Lucia Gratz, Elodie Degavre (Filmstills)
Sie liebe es, Geschichten zu erzählen, sagt Elodie Degavre. Über ihre Recherche zur Partizipation im belgischen Wohnungsbau drehte die Architektin deshalb einen Dokumentarfilm. La vie en kit handelt von der persönlichen Begegnung mit Architekturschaffenden, die auf ihr Leben, ihre Überzeugungen und ihre durch Bewohnerbeteiligung entstandenen Häuser zurückblicken.
Aus Zufall stiess Elodie Degavre vor ein paar Jahren beim Blättern in einer Zeitschrift aus den 1970er Jahren auf einen Beitrag über eine Gruppe Stahlhäuser, in denen Menschen lebten, denen das Wohnen offensichtlich Spass machte. Später traf sie jene vor Ort, von denen es hiess, sie hätten ihre Häuser als Visionäre gebaut, die zusammenwohnen wollten.
Damit fing alles an. Mit dem Bedürfnis, die Akteurinnen und Akteure kennenzulernen, die bereits vor fünfzig Jahren über die Zukunft des Wohnens nachgedacht hatten, besuchte sie mehrere ältere Architekturschaffende. Utopisten nennt sie Degavre; denn sie stellten die Bewohnerschaft ins Zentrum ihrer Architektur, was bis dahin völlig ungewöhnlich gewesen war.1 Ihre Häuser von morgen sollten leicht sein, um Ressourcen zu sparen. Sie sollten günstig sein, damit sie sich jeder und jede leisten kann, flexibel, um künftige Bedürfnisse miteinbeziehen zu können. Es sollten Baukastenhäuser sein, die die Nutzerschaft an ihre Wünsche anpassen kann.
Jean Englebert, Paul Petit, Simone und Lucien Kroll heissen die Protagonisten und die Protagonistin ihres Films.2 Während das Studierendenwohnheim La Mémé der Krolls in Woluwe-Saint-Lambert bei Brüssel international für Aufsehen sorgte und in Architekturkreisen berühmt ist, erzählen die Wohnbauprojekte von Englebert und Petit in Lüttich und Charleroi von der Breite der Bewegung und geben indirekt Einblick in die belgische Gesellschaft der 1970er Jahre. Belgien sei ein Land, in dem man in der Nachkriegszeit auf Wohneigentum gesetzt habe. Das Einfamilienhaus wurde gefördert, während kollektive Wohnformen baurechtlich, politisch und sozial eine geringe Lobby hatten und es keine Kultur dazu gab, erzählt Degavre.
Es ist eine kaum bekannte Architektur, zu deren Entdeckung sich Elodie Degavre aufmachte. Sie sprach mit jenen, die eine andere Art zu Wohnen Wirklichkeit werden liessen, und prüfte, wie deren Vorstellungen von damals in die heutige Welt passen. Damit ermöglicht ihr Film, aktuelle Fragen zum Wohnen im Spiegel der Vergangenheit zu reflektieren.
Ab Ende der 1960er Jahre kam Bewegung in den Wohnungsbau, der bis dahin von der repetitiven, unpersönlichen Art der Nachkriegszeit bestimmt gewesen war. Architekturschaffende begannen grundsätzliche Fragen zu stellen: Was ist Wohnen? Wie wohnen wir und was wünschen sich die Leute, um glücklich zu sein? Partizipationsprojekte stellten den Menschen in den Mittelpunkt. Sie wurden zum Ausweg aus der eingefahrenen Welt eines funktional geprägten Bauens: Eigeninitiative, eine Prise Anarchie, aber auch Aufbruch, um sich selbst zu finden – das eigene Haus, nicht selten Teil des persönlichen Lebensentwurfs. Degavre vergleicht die Einstellung dahinter mit der direkten Herangehensweise, wie heute etwa das Brüsseler Büro Rotor die Notwendigkeit der Bauteilwiederverwendung in die Praxis bringt – neben Idealismus brauchte es eine ordentliche Portion Pragmatismus, um den Themen der Zeit handelnd begegnen zu können.
Wann ist Mitmachen eigentlich möglich? Ist nicht alles, was Architekturschaffende planen und entwerfen, zu kompliziert? Der Wille zur Vereinfachung sei bei den gezeigten Beispielen zentral gewesen, sagt Degavre. Nur so könne eine Nutzerschaft mitwirken und selber mitbauen, waren ihre Gesprächspartner überzeugt. Am deutlichsten wird das bei den Systembau-Häusern aus Holz, die Jean Englebert entwickelte. Er selbst vergleicht sie mit einem Meccano-Bausatz – elementiert und vorgefertigt, konnten Boden, Wände und Dach ohne technische Hilfsmittel zusammengeschraubt werden. Das geschah kollektiv und so stand das Haus in wenigen Tagen.
Beim Bau des Wohnheims für Studierende La Mémé kooperierten Simone und Lucien Kroll mit den Studierenden und fragten, von welcher Realität sie träumten, wie sie lebten und was Gemeinschaft für sie war – getragen war dies von der Hoffnung der jungen Leute auf ein anderes Leben im Nachhall der Studentenproteste im Mai 1968. Simone Kroll formuliert es im Film so: «Alles ist euers, nichts gehört uns – das ist das Schönste, was eine Gesellschaft sagen kann.» Nicht das Architektenpaar definierte, wie die Studierenden wohnen sollten, sondern sie selbst mit ihrer eigenen Initiative, ihrer eigenen Kreativität.
Auch wenn es bei der patchworkartigen Fassade nicht offensichtlich ist, liegt La Mémé, das Teil des Universitätscampus in Woluwe-Saint-Lambert ist, ein System zugrunde. Dadurch ist ein Modulraster als Regel festgelegt – und die war wichtig, um Laien eine Struktur zu geben, an der entlang sie tätig sein konnten. Innerhalb dieser Vorgaben entwickelten die Studierenden ihre eigenen Grundrisse und Fassaden – Grundrisse als Abbild ihrer Wohnvorstellungen in Gemeinschaften. Im Gegensatz zu den anderen Wohnprojekten im Film handele es sich hier um ein temporäres Wohnen, sagt Elodie Degavre. Die Studierenden blieben nur etwa zwei Jahre, für die Dauer ihrer Ausbildung, die Kooperation war deshalb zeitlich sehr begrenzt, die Anzahl der Akteure und Akteurinnen, die es zu koordinieren galt, dafür sehr gross. Für Simone und Lucien Kroll sei dies eine Herkulesaufgabe gewesen – das zum Zeitpunkt des Filmdrehs vorhandene Archivmaterial zu La Mémé bei ihnen zuhause gab Einblick in diese intensive Zeit.
Ab den 1970er Jahren brach in Belgien die Stahl und Bergbauindustrie ein. Der Strukturwandel führte zu einem grossen Identitätsverlust und brachte wirtschaftliche Unsicherheit – doch schuf er auch neue Chancen. Warum nicht Häuser aus Stahl bauen, um die lokale Wirtschaft zu stärken? Eine naheliegende Frage, die sich Paul Petit stellte und dafür allen Vorurteilen zum Trotz ein Bausystem für Wohnhäuser entwickelte. Doch nicht nur Häuser aus Stahl wirkten wie ein Experiment: Die Gemeinschaft spielte eine wichtige Rolle. Neben den einzelnen Parzellen der Wohnhäuser gibt es im Wohnprojekt Sart Saint-Nicolas in Marcinelle, Charleroi, eine gemeinschaftlich genutzte Zone. Bei den Behörden brauchte dies Überzeugungsarbeit, da eine solche Eigentumsform im Baureglement nicht vorgesehen war.
Auch Jean Englebert träumte vom Haus als industrielles Produkt, das wie ein Küchengerät oder ein Auto vorgefertigt aus der Fabrik kam und für alle erschwinglich war. Er war überzeugt, dass so auch Menschen, die sich weniger leisten konnten, gute Qualität bekommen konnten. Damit war er Teil einer Generation von Architekturschaffenden, die im technischen Fortschritt die Lösung sozialer Fragen sah. Er war aber auch Teil einer Generation, für die Bausysteme nicht mehr Mittel des Massenwohnungsbaus waren, sondern sie als Werkzeug für Teilhabe, Aneignung und Individualisierung im Wohnen verwendete. Holz als regionale Ressource nutzend, entwickelte er zusammen mit der Zimmerei Patze ein japanisch inspiriertes Bausystem, das er auch Patze nannte. Gedacht zum selber montieren, liess es zahlreiche Wahlmöglichkeiten in der Raumaufteilung und für die Fassade offen.
Ein Leben in Unordnung, aber voller Beziehungen und Geschichten, das habe sie in den Schränken ihrer Protagonisten gefunden, erzählt Elodie Degavre. Im Film fokussiert sie auf die Rolle der Architektin und des Architekten im partizipativen Bauen, nicht der Bewohnerschaft, und zeigt damit auch die gedanklichen Grundlagen, die entwerferischen und konstruktiven Mittel, die jene Architekturschaffenden in den 1970er Jahren anwendeten. Vieles davon könne heute noch genau so funktionieren und als Inspiration dienen, stellt sie fest.
Was ist heute von den Häusern für morgen übriggeblieben? La Mémé stand dafür, dass der Architekt nicht mehr Autorität ist, sondern Mediator im partizipativen Prozess. Bewohnerschaft und Haus wachsen zusammen, Aneignung ist immer wieder von neuem möglich, indem die Struktur flexibel nutzbar ist und die Räume adaptierbar sind. Das Haus blieb, während Generationen von Studierenden dort wohnten, sich einrichteten und wieder auszogen.
Die kräftigen Farben der Fassaden der Stahlhäuser in Marcinelle sind inzwischen ausgeblichen, Grün wuchert sie ein. Es sind Häuser, die belebt und vielfältig sind; die Architektur bildet den Rahmen für das Leben, das in ihnen stattfindet. Die Zeit bleibt nicht stehen. Wohnen? – Es sind stets Momentaufnahmen einer persönlichen Welt. Manche der Häuser wurden dafür angepasst, andere blieben, wie sie waren – oder wie Jean Englebert im Film sagt: «Erst unsere Kinder werden wissen, ob das, was wir gebaut haben, Bestand hat.»
1 Gespräch mit Elodie Degavre, durchgeführt von Lucia Gratz am 14.3.2024
2 Elodie Degavre, La vie en kit, Dokumentarfilm Belgien 2022, www.elodiedegavre.net/albums/la-vieen-kit/ (abgerufen am 2.4.2024)
With tiun you get unlimited access to all werk, bauen + wohnen content. You only pay for as long as you read - without a subscription.