Sabine von Fischer, René Dürr (Bilder)
Wir begegnen sehr vielen Geräuschen im Verlaufe eines Tages. Nicht jedes Rauschen muss immer gleich Lärm bedeuten, findet die Autorin. Unabhängig von ihrem Essay schenkt auch René Dürr mit seinen Fotos aus Zürich dem Stadtraum sein Gehör.
Der Regen tropft erst fein und leise, dann wird er lauter und schneller. Spätestens wenn er in rasendem Tempo auf das Blech der Dachrinne prasselt, reissen mich die Tropfen, die zu Strömen geworden sind, aus dem Schlaf. Da ist sie also wieder, diese Perkussion des Alltags, die Musik des Wetters, das Ereignis der Jahreszeiten, öfter im Frühjahr oder Herbst. Meist finde ich mitten im tosenden Rhythmus des Regens wieder in den Schlaf. Oder ich liege da und denke, dass ich diesen Rhythmus gerne mag, wenn er mich einhüllt in die Töne der Launen des Himmels und der Wetterlage. Wäre es nicht so, fände ich keinen Schlaf mehr.
Wir wohnen unter dem Dach. Die Dachrinne läuft um das Schlafzimmer herum. Das Ereignis des Regens teilt sich akustisch mit, obwohl sich das Dach schützend über uns legt. Wir bleiben trocken, aber wir hören alles. Hätten wir diesen Regen nicht gern, wäre er ein Lärm – ein Wort, dessen Ursprung mit dem Alarm als Gefahrenmeldung verbunden ist. Zwar nicht im militärischen Sinn von «all’arme!», auf den das Herkunftswörterbuch der Dudenredaktion verweist, aber als dringliche Information. Ob diese uns beunruhigt oder nicht, ist dann uns selbst überlassen. In unserer Dachwohnung bleiben wir trocken, kein Vieh muss in den Stall gebracht werden, es gibt keinen Grund zur Unruhe. Meine Familie mag das rhythmische Prasseln des Regens gern – sonst könnten wir hier nicht mehr wohnen.
Dieser Regen-Rhythmus, so denke ich in den Nächten, wenn ich wach daliege, ist für mich kein Lärm, weil er beruhigen kann wie das Rauschen des Meeres. Das Wasser trägt Leben in sich, ich mag diese Töne gern. Allerdings, das spielt ebenfalls eine Rolle: Diese Momente des strömenden Regens auf unserem Dach sind besondere Ereignisse. Es sind Ausnahmen. Es wäre alles anders, wenn es jede Nacht so laut wäre. Oder wenn es ein anderes Rauschen wäre, beispielsweise von strömendem Verkehr.
Ich würde den Motorengeräuschen keine Euphorie, auch nicht über technischen Fortschritt, entgegenbringen. Der Strassenlärm bereitet Sorgen aller Art, sogar der Politik, denn viele Menschen können ihren Alltag ohne rollende Karosserie nicht mehr bewältigen. Viele beklagen sich über Lärm und Stress und verursachen selbst zu viel davon. Strukturierte Fassaden und entsiegelte Böden befördern angenehme Geräuschkulissen. Am besten aber hilft, wie Fachleute seit Jahrzehnten betonen, die Reduktion von übermässigem Lärm an der Quelle. Dass letztes Jahr drei Freunde an verschiedensten Orten, in New York, Berlin und Zürich, ihr Auto losliessen, gibt mir Zuversicht: Dies hilft nicht nur der Luft-, sondern auch der akustischen Qualität von Städten und Landschaften.
Technische Geräusche werden von einer Mehrheit der Bevölkerung als störend bewertet, die Töne der Natur dagegen als angenehm – vom Blätterrauschen bis zu Tierstimmen oder Regenprasseln. Dies haben schon im letzten Jahrhundert wissenschaftliche Studien mit Zahlen hinterlegt.1 Diese mehrheitlich negative Haltung gegenüber dem Sound von Motorengeräuschen begründet allerdings nicht die wachsende Sorge um den Verkehrslärm. Das Problem mit dem Verkehr ist, dass er nicht, wie ein Gewitter, ein besonderes Ereignis ist, sondern allgegenwärtig.
Ständiger Lärm belastet das Nervensystem und den Kreislauf, weil diese durch eigentlich bedeutungslose Geräusche benachrichtigt werden und so unter einer Art Daueralarm stehen – auch wenn wir längst wissen, dass uns der Verkehr nichts antun wird. So, wie ich in Gewitternächten überlege, dass ich den Regen liebe, entscheidet das Gehirn in lärmigen Situationen pausenlos, dass alles in Ordnung ist. Oder vielleicht auch nicht. In beiden Fällen gibt es eine Anstrengung, weil wir Informationen verarbeiten.
Um solchen Stress zu mindern, gibt es einerseits gesetzliche Vorschriften, beispielsweise zu maximal zulässigen Strassenlärmimmissionen in Wohnungen, insbesondere Schlafzimmern. Andererseits zeigen die Regeln der Klangraumarchitektur, wie die Aufenthaltsqualität über positive Hörlebnisse verbessert werden kann. Darüber wurden zahlreiche Studien veröffentlicht und Bücher geschrieben, und es kommen ständig neue dazu.2
Geradeso wichtig wie der Schutz durch Grenzwerte ist das Bewusstsein, dass jede ihre eigene Klangarchitektin und jeder sein eigener Klangarchitekt sei, wie Linda-Ruth Salter und Barry Blesser in ihrem Buch Spaces Speak, Are You Listening? geschrieben haben.3 Je nachdem, wo wir stehenbleiben, nahe einer Mauer oder an der Uferkante zum offenen Wasser, in der Ecke eines geschlossenen Raums oder am offenen Fenster, erleben wir den Klang des Raums anders. Oder: den Lärm des Raums. Oder: die Töne, oder: Geräusche. Oder, wertungsfrei: den Schall. Am Ende sind alles Schwingungen, die sich von einer Quelle wegbewegen und sich bei der Ausbreitung verändern, je nachdem, welchen Hindernissen die Druckwellen des Schalls begegnen.
Die Schallausbreitung geschieht dreidimensional: An Boden, Decke, Wand, an Mauern, Bäumen und Hecken wird Schall reflektiert, gestreut, gebogen, absorbiert, und dann wieder an der nächsten Oberfläche, und wieder, und wieder. Das Ohr kann sich räumlich an diesen Schallreflexionen orientieren, das menschliche Vorstellungsvermögen allerdings scheitert schnell an den komplexen Wegen des Schalls. Deshalb gibt es unterdessen rechenstarke Simulationsprogramme, die diese verschlungenen Wege des Schalls visualisieren können. Und dann, wenn der Mensch, das Ohr, sich zwei Meter nach vorne bewegt, hört sich der Klangraum schon wieder ganz anders an – und die Berechnung beginnt von vorn.
Das Interessante am Buch von Salter und Blesser ist, dass eine Soziologin und ein Elektroingenieur es gemeinsam geschrieben haben. Dabei hielten sie ihre unterschiedlichen Perspektiven auf das Thema in einem ständigen Austausch. Ein solcher ist bei allen Gestaltungsthemen wichtig. Beim Raum, den das Ohr wahrnimmt, scheint er von ganz besonderer Bedeutung.
Die Geschichte des Lärms ist immer auch eine Geschichte der Verteilung der Macht. Wer kann sich Gehör verschaffen? Und wer darf Lärm machen? Anfang des 20. Jahrhunderts, als die ersten Vereine sich gegen übermässigen Lärm zu organisieren begannen, basierten die Argumente gegen den Lärm nicht nur auf der gesundheitlichen Schädigung, sondern vor allem auf moralischen Werten. Die Verteidiger der Ruhe wollten Strassenmusikanten und unnötiges Hupen verbieten.
Im 21. Jahrhundert stören nicht mehr einzelne Geigen oder Hupen, sondern eher die vielen Geräusche, die nicht zuzuordnen sind und für die eigene Lebenswelt bedeutungslos scheinen. Konflikte um Geräusche im öffentlichen Raum drehen sich um Lautstärken, gleichzeitig betreffen sie die eigene Identität, Identifikation mit den Räumen des Alltags und die Erfahrung von Selbstwirksamkeit. Die Resonanz der Alltagsgeräusche ist nicht nur eine akustische Angelegenheit (die sich messen lässt), sondern auch eine auditive (die von der Hörwahrnehmung bestimmt ist) und eine soziale, wie sie der deutsche Politikwissenschaftler Hartmut Rosa mit seinem Buch Resonanz 4 in die öffentliche Debatte eingebracht hat.
Partizipative Prozesse bei der Gestaltung von Freiräumen fördern die Selbstwirksamkeit, wie Fachverbände empfehlen.5 Dies hat auch eine akustische Dimension: Die «hohe akustische Qualität», die in diesen Ratschlägen der Fachleute ebenfalls erwähnt ist, hat drei und mehr Dimensionen: Es gibt die räumliche Ausbreitung des Schalls und die Anordnung der Elemente im Raum, die mit ihren Materialien, Oberflächen und ihren strukturellen Qualitäten diese Ausbreitung beeinflussen. Hinzu kommt die zeitliche Dimension des Schallverlaufs über den Tag und mit den Jahreszeiten.
Je nachdem, wo und wie wir uns in einem Raum befinden, nehmen wir ihn anders wahr. In einem gewissen Sinn lässt sich der Klang nie festlegen, denn mit jedem Moment ändern und bewegen sich die Töne. Würde Ihnen jemand diesen Text vorlesen, hätte der Vorleser unterdessen vermutlich die Lautstärke dem Raum angepasst, Sie selbst hätten Ihre Kopfhaltung verändert, vielleicht sogar den Stuhl weiter nach rechts geschoben, damit Sie besser zuhören können. In diesem Sinn ist der Klangraum selbst ein Ereignis, das sich mit jeder Bewegung der Luft, der Menschen und der Dinge verändert. Für die Gestaltung des akustischen und auditiven Raums bedeutet dies, dass sie die schönste und schwierigste Aufgabe zugleich ist.
Sabine von Fischer ist Architektin, Autorin von Das akustische Argument. Wissenschaft und Hörerfahrung in der Architektur des 20. Jahrhunderts (gta Verlag, Zürich 2019) und beschäftigt sich mit den Wechselwirkungen von Architektur und Akustik.
René Dürr absolvierte eine Ausbildung zum Maurer und Hochbauzeichner und arbeitet seit mehr als 30 Jahren als Fotograf, seit 2002 als freischaffender Architekturfotograf. Neben Einzel- und Gruppenausstellungen wurden seine Arbeiten auch an der Architekturbiennale in Venedig gezeigt. Die hier abgedruckten Bilder entstammen der Publikation Zürich by René Dürr (AS Verlag, Zürich 2025).
1 Michael F. South worth «The Sonic Environment of Cities», in: Environment and Behaviour, 1–1969, S. 49–70. Eine quantitative Analyse empiri scher SoundscapeStudien, beginnend mit Southworths Artikel von 1969, zeigt ab 1999 eine Zunahme solcher Studien; vgl. Östen Axelsson, Sound scape: From Michael Southworth and 50 Years Ahead, unveröffentlichtes Typoskript, Jahreskongress der Association of European Schools of Planning (AESOP) 2018 in Göteborg.
2 Vgl. Cercle Bruit Schweiz, «Klangräume verstehen», «Klangräume planen», www.klangraumarchitektur.ch (abgerufen am 14.4.2025).
3 Barry Blesser, Linda-Ruth Salter, Spaces Speak, Are You Listening? Experiencing Aural Architecture, Cambridge 2006.
4 Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016; auch Hartmut Rosa, Unverfügbarkeit, Berlin 2020.
5 Siehe SIA-Merkblatt 2066 «Freiräume nachhaltig planen, bauen und pflegen», Schweizerischer Ingenieur- und Architektenverein, 2024.
With tiun you get unlimited access to all werk, bauen + wohnen content. You only pay for as long as you read - without a subscription.