein integraler Teil der Architektur. Sie promovierte an der TU Berlin über Lebens-, Bau- und Agrarkultur in Gegenwart und Geschichte – nicht nur auf Rügen, in Dänemark, Schweden oder Polen, sondern im gesamten Ostseeraum.
Dabei hat sie sich einen sehr umfassenden Blick auf das Bauen angeeignet und erforscht es im Zusammenhang mit den ruralen Lebensweisen, der Landschaft und Landwirtschaft, der örtlichen Flora und dem Handwerk. Sie untersucht Grundrisse, Bauformen, Detaillösungen sowie die Verwendung lokaler Materialien. Das betrifft nicht nur Holz oder Stein, sondern insbesondere auch anderes pflanzliches Baumaterial. Für die Dachdeckung und Wandverkleidung war und ist auf Rügen beispielsweise Schilfrohr üblich, das noch heute auf der Insel gewonnen und verarbeitet wird. Reet oder Rohr, wie es hier heisst, wird so häufig am Bau verwendet, dass sich das lokale Handwerk darauf spezialisiert. Mit dem traditionellen Baumaterial wird gerne eine ästhetische Ortsverbundenheit deklariert.
Susanne Brorsons Untersuchungen haben gezeigt, dass die Verbindung von Flora, Landschaft, Wirtschaft, Lebens- und Baukultur noch viel weiter gehen kann. Geforscht und gelehrt hat sie dazu als Vertretungs- und Gastprofessorin an diversen Hochschulen und Universitäten: in Wismar, Riga, Hamburg und begleitend zu ihrem Stipendienaufenthalt in der Villa Massimo, der Deutschen Akademie in Rom, an der dortigen Università degli studi Roma TRE. Derzeit hat sie eine Vertretungsprofessur am «Lehrgebiet Ökologie Nachhaltigkeit Kulturelles Erbe» an der Akademie der bildenden Künste in Wien inne. Ihre universitäre Arbeit verbindet sie mit der Erforschung der lokalen Pflanzenwelt als temporäres oder permanentes Baumaterial für die Gebäudehülle, seasonal Walldressing genannt. Sie regt die Studierenden an, dies auch praktisch zu erfahren und baulich umzusetzen. Daraus ist beispielsweise mit Hamburger Studierenden die Seaweed Monster Summer Kitchen aus Holz, Seegras und Lehm entstanden. Aus jeweils eigenen örtlichen Funden erwuchs auch in der Villa Massimo ein Seasonal Wall Dress und an der Università Roma TRE wurde ein Saisonal Salon als Holzkonstruktion mit pflanzlichem Kleid gebaut.
Susanne Brorson baut nicht allein auf die Erforschung historischer Bau- und Lebensweisen. Ganz konkret experimentiert sie am eignen Haus mit der Verwendung natürlicher Baumaterialien als Dachdeckung, Wandverkleidung oder als Baustoff und lädt dazu gerne Studierende ein, selbst Hand anzulegen. Ihr Haus auf Rügen hat sie 2005 in einem sehr heruntergekommenen Zustand zusammen mit einem alten Hühnerstall erworben. Es steht in einer Siedlung typisierter Einfamilienhäuser, die zu DDR-Zeiten errichtet wurde und das als Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (LPG) genutzte Gut Streu erweiterte. Der dafür verwendete Haustyp EW 58/EW 51 ist ein Ziegelbau mit zweischaligen Wänden,1 Holzdecken, Holzfussböden, einem Kehlbalkendach und Ziegeldeckung. Der Entwurf des Architekten Wilfried Stallknecht wurde in der DDR etwa 250 000 Mal gebaut. Mit seiner etwa 8 mal 10 Meter messenden Grundfläche und einer zentral angeordneten Feuerstelle zeigte sich der Bautyp durchaus wandlungs- und anpassungsfähig. Susanne Brorsons Haus hatte beispielsweise eine Rohrdeckung. Sie liess einige der Fensteröffnungen schliessen, andere vergrössern und mit weit öffenbaren dänischen Klappfenstern bestücken. Den Grundriss hat sie den Bedürfnissen ihrer Familie angepasst und dabei auch die Spuren vorheriger Nutzung aufgenommen. Schilfrohr deckt auch neu das Haus wie den einstigen Hühnerstall. Da der eigentliche Hauseingang weit abgelegen in der der Grundstückeinfahrt abgewandten Seite des Hauses liegt, betrat man das Wohnhaus meist über die Küchentür, gegenüber dem ehemaligen Stall. Den Hühnerstall liess Brorson zum Büro umbauen und zwischen den beiden Bauten eine Wand errichten. So ist der kleine Zwischenraum nach Norden gegen den Wind geschützt, intensiv von der Sonne beschienen und ortsüblich von drei Seiten umstanden – auch wenn es kein drittes Haus gibt. Die Küche und das neu eingerichtete Bad haben bodentiefe Fenster, die beide Räume zum Hof hin öffnen. Die Küchentür blieb also Haupteingang. Bei entsprechenden Wetterverhältnissen wird der Hof zur saisonalen Erweiterung des Lebensraums nach aussen.
Die wetter- und windexponierte Westfassade des nach wie vor ungedämmten Hauses hat Susanne Brorson 2021 im Rahmen mehrerer studentischer Design Build Summer Schools zum Experimentierfeld erklärt. Gemäss dem Konzept «Design as Research, Research as Design», das sie in Grossbritannien kennenlernte, nahmen an Brorsons Feldforschung bereits einige Studierendengruppen teil. Sie arbeiteten am seasonal Walldressing als dämmendem Fassadenkleid aus pflanzlichen und tierischen Produkten.
Eine erste Phase von August 2021 bis August 2022 konzentrierte sich auf Überlegungen zur Aufteilung der Fassade in Felder von je 1 × 1 Meter und deren Unterkonstruktion. Historisch fallen diese je nach temporärer oder permanenter Bekleidung unterschiedlich aus. Zur Anwendung kam ein System fest angebrachter Leisten mit einer Sekundärkonstruktion zur Befestigung des Untersuchungsmaterials. Zunächst wurden nur einige Felder montiert und mit sonnengetrocknetem Seegras bestückt. Das Experiment zeigte, dass sowohl eine Hinterlüftung als auch eine direkte Montage auf der Wand notwendig sein kann. Entsprechend flexibel wurde die Befestigung gehandhabt. Im Jahr darauf wurde mit sehr unterschiedlichen lokalen Materialien experimentiert: Schilfrohr, Seegras, Farn, Seggen (Gras), Heidekräutern, Weidenästen, Wacholder, Laub vom Haselnussbaum, aber auch Schnittgut aus dem Garten oder tierischen Produkten wie Schafswolle.
Das Fassadenkleid bewirkte einen deutlich geringeren Energieverbrauch bei gleichzeitig erheblichem Wärmezuwachs in den Wohnräumen. Die dritte, noch anhaltende Phase gilt der Beobachtung von Veränderungen sowie dem Ausgleich der Material- und Volumenverluste durch Trockenprozesse und durch Vögel, die Material zum Nestbau abtransportieren. Die bauphysikalischen Folgen erforschten Susanne Brorson und ihre Familie buchstäblich am eigenen Leibe. Dabei werden Erkenntnisse über historische, vernakuläre und rurale Verwendung von Stroh, Reet, Farn, Efeu, Laub und anderem Material zur Bekleidung der Fassade sowie deren Unterkonstruktion zusammengetragen.
Nicht zuletzt waren die Experimente auch Studien über das ästhetische Zusammenwirken der Materialien, die Susanne Brorson im Sinne der Bekleidungstheorie Gottfried Sempers (1803–89) betreibt. Wie sie stammte Semper aus dem Norden Europas, wurde in Hamburg geboren und wuchs im damals dänisch regierten Altona auf. Hier entstanden erste Theorien, aber auch Bauten für die Oberschicht Altonas und für seine eigene Familie. Sehr anschaulich zeigt Susanne Brorsons Arbeit, wie wissenschaftliche, universitäre Forschung nicht nur in der Baugeschichte, sondern auch in der baulichen Praxis innovativ zusammengeht. Mit ihrem eigenen Einfamilienhaus auf Rügen hat sie sich dafür ein international vernetztes Experimentierfeld erschaffen.
Olaf Bartels (1959) ist Professor für Theorie und Geschichte der Architektur an der IU Internationale Hochschule am Standort Hamburg, Architekturhistoriker und Architekturjournalist, Mitglied in DASL und DWB. Studium der Architektur an der Hochschule für bildende Künste Hamburg. Er lebt in Hamburg.
1 Die Aussenwände sind aus Ziegelmauerwerk in einer Stärke von 38,5 cm mit einer inneren Luftschicht gebaut worden.
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