Patrick Düblin, Beat Bühler (Bilder)
Verschachtelte Baukörper, verwinkelte Gassen und üppige Dachgärten bieten neue Antworten auf verdichtetes Wohnen in der Agglomeration. Das Experiment zwischen Gemeinschaft und Privatheit findet grossen Anklang, auf den Gartenterrassen wachsen grüne Oasen.
Vor rund hundert Jahren verhöhnte man die Häuser der Weissenhofsiedlung in Stuttgart aufgrund ihrer orientalischen Erscheinung noch als «Vorstadt Jerusalems». Neben den flachen Dächern und weissen Fassaden war auch die verhältnismässig niedrige Dichte Stein des Anstosses, weshalb konservative Kreise über die «Einfamilienhäuser im Quetschsystem» spotteten.1 Ein Jahrhundert später scheint der Wind gedreht zu haben. Satteldachsolitäre mit grosszügigem Umschwung erfreuen sich zwar immer noch grosser Beliebtheit, aber die Grundstückspreise und der politische Wille zum Quetschen beflügeln neue Ideen für verdichtetes Wohnen. In Kempraten, dem nördlichen Ortsteil von Rapperswil-Jona, hat das lokale Architekturbüro Raumfindung eine Siedlung entworfen, die eine experimentelle Antwort zur Frage der Verdichtung bietet.
18 dicht verschachtelte zwei- bis dreigeschossige Quader mit verwinkelten Vorplätzen präsentieren eine geometrische, mediterran anmutende Topografie. Der Pizzakurier habe sich zuerst in diesem Labyrinth verirrt, schwärmte danach aber von der Marrakesch-Atmosphäre, erzählt Beat Loosli, Inhaber des Büros Raumfindung. Das Interesse an der Siedlung sei gewaltig gewesen: Für die 24 Eigentumswohnungen mit 2,5 bis 6,5 Zimmern hätten sich 450 Interessierte registriert (nach Bekanntgabe der Preise immerhin noch 150).
In der Tat hebt sich die Siedlung von den angrenzenden Einfamilien- und Reihenhäusern deutlich ab. Genauso wenig verbindet sie mit den für den Seeblick optimierten terrassierten Überbauungen am Hang. Ihr Erscheinungsbild gründet in einer föderalistischen Besonderheit, dem Sondernutzungsplan, der im Kanton St. Gallen diverse Abweichungen vom gültigen Baurecht zulässt. Insgesamt erlaubte dieses Planungsinstrument, die Siedlung höher, länger und 20 Prozent dichter zu bauen, was ihre Erscheinung massgeblich prägte. Unter anderem ist die würfelförmige Bauweise mit den Vor- und Rücksprüngen eine Kompensation für die Überlänge. Voraussetzung für die Abweichungen waren die Ausschreibung eines öffentlichen Wettbewerbs und die Erfüllung bestimmter städtebaulicher Kriterien, darunter Möglichkeiten für Aufenthalt und Spiel.
Durchzogen wird die Siedlung von einem gassenartigen Fussweg, der entlang markanter Betonmauern und junger Hecken zu zwei platzartigen Räumen führt. Der eine ist mit einem Brunnen bestückt, der andere mit Riesen-Schachbrett und Sandkasten. In die Mauern eingelassene Sitzbänke rahmen die Plätze und warten darauf, benutzt zu werden. An diesem sonnigen Wochenende ist es ruhig in der Siedlung – es ist erst Februar. Die unterschiedlichen Höhen der Gebäude und die unverglasten Fenster in den Mauern der Dachterrassen erzeugen ein imposantes Schattenspiel in den verwinkelten Gassen. Es seien im Herbst, kurz nach Einzug, vor allem Familien mit kleinen Kindern gewesen, die bisher zueinander gefunden und die öffentlichen Räume belebt hätten, bemerkt Loosli. Er erhofft sich in Zukunft sichtbare Spuren der Aneignung und deutet auf ein Vogelhäuschen auf einem Balkon, eines der wenigen Anzeichen, dass die 24 Wohnungen seit November belegt sind. Gerade die Patios, die gepflasterten, halbprivaten Nischen, die zu jeweils 2–3 Eingängen führen, böten Platz zur individuellen Aneignung. Sie sind darauf ausgelegt, dass sich die Wege der Bewohnerinnen und Bewohner kreuzen. Bewusst habe man davon abgesehen, die obligate Tiefgarage direkt mit den Wohnungen zu verbinden. Die Möglichkeit, bei einem Umweg über den Hof mit der Nachbarin zusammenzutreffen, wurde höher gewichtet als individuelle Bequemlichkeit.
Über die Wirksamkeit des Bekenntnisses zum Austausch wird man erst in ein paar Jahren ein Fazit ziehen können. Dass die Nutzenden oft andere Ansprüche haben, als von den Planenden intendiert, zeigt sich just in der Begegnung mit einer Bewohnerin, die in der leicht abfallenden Topografie ihres Gartens ein Hindernis für ihren automatischen Rasenmäher reklamiert. Sie werde das Terrain begradigen müssen. Auch das ist eine Form der Aneignung.
Der Kontrast zwischen den dicht gefassten, platzartigen Räumen im Innern der Siedlung und ihren offenen Gärten zur Aussenseite könnte kaum grösser sein. Hier die städtisch anmutende Gasse, dort der dominante grüne Rasen, das Markenzeichen der Agglo. Die jungen Wildhecken am Strassenrand erlauben noch direkte Einblicke in die Erdgeschosswohnungen. Deren mit Überhöhen ausgestatteten Essbereiche öffnen sich durch grosse Fensterfronten zum Garten hin. Keine Wohnung gleicht der anderen: Sowohl die Etagen- als auch die Duplexwohnungen sind individuell organisiert. Innerhalb der Siedlung wird das Blickregime umgekehrt: Von den Terrassen im zweiten Stock hat man aufgrund der verschachtelten Anordnung der Gebäude einen ausgezeichneten, fast schon panoptischen Überblick über die Geschehnisse in den Aussenräumen. Um einen Ausgleich zwischen Einblicken und Rückzugsmöglichkeit sicherzustellen, wurde mancherorts auf bauliche Sichtschutzmassnahmen zurückgegriffen. Die Fenster der Badezimmer weisen messingfarbene Gitter mit Blatt-Ornamenten auf, die an dekorative Fenstergitter aus der indischen oder arabischen Architektur erinnern. Zugleich spielen sie auf die Obstbäume in der Siedlung an: Die hochstämmigen Apfelbäume in den Privatgärten tragen die lokale Sorte Jonagold. Um die Parterrewohnungen vor neugierigen Blicken zu schützen, hat man einige Sitzplätze hinter einer massiven, 1,80 Meter hohen Mauer versteckt. Es fragt sich, ob hier nicht subtilere Massnahmen denkbar gewesen wären. Kontrast und Milderung versprechen die angrenzenden Stauden und Gräser sowie die Rankhilfen für Kletterpflanzen des Landschaftsarchitekturbüros Zwischenraum.
Die Highlights der Siedlung sind die Dachgärten der insgesamt zehn Wohnungen in den Obergeschossen. Mit einer Ausdehnung von rund 100 Quadratmetern bilden sie das Pendant zu den konventionelleren Gartenbereichen der Parterrewohnungen (durchschnittlich 150m2) und spiegeln das Versprechen der Architekturschaffenden, alle Wohnungen der Siedlung mit einem privaten Garten auszustatten. Ihre Umfriedung rückt die Dachgärten in die Tradition der Horti conclusi. Die äussere Einfassungsmauer – ein Charakteristikum, das ebenfalls durch den Sondernutzungsplan möglich wurde – schafft Intimität und bietet dennoch Aussichten in alle Richtungen. Fernblicke seien zwar kein Thema gewesen; in der Tat blickt man nicht etwa auf den See, sondern auf die Solaranlage des Nachbarn. Der Fokus liegt vielmehr auf den Gehölzen und Staudenpflanzen mit jahreszeitlichem Aspekt. Sie präsentieren sich in erhöhter Lage, gerahmt von einem massiven Betonbassin, das auch als Wasserspeicher dient. Von der Küche durch die vollverglasten Schiebetüren betrachtet, ergibt der Dachgarten mit seinen terrassierten Ebenen und der thronenden Felsenbirne ein sorgfältig komponiertes Bild. Die heterogenen Materialien und Verarbeitungen (Kieselsteine, Holzrost, Bodenplatten) sorgen für interessante Kontraste mit der Bepflanzung, der jedoch im Verhältnis dazu überraschend wenig Raum zuteilwird. Die verschiedenen Ebenen erlauben vielfältige Nutzungen: als Ort der Besinnung und des Rückzugs sowie als Bühne für hedonistische Geselligkeit. Inspiration fand das Büro Raumfindung in den Hängenden Gärten von Babylon, südamerikanischen Pueblosiedlungen und den baumbestandenen Stadtmauern der Stadt Lucca. Das erklärt das architektonische Verständnis von Gartengestaltung, das in der Rapperswiler Siedlung omnipräsent ist. Die Hecken gehen in Mauern über, Zierapfelbäume sind in Betonbeete gefasst, hier und da werden terrassierte Rasenflächen mit Steinplatten begrenzt.
Mit ihren grosszügigen Räumen und der Ausrichtung auf einen Garten stehen die Wohnungen konventionellen Einfamilienhäusern in nichts nach – im Gegenteil: Aufgrund ihrer hohen Dichte sind sie ein Beitrag gegen Zersiedelung. Die mediterrane Atmosphäre im Innern der Siedlung ist erfrischend und kontrastiert mit der einheimischen Pflanzenwahl. Offen bleibt hingegen, ob gemeinschaftsorientierte Qualitäten in dieser Lage überhaupt erwünscht sind. Sind die Plätze tatsächlich dazu gedacht, von Auswärtigen mitbenutzt zu werden? Eine vorläufige Antwort gibt die charakteristische Gasse mit den zwei Plätzen gleich selbst. Da sie in die Sackgasse des Obstgartenwegs führt, bleibt ihre Durchgangsfunktion bescheiden.
Mit dem starken Kontrast zwischen innen und aussen sowie dem Zusammenspiel von Gemeinschaft und Privatheit, Transparenz und Sichtschutz, Schlichtheit und Ornament besticht die Siedlung. Der experimentelle Charakter trifft gerade in Bezug auf den suburbanen Kontext zu, der stellvertretend für grosse Teile der Schweiz ist. Mit der Neuauflage einer dichten, kubischen Bauweise mit imposanten Dachterrassen stellt die Siedlung ein seltenes Beispiel für «low-rise, high-density» dar. Man darf hoffen, dass es Schule macht. Bis dahin ruht die Siedlung inselhaft im Kemprater Aggloteich und besinnt sich auf ihre nach innen gerichteten Qualitäten – wie der Hortus conclusus.
Patrick Düblin (1986) hat Kunstgeschichte und Philosophie studiert und am Departement Architektur der ETH Zürich promoviert. Er befasst sich vielfältig mit urbaner Transformation, bevorzugt aus der Fussgängerperspektive. Zurzeit ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Berner Fachhochschule.
1 Die Zitate stammen von Paul Bonatz (1926) bzw. aus der Zeitschrift Deutsche Bauhütte (1932). Siehe Karin Kirsch, Die Weissenhofsiedlung: Werkbund-Ausstellung «Die Wohnung» – Stuttgart 1927. Stuttgart 1987, S. 206–207.
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