Jasmin Kunst, Sven Högger (Bilder)
Poetische, fast unmerklich kleine Gesten werten den Freiraum des steilen Tessiner Bergdorfs auf. Sie ermöglichen den Alten, länger hier zu wohnen, schaffen Orte fürs Zusammensein und machen Erinnerungen sichtbar.
Das Tessin ist wohl einer der fotogensten Kantone. Das liegt unter anderem an Bergdörfern wie Monte. Schroffe Felswände, steile, dunkelgrün bewaldete Hänge, die Enge zwischen den Häusern, die Schwere der vor vielen hundert Jahren aufgemauerten Steine, dazwischen immer wieder diese Weite, die sich auftut. Am südlichsten Ende der Schweiz, einige Kilometer hangaufwärts von Mendrisio, empfängt einen eine Landschaft, die demütig stimmt. Noch heute ist der Spaziergang durchs Dorf schweisstreibend – wie beschwerlich war das Leben hier wohl früher?
Dass Schönheit allein noch lange nicht reicht, um ein Dorf am Leben zu erhalten, weiss man in Tessiner Bergdörfern besonders gut. Viele von ihnen leeren sich, die Jungen zieht es in die Städte. Auch die Alten müssen ihre Heimat verlassen, wenn es den Körper zu viel Kraft kostet, die vielen Stufen und steilen Wege zu überwinden. Diesen Zeitpunkt des Wegzugs zögert das Projekt von Studioser (vgl. wbw 10–2022 JAS) etwas hinaus. Handläufe geben nun Halt, Sitzbänke bieten einen Ort für die wohlverdiente Verschnaufpause.
Mit einer Art Akupunktur bauten Rina Rolli und Tiziano Schürch den öffentlichen Raum in Monte, wo knapp hundert Leute wohnen, altersgerecht um. Ihre kleinen Interventionen haben ein riesiges Echo ausgelöst. Sie erhielten sowohl den Bauwelt- als auch den SIA-Preis. Die Bilder – das dunkelgrüne Metall des Brotkastens vor den alten Steinmauern der Bottega; der feine, kupferfarbene Wasserhahn; der Handlauf – gingen nicht nur durch die Fachpresse. So viel Aufmerksamkeit für so wenig Architektur. Hat sich hier jemand vom schönen Schein blenden lassen? Was steckt hinter den ansprechenden Bildern?
Dem Projekt vorangegangen war eine Studie des Schweizer Seniorenrats. Sie untersuchte, wie die Lebensqualität von älteren Bewohnerinnen und Bewohnern in Randregionen verbessert werden kann, und sprach zehn Empfehlungen aus. Diese waren vage und betrafen nicht alle die Architektur. Als Studioser vom Bürgermeister von Castel San Pietro, der Gemeinde, in die Monte 2004 eingemeindet worden war, beauftragt wurde, ein Modellprojekt umzusetzen, stellte sie das vor die Frage: Wie greift man ein in ein Dorf von einer solchen Schönheit, in dem alles zusammenpasst, alles seinen Platz hat? «Wir wussten, das Schlimmste wäre, zu viel zu machen», erinnert sich Tiziano Schürch.
Es vergingen drei Monate, ehe die beiden selbst den Stift ansetzten. Zunächst waren sie vor Ort, beobachteten, zeichneten die Topografie und den öffentlichen Raum – jede einzelne Stufe, jeden Stein. Einen genauen Katasterplan gab es nicht, geschweige denn Höhenlinien. Vor dem Entwurf eine umfassende Analyse zu machen, das gehört zum Unterricht an der ETH Zürich. Dort lernten sich Tiziano Schürch und Rina Rolli, beide im Tessin aufgewachsen, kennen. Was nicht zum Lehrplan an der ETH gehörte: von den Bewohnerinnen und Bewohnern selbst zu lernen. Die beiden führten ausführliche Interviews mit ihnen und den Schlüsselfiguren des Dorfs: der Verkäuferin des Dorfladens, Mitarbeitenden des ethnografischen Museums, mit einem Künstler, der zeitweise hier lebt. Ein Programm gab es nicht, erzählen die beiden. «Wir versuchten, Orte mit Potenzial aus der Vergangenheit zu finden.»
Aus Anekdoten wurde Architektur. Bis in die 1990er Jahre gab es zum Beispiel eine Bank auf dem Kirchplatz, direkt an das Gotteshaus angebaut. Sie wurde jedoch aus logistischen Gründen abgebrochen. Rina Rolli und Tiziano Schürch stöberten in privaten Fotoarchiven, auf Hochzeitsfotos fanden sie im Hintergrund schliesslich jene Bank. Im Geist der Vergangenheit entwarfen sie eine neue Sitzgelegenheit: wieder an der Peripherie des Platzes, angebaut an ein Haus. Ergänzt wird sie durch eine Wasserstelle, bei der das Wasser aber nicht direkt versickert, sondern in einer Rinne für einen Moment an der Oberfläche bleibt; hier spielen Kinder, und Hunde können trinken. «Damit sich Alte wohlfühlen, müssen sich alle wohlfühlen», erkannten Studioser während ihrer Recherche. Neben den Alteingesessenen gibt es auch zugezogene Familien mit Kindern. Die Handläufe sind deshalb Angebot für Gross und Klein. Neben einer Gehhilfe sind sie auch Murmelbahn. Das Spiel mit den Kugeln ist verankert im Tessin: Alte Gazosaflaschen öffnete man, indem man eine kleine Glaskugel in die Flasche drückte. Auch auf der Piazza, eine Strasse weiter oben, taucht das Motiv wieder auf. In den neuen Pflasterstein sind vier runde, rosarote Steine eingelassen. «Vor Prozessionen wurde früher der Baldachin hier aufgestellt.» Die vier Vertiefungen im Boden nutzten die Kinder aber auch anders: Sie spielten ein Spiel, bei dem Murmeln ins Loch getroffen werden mussten.
Auch bestehende gemeinschaftliche Treffpunkte werden durch den Umbau gestärkt. In der Bottega, dem Dorfladen, gibt es zusätzliche Tische; transparentes Glas in der Eingangstür und ein neuer Schriftzug geben dem Ort zusätzliche Öffentlichkeit. Und ein Ritual bekommt einen Ort: In einem grünen Möbel vor dem Eingang des Ladens gibt es eine Ablage für Brot, das ein Bäcker der Region täglich ins Dorf liefert.
Jeder Eingriff hat seine Funktion in der Gegenwart, erzählt aber auch über die Vergangenheit des Orts, seine Menschen, die genauen Beobachtungen von Studioser. Infotafeln mit QR-Code machen die Informationen verfügbar.
So leicht es ist, dem Tessin zu verfallen, so einfach ist es auch beim Projekt in Monte. Nichts ist zu viel, alles ist wohlüberlegt. Vor Ort ist schnell klar: Tiziano Schürch und Rina Rolli entwerfen nicht nur, um schöne Bilder zu produzieren. Sie erfinden auch keine neuen Geschichten. Alles ist schon da – es muss nur gefunden werden. Ein Traum für Architektinnen und Architekturjournalisten, die nun regelmässig durchs Dorf streifen. Die Bewohnenden selbst verstünden den Rummel um das Projekt nicht, erzählen die beiden. «Sie blicken ganz unsentimental zurück auf die Vergangenheit ihres Dorfs, viele erinnern sich an beschwerlichere Zeiten.» Und auch die Abwanderung wird das Projekt nicht stoppen, da sind sie realistisch. Dafür braucht es mehr: Wohnraum, die Möglichkeit, zu arbeiten, eine gute Anbindung, die nötige Infrastruktur. Die Stärke des Projekts liegt nicht in den einzelnen Eingriffen. Sie liegt in seiner Präzision, seiner Bescheidenheit und der empathischen Arbeitsweise von Studioser. Im Freiraum kommen viele Fäden des Dorflebens zusammen, genau diese Orte stärken die beiden, und zwar von innen heraus. Das setzt Bewegung in Gang, die auch über Monte hinausstrahlt: Studioser unterrichtet an der Fachhochschule in Mendrisio und entwickelt mit Studierenden Ideen für die Umnutzung von Gemeindehäusern, die nach Gemeindezusammenschlüssen nicht mehr gebraucht werden. Andere Gemeinden im Tessin und in Uri sind bereits dabei, ähnliche Prozesse in die Wege zu leiten. Die Bottega in Monte hat jetzt wieder länger geöffnet. Und oberhalb des Dorfs ist ein Spielplatz im Bau – eine Einladung an eine neue Generation.
With tiun you get unlimited access to all werk, bauen + wohnen content. You only pay for as long as you read - without a subscription.