Ros Diamond, Kendal Noctor, Jim Stephenson (Bilder)
Der Zugang zum altehrwürdigen Naturkundemuseum fängt schon im Vorgarten an. Steine, Pflanzen und Tiere aus dem Königreich, selbst ein Dinosaurier-Skelett empfangen hier die Gäste. Der Vorgarten ist das erste Exponat des Hauses.
Stellen Sie sich ein naturhistorisches Museum vor, in dem das Erlebnis schon vor dem Betreten des Gebäudes beginnt. Exponate zum Anfassen könnten dabei zum lebendigen Erlebnis werden. Sogar das Anstehen in der Warteschlange wäre unterhaltsam. Das Urban Nature Project des Natural History Museum London (NHM) tut dies – und noch viel mehr. Dafür sind zwei Hektar Vorgarten zur Front und den Seiten des historischen Baus von 1860 umgestaltet worden. Das Londoner Architekturbüro Feilden Fowles hat die alten, geometrisch angeordneten, linearen Wege und sterilen Rasenflächen durch eine immersive Naturkunde-Ausstellung ersetzt: ein neuartiger öffentlicher Stadtgarten. Besuchende betreten das riesige Museum nun durch diesen Evolution Garden und schlendern dabei durch biologisch vielfältige Grünland-, Wald- und Feuchtgebiete mit einem grossen Teich und hoher Artenvielfalt. Die Gärten wurden für den Naturschutz sowie die Forschung angelegt. Feilden Fowles haben das Naturkundemuseum als Garten neu erfunden, indem sie Teile der Sammlungen draussen in ihrer natürlichen Umgebung zum Leben erwecken und dadurch Jung und Alt ansprechen. Dabei werden Exponate zusammen präsentiert, die ursprünglich in getrennten Museumssammlungen für Tierarten oder Naturgeschichte der Britischen Inseln zu sehen waren – mit dem Ziel der Erhaltung und Dokumentation der natürlichen Umwelt.1 Im Evolution Garden auf der Ostseite ist das Gelände zu einer lebendigen Galerie gewachsen, in der Felsen, Fossilien, Flora und Fauna in ihrer einstigen Umgebung so authentisch wie möglich anzutreffen sind. Auf der Westseite erfahren die Besuchenden im Nature Discovery Garden künftige Lebensbereiche, die der Öffentlichkeit die Auswirkungen des Klimawandels auf die Stadtnatur näherbringen.
Das Gesamtkonzept hat zu einer Landschaft mit mehreren Informations- und Erlebnisschichten geführt, in der sich die vielen Besucherinnen und Besucher besser verteilen.2 Die beiden abschüssigen Hauptwege sind so elegant integriert, dass man die geschickte Lösung des früheren Zugangsproblems kaum bemerkt. Früher stand man hier vor steilen Treppen hinauf zur Cromwell Road oder zwei Meter hinunter zur U-Bahn. Wenn man nun den U-Bahn-Tunnel des Bahnhofs South Kensington verlässt, beginnt die Reise schwellenlos in der Frühzeit der Erdgeschichte (Präkambrium), in einer dramatisch ansteigenden Schlucht, deren steile Stützmauern mit schrägen Schichten aus 26 verschiedenen Gesteinen verkleidet sind. Bis auf zwei stammen sie alle aus dem Vereinigten Königreich. Die Steinsammlung beginnt mit grauem Lewis-Gneis von den Äusseren Hebriden, der mit fast drei Milliarden Jahren der Älteste ist. Es folgen kambrische Quarzite und grampianische Granite, bevor die Zeitreise in die Silur-Ära und zum Sarsenstein führt, der mit nur 25 Millionen Jahren der Jüngste ist. Feilden Fowles liessen sich bei ihrer detaillierten Gestaltung von den Themen, der Klassifizierung und der analytischen Akribie der Museumsarbeit inspirieren. Die Umsetzung erfolgte in Zusammenarbeit mit den Wissenschaftlerinnen und den Landschaftsarchitekten J&L Gibbons. Die Steine und ihre schräge Anordnung beziehen sich auf die Schnittzeichnung des Geologen William Smith aus dem Jahr 1815, die sich im NHM-Archiv befindet. Die Ausstellung der Steine erweckt Smiths erste geologische Kartierung der britischen Inseln zum Leben. Zusammengesetzt, vermitteln ihre vielfältigen Farben und Texturen die reiche geologische Vielfalt und Geschichte des Königreichs. Messingeinlagen im Weg informieren die Passanten darüber, dass sie pro Meter fünf Millionen Jahre zurücklegen. Die Steine tauchen als Felsbrocken in den prähistorischen Gärten wieder auf. Zu jedem Stein gibt es eine Geschichte. Der sogenannte Pudding-Stein beispielsweise, in den kleine Feuersteinkiesel eingebettet sind, wurde von einem Bauern in Hertfordshire vor dem Strassenbau gerettet. Das Material der Sitzbänke in der östlichen Gartenhälfte ist ebenfalls Teil der geologischen Reise. Sie bestehen aus Granit oder Portlandstein, der an die Londoner Trottoirs erinnert.
Wenn man von der Strasse zwischen den alten Platanen vor dem Museum eine schmale Rampe hinunterfährt, erwartet die Besuchenden eine prähistorische Landschaft mit schroffen Felsen und uralten Pflanzen, Farnen, Moosen, Leberblümchen, Schachtelhalmen und Wollemi-Kiefern, von denen man glaubte, sie wären ausgestorben, bis sie in Australien wiederentdeckt wurden. Der Evolution Garden spiegelt die beeindruckende Vorgeschichte des NHM. Die Entdeckung beginnt schon lange vor der Eingangstür des Museums: Lebende Pflanzen, die mit Exponaten und Darstellungen kombiniert sind, kontextualisieren den Inhalt des Museums. Feilden Fowles haben den Pfad durch den neuen Garten mit allerlei Hinweisen versehen und zum Teil des Erlebnisses gemacht. Ein Messingumriss eines 2,5 Meter langen und 50 Kilogramm schweren ausgestorbenen Arthropleura, eines Tausendfüsslers aus der Karbon-Zeit, ist in die Oberfläche eingelassen. Darauf folgt der grösste Bewohner des Gartens: ein fünfundzwanzig Meter langer, lebensgrosser Diplodocus aus Bronze. Dank einer vorgespannten Konstruktion steht er spektakulär stützenfrei in seiner neuen Umgebung, die seinem natürlichen Habitat ähnlicher ist als die der ursprünglichen Gipsversion im Museum. Die Reise geht weiter mit einer Mischung aus Rekonstruiertem und Realem: mit Abgüssen kleinerer ausgestorbener Kreaturen, die auf Felsen gesetzt, und mit Fossilien aus der Sammlung des NHM, die in den Weg eingelassen sind, zusammen mit Messingumrissen von lebensgrossen Fussabdrücken ausgestorbener oder noch existierender Säugetiere.
In der Gesamtkonfiguration des Gartens mit der Vergangenheit im Osten und der Gegenwart sowie der Zukunft im Westen beziehen sich Feilden Fowles auf den Architekten des Museums, Alfred Waterhouse. Dieser beschloss einst, «lebende und ausgestorbene Tiere in die architektonischen Details des Gebäudes einzubeziehen – mit ausgestorbenen Arten im Ostflügel und lebenden im Westen.»3 Ernst und spielerisch zugleich verbinden Details und Hinweise die Gartenausstellungen mit dem Inhalt des NHM sowie den Fassaden des Altbaus. Ein gelenkter Blick durch eine Öffnung in einem grossen Steinblock verbindet die Terrakotta-Ammoniten auf dem Säulenkapitell mit einem Fossil im Evolution Garden. Seh- und Hörstationen aus Metall sammeln Arten nach ihren Geräuschen und regen dazu an, sich bewusst zu machen, was alles im Nature Discovery Garden lebt. In beiden Gärten gibt es aber auch Räume für ruhige Studien, Kontemplation und Rückzug. Im Osten bieten alternative Wege zum Hauptpfad die Möglichkeit, die Fauna und geologische Präparate in aller Ruhe zu entdecken. Im Nature Discovery Garden gibt es versteckte Bereiche mit Holzliegen, die zum Betrachten der Baumkronen einladen. Im Wildlife Garden im Westen baut man auf Bestehendes. In diesem «lebenden Labor» haben seit seiner Einrichtung 1995 zur Untersuchung der Auswirkungen des Klimawandels zweihundert Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Museums mehr als 3500 lebende Tier-, Pflanzen- und Pilzarten erfasst.4 Der zentrale Teich wurde um mehr als die Hälfte vergrössert, ist biodivers gestaltet und von einer Aussichtsplattform oder vom Weg aus zugänglich. Beim Teich weitet sich der Pfad zum Klassenzimmer im Freien samt grossem Eichentisch. Hier untersuchen Kinder aus dem Wasser gefischte Fundstücke und vergleichen sie mit den Abbildungen am Rand des Tisches.
Das Urban Nature Project umfasst neben dem Vorgarten auch zwei kleine Gebäude aus tragendem Stein und Douglasienholz: die Garden Kitchen, ein Café und einen Veranstaltungsraum im Ostteil des Gartens und ein Nature Activity Center im Westen mit einem Klassenzimmer, das in direkter Beziehung zur Lernumgebung im Freien steht. Die Gebäude entsprechen der ganzheitlich nachhaltigen Vision des NHM für das Projekt und dessen Instandhaltung. Sie setzen die Praxis von Feilden Fowles fort, den Kohlenstoffausstoss durch Lean Building-Methoden5 zu reduzieren, wie sie das in ihrem eigenen Studio und in der Scheune der Waterloo City Farm demonstriert haben. In beiden Fällen fanden Lowtech-Prinzipien Anwendung. Der Pavillon der Gartenküche steht vor dem Paläontologieflügel, einer 1976 realisierten Erweiterung mit Betonelement-Vorhang. Feilden Fowles’ eingeschossiger Pavillon folgt dessen Raster. Die Architekten füllen den teils leeren Sockel mit Servicefunktionen. Ergänzt wird das Café durch die Verglasung des einst offenen Erdgeschosses des achteckigen Turms der Paläontologie und dessen Umnutzung zu einem Veranstaltungsraum. Das massive, tragende Mauerwerk des Cafés besteht aus drei Sorten von Kalkstein. Sie bilden das Tragwerk beider Gebäude und reagieren gleichzeitig auf die horizontal gestreiften Farben der Terrakottafassaden von Alfred Waterhouse. Der zu einer Sitzbank geformte Sockel besteht aus grauem Purbeck-Spangle-Kalkstein, die Säulen aus Clipsham- und Ancaster-Kalksteinen, darüber liegen Stürze aus Kunststein. Das Prinzip ist bei beiden Gebäuden ähnlich: Neben dem Einsatz von Naturstein bleibt in beiden Pavillons die Holzkonstruktion im Inneren sichtbar und tragend, was jeweils eine um 45 Grad gedrehte Ecksäule deutlich macht.
Unter dem einfachen Satteldach des Nature Activity Centre liegt eine Abfolge von Klassenzimmer, Personalraum, Büro und kleinem Labor – alle mit Blick auf den Garten. Das Regenwasser fliesst künftig über die Holzschindeln des Dachs auf elegante Weise in Steinrinnen an beiden Längsseiten – ein Bekenntnis, anfallendes Wasser zu sammeln und zur Gartenbewässerung wieder zu nutzen. In einem kleinen Nebengebäude sind eine Werkstatt und ein Werkzeuglager untergebracht. Gärten wie Gebäude haben Feilden Fowles im Sinn einer nachhaltigen Umgebung minutiös geplant und gleichzeitig mit ausdrücklicher Faszination und Freude Bezüge auf die Bestände des Museums gesponnen.
Das Gelände des NHM ist der grösste öffentliche Garten in der näheren Umgebung, in einem Viertel, in dem private Gärten durch Zugangstore gesichert sind. Die Neugestaltung hat die konventionellen Ansichten über Museumsausstellungen und Londons typische, pflegeintensive öffentliche Gärten auf den Kopf gestellt. Unerwartete Ausblicke stellen den Doppeldeckerbussen Londons und den Stuckhäusern Kensingtons eine verlorene Landschaft gegenüber. In seiner Darstellung von Gegenwart und Zukunft zeigt das Urban Nature Project das Potenzial für Vielfalt und gibt ein Beispiel für Londons Aussenräume.
Ros Diamond führt seit 1991 das Büro Diamond Architects in London. Sie ist Korrespondentin von werk, bauen + wohnen in der britischen Hauptstadt.
Aus dem Englischen von Roland Züger Originaltext
1 Der erste Direktor Richard Owen konzipierte das naturhistorische Museum als eine «Kathedrale der Natur» mit zwei Sammlungen: Die eine sollte «ein Inbegriff der Naturgeschichte» sein, mit den «Charakteren der Provinzen, Klassen, Ordnungen und Gattungen des Tierreichs», d.h. das Index-Museum, die andere sollte die Naturgeschichte der Britischen Inseln illustrieren. Vgl. Mark Girouard, Alfred Waterhouse and the Natural History Museum, London 1999.
2 Als zweit grösste Museumsattraktion Grossbritanniens verzeichnet das Museum 5,5 Mio. Besuchende pro Jahr.
3 «Die Dekoration der Gebäudefassaden mit Pflanzen und Tieren aus der Sammlung erfolgte auf Veranlassung von Richard Owen» vgl. Mark Girouard, London 1999, FN 1.
4 Als J & L Gibbons um eine Liste der vor Ort vorkommenden Arten baten, erhielten sie eine 33 000 Seiten umfassende Excel-Tabelle!
5 Feilden Fowles beschreiben Lean Construction als schlankes Bauen in Material und Struktur, das einer Ära der bedrohten Ressourcen angemessen ist.
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