Hanna Maria Schlösser, Julia von Mende
Viele Einfamilienhäuser kommen in die Jahre und bieten Transformationspotenzial. Befragt man die Bewohnerschaft, liegt die Herausforderung der Weiterentwicklung nicht am Übermass an Wohnfläche. Das Haus erscheint als Erinnerungsspeicher, bedeutet Freiheit und bietet Möglichkeiten. Mehr geht es darum, Gewohntes zu hinterfragen.
Eine enorme Anzahl bestehender Einfamilienhausgebiete steht vor einer sozialökologischen Transformation. Diese kann nur mit und durch die Bewohnerschaft gelingen. Mit einer qualitativen empirischen Untersuchung fragten wir nach Wohnpraktiken im Einfamilienhaus mit dem Ziel, explorativ Anhaltspunkte für eine entwurfliche Auseinandersetzung mit dem Bestand zu erhalten. Forschungsgegenstand war das empty Nest – also genau die Wohnorte, an denen durch den Auszug der Kinder die Pro-Kopf-Wohnfläche steigt. Im Rahmen eines forschenden Lehrformats an der Bauhaus-Universität Weimar1 wurden im Sommer 2023 acht Einfamilienhäuser untersucht und Interviews mit der Bewohnerschaft geführt. Im Zentrum der Betrachtung standen das Teilen von Räumen, das Auslagern oder Bündeln von Funktionen sowie zeitliche und räumliche Verschränkungen. Es ging uns also nicht um Verzicht und Flächenreduktion, sondern um das Infragestellen des «Gewohnten».
Was passiert auf den verwaisten Flächen nach dem Auszug der Kinder? Das Spektrum reicht von sofortiger Nutzungsänderung bis hin zur Musealisierung der ehemaligen Kinderzimmer. Es werden Räume neu verhandelt und Arbeits-, Hobby- und Ankleidezimmer eingerichtet. Eine Befragte beschreibt den Prozess der Neuzuordnung in ihrem Haus als Platzverteidigung gegenüber ihrem Partner. Nachdem das erste freigewordene Kinderzimmer von ihrem Mann «okkupiert» wurde, «mit Wäsche, mit Fahrrädern und mit Unordnung», hat die Bewohnerin Pläne für das nächste Zimmer geschmiedet. Teilweise werden die Flächen mit der Möglichkeit für eine saisonale Nutzung vorgehalten. Diese «Optionsräume» – wie Gästezimmer und Stauräume für Festmobiliar – stehen meist für den Wunsch eines gemeinschaftlicheren Gebrauchs des eigenen Hauses. Eine Bewohnerin beschreibt: «Die Kinder sind ausgezogen und wir haben [...] eine Trennwand rausgetan, unser grosses Schlafzimmer und das Gästezimmer daraus gemacht.» Kinderzimmer werden auch als «Erinnerungsräume» mitsamt dem ursprünglichen Interieur bewahrt. Zunächst, um eine temporäre Rückkehr in Übergangsphasen einer jungen Erwachsenenbiografie zu ermöglichen: «Und so hat jeder der drei Jungs sein Zimmer und das bleibt auch so.»
Auf den ersten Blick sind in den untersuchten Fallbeispielen keine Flächen frei. Es zeigt sich sogar die kontraintuitive Beobachtung, dass sich Flächenbedarfe nach dem Auszug der Kinder vergrössern, um Spitzen an Feiertagen abzudecken. Und zwar dann, wenn im Rahmen der «Erinnerungs-» und «Optionsräume» künftig auch für die Partner der Kinder und Enkelkinder Platz im Haus und am Tisch vorgehalten wird: «Es ist so, dass wir hier an diesem Tisch tatsächlich selten sitzen. Eigentlich nur, wenn dann alle da sind und auch die Freundinnen dabei sind.» Die anwachsende Pro-Kopf-Fläche nach dem Auszug der Kinder stellt in den unterschiedlichen Fallbeispielen aus der Perspektive der Bewohnerschaft also keinen direkten Anlass für Neuausrichtungen dar.
In den Interviews zeigten sich aber auch Themen, die für die Bewohnenden Motivation zur Veränderung werden könnten. Gedanken und Erfahrungen zur eigenen Fragilität im Alter und dem Verbleib im Haus beschäftigten alle Befragten. Fragen nach imaginierten Wohnzukünften blieben teils offen, die Emotionalität des Themas ist gross. In einem der Häuser wurden die notwendigen baulichen Anpassungen an die Bedürfnisse im Alter zumindest grob umkreist: «Ich will irgendwann einen Treppenlift einbauen. Wir haben Gott sei Dank schon eine ebenerdige Dusche, das habe ich schon damals beim Hausbau bedacht. [...] Ich würde erst mal versuchen, alles altersgerecht umzubauen, damit man hierbleiben kann». Die Behebung baulicher Hürden kann jedoch soziale Komponenten des Alterns, der Vereinzelung oder der Vereinsamung nicht lösen. Während die Freiheit des Hauses auf der eigenen «Scholle» dazu einlädt, viele Aktivitäten des Alltags und der Freizeit darauf abzubilden, ist die Kehrseite die geringere Notwendigkeit sozialer Infrastrukturen im Quartier. Das Kreisen der Gedanken um zukünftige Herausforderungen führt einige Bewohnerinnen und Bewohner zur Frage: Wie kann das Haus so umgebaut werden, dass die eigenen Kinder den Grossteil davon übernehmen? Die eingefrorenen «Erinnerungs-» und «Optionsräume» stehen damit auf einen Schlag zur Disposition. Auch ein Umzug käme für einige Personen unter bestimmten Auflagen in Betracht. Eine Befragte benennt es ganz konkret: «Optimal wäre es, wenn in dieser Strasse ein Mehrfamilienhaus stünde [...]. In die Reihenhäuser können dann junge Familien einziehen.»
Der Vorschlag zeigt anschaulich, dass eine Vielzahl der Fragen und Probleme, die um die Wohnform des Einfamilienhauses kreisen, sich nicht nur innerhalb der Häuser beantworten lässt. Bereits in den 1970er Jahren beschäftigte sich die Stadt- und Architekturhistorikerin Dolores Hayden mit Umbauoptionen des Einfamilienhausbestands zugunsten einer Wohnweise, die Frauen und Männern einen gleichberechtigten Alltag in den US-amerikanischen Suburbs ermöglichen sollte. Es wurde mit Einfamilienhaus-Clustern experimentiert, die durch die Zusammenlegung von Anteilen privater Flächen Gemeinschaftseinrichtungen wie Küche, Wäscherei, Kinderbetreuung, ein zentrales Blockbüro, einen Lebensmittelladen und eine Gemeinschaftsgarage vorsahen. Hayden schreibt dazu: «In vielen Gegenden wird die Instandsetzung bestehender Bausubstanz sinnvoller sein als Neubauten. [...] Einige der privaten Nebengebäude (Garagen et cetera) sollten in Gemeinschaftsräume umgewandelt werden. [...] 13 Zufahrtswege werden von 26 PKWs benutzt, zehn Gartenhäuser, zehn Schaukeln, 13 Rasenmäher und 13 Sitzgruppen deuten die unsinnige Vervielfachung solcher Ausstattungen an.»2
Die Neubetrachtung bestehender Siedlungen durch die Kommunen und eine strategische Unterstützung von privaten Anwohnerinitiativen, wie sie beispielsweise in den Arbeiten der Lausanner Architektin Mariette Beyeler vorgeschlagen werden, können den Blick öffnen. Sie fordert die Nachverdichtung von Einfamilienhaussiedlungen als längerfristiges kommunales Planungsziel und eine Begleitung der privaten Eigentümerschaften sowie die «Entwicklung einer Umbaukultur»3 als Paradigmenwechsel.
Das Entwurfspotenzial beim Zusammendenken der Einfamilienhausparzellen ist gross. Doch auch wenn die Bauherrenschaft lediglich innerhalb der Parzelle und des eigenen Hauses agiert, können empirische Erkenntnisse den Entwurfsprozess bereichern. Unser Blick fiel bei den Analysen der Häuser neben multifunktional genutzten grossen Räumen immer wieder auf sehr kleine Räume, die – in Verbindung mit den grossen Fassadenflächen eines Einzelhauses – oft eine sehr gute Belichtung aufweisen, beispielsweise ein sechs Quadratmeter grosser Arbeitsraum. Diese «Cockpiträume» können Haupträume von Nutzungen entlasten und durch die Möglichkeit des individuellen Rückzugs die Freude am Teilen von Räumen stärken. Einige Strategien des zeitgenössischen Wohndiskurses sind direkt übertragbar, wie reinen Erschliessungsräumen Qualitäten zuzuschreiben oder das Zusammenlegen mit Aufenthaltsräumen. Badezimmer oder Küche als Nutzungseinheiten werden nicht mehr nur hermetisch betrachtet, sondern mit den Zugängen zur Wohnung kombiniert oder zur parallelen oder gemeinsamen Nutzung aufgeteilt. Architektonische Massnahmen könnten aber auch die Verbindungen zu den Nachbarhäusern betreffen. Das Zusammenleben – innerhalb der Wohnung und darüber hinaus – wird zum Ausgangspunkt des Entwurfs.
Der Wohngrundriss mit flächensparenden und zugleich gemeinschaftsfördernden Überlegungen kann in viele der bestehenden Einfamilienhäuser einziehen. Im Gegenzug stellt sich die Frage, ob der architektonische Diskurs um das Wohnen auch vom Einfamilienhaus lernen kann – stellt es doch die statistisch beliebteste Wohnform dar.4 Der Blick fällt hierbei auf den Garten, wie die Befragten betonen: «Der Garten hat eine Riesenbedeutung, würde ich sagen. Also ich nehme den ganz bewusst wahr.» Im Fall eines untersuchten Hauses hat die fehlende Verbindung der Wohnräume zum Garten zu einer grundsätzlichen Transformation des Bestands geführt: «Das Schönste hier an unserem Haus ist das grosse Fenster im Wohnzimmer mit Blick in den Garten.» Die enge Verknüpfung von Architektur und dem selbst gestaltbaren Grün- und Aussenraum zeigt ein Potenzial für alle Wohnformen.
Sind die Kinder ausgezogen, steht in den empty Nests nach zwanzig bis dreissig Jahren des Bewohnens eine grundsätzliche Neubetrachtung an. Das Ringen um die und mit der Bausubstanz war bei den Befragungen spürbar. Die Bewohnerinnen und Bewohner haben umgebaut, sind gerade dabei oder haben eine Liste der nächsten Anpassungen bereits im Kopf. Der Entwurf in Szenarien entlang biografischer Schritte sowie das Mitdenken unterschiedlicher Konstellationen des Zusammenlebens im Haus zeigen ein grundsätzliches Dilemma des Einfamilienhauses: das Zusammenleben mit gleichzeitiger individueller Gestaltungshoheit. Dies bezieht sich nicht nur auf die Möglichkeiten des Wohnens, sondern ebenfalls auf die Umbauten, die im Einfamilienhaus gerne in Eigenregie und oft als Bricolage umgesetzt werden. Auch die Rolle des Entwurfs und der Planung gilt es zu reflektieren und den Bedürfnissen anzupassen, wenn die Bewohnerschaft selbst Hand anlegt oder eine schrittweise Ausführung erforderlich ist.5 Die Untersuchung warf somit die Frage nach den ungenutzten Potenzialen des Selbstbaus als inhärentem Bestandteil der Wohnpraktik im Einfamilienhaus auf: Was wäre, wenn alle gemeinsam ans Werk gingen?
Hanna Maria Schlösser ist Architektin und Mitbegründerin des Büros Oficina in Berlin. Sie studierte an der ETH Zürich und co-leitete die Gastprofessur Umgang mit dem baulichen Bestand am KIT. In ihren praktischen, forschenden und lehrenden Tätigkeiten setzt sie sich mit sozialökologischen Fragen entwerferisch auseinander.
Julia von Mende ist Architektur- und Stadtforscherin. Interessensschwerpunkte sind räumliche Strukturen, Zusammenhänge von Alltagspraktiken und qualitative Methoden der Wohnungsforschung. Als Professorin für Theorie und Geschichte in der Architektur lehrt sie an der Frankfurt University of Applied Sciences.
1 Vollständiger Forschungsbericht: Julia von Mende, Hanna Maria Schlösser, Das Einfamilienhaus zur Disposition – Wohnpraktiken im Empty Nest, Weimar 2024, https://doi.org/10.25643/dbt.60812, weitere Informationen zu den Inhalten der Forschungswerkstatt: https://forschungswerkstatt-eigenheim.de (abgerufen am 26.2.2025).
2 Dolores Hayden, «Wie könnte eine nicht-sexistische Stadt aussehen? (1981) Überlegungen zum Wohnen, zur städtischen Umwelt und zur menschlichen Arbeit», in: Sub\urban: Zeitschrift für kritische Stadtforschung, Jg. 5, 2017, Nr. 3, S. 69–86, https://doi.org/10.25595/425 (abgerufen am 26.2.2025).
3 Mariette Beyeler, «Weiterentwicklung bestehender Siedlungs- und Gebäudestrukturen für künftige Lebens- und Wohnformen einer älter werdenden Gesellschaft», in: Kanton Zürich Baudirektion Amt für Raumentwicklung (Hg.), Altersdurchmischtes Wohnen im Kanton Zürich, Schlussbericht, Oktober 2022, S. 24–30.
4 Die Aussage bezieht sich auf eine Befragung in Deutschland: «Interhyp-Wohnraumstudie 2021. Eigenes Zuhause wird in unsicheren Zeiten noch wichtiger/Wunsch nach Eigentum steigt erneut», https://www.interhyp.de/ueber-interhyp/presse/interhyp-wohntraumstudie-2021-wunsch-nach-eigentum-steigt-erneut/ (abgerufen am 27.02.2025).
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