Article from 7/8–2024

Der Dritte im Bunde

Ein neues Buch über die Polykatoikias von Athen

Clea Gross

Mehrere Kriege und die Zuwanderung der auf Arbeit hoffenden Landbevölkerung begründeten ein Flächenwachstum Athens, das in seiner Homogenität einzigartig ist. Nur wenige grössere Strassenräume und repräsentative öffentliche Gebäude durchbrechen dieses Muster.

Kaum ein Haus, das aus dem urbanen Gewebe in die Höhe ragt. Es handelt sich hier um ein Phänomen, das – neben demografischen Faktoren und einer fehlenden Stadtplanung – ganz pragmatisch aus einer Bauordnung erwachsen ist. Es sind die Wohnhäuser, die Athen zu einem Ganzen verweben. Bis zu zehn Geschosse hoch, beherbergen sie alle Funktionen, die das Leben in den Quartieren ermöglichen.


Allgegenwärtig sind sie, die Polykatoikias, die Mehrfamilienhäuser Athens, gebaut nach Le Corbusiers Dom-Ino-Prinzip, mit dem das Baugesetz höhere Gebäude zuliess. Finanziert wurden sie schliesslich über das 1959 in Kraft gesetzte und bis 2006 gültige Antiparochi-Gesetz, eine Art Tauschvertrag zwischen Bauunternehmer und Landbesitzer.


In ihrer Omnipräsenz wirken die Athener Apartmenthäuser gleichsam beiläufig und prägen den Stadtraum dennoch so unverwechselbar. In der jüngeren Vergangenheit rückten sie nun in den Fokus unterschiedlicher Forschungen, die sich wohl aus der enormen Vielseitigkeit des Typs im Alltag und einer damit verbundenen, neu entdeckten Zukunftstauglichkeit erklären mögen. Die neueste, hier besprochene Publikation widerspricht der geläufigen These der Polykatoikias als vornehmlich von Baumeistern errichteten Häusern.


Architekturschaffende sichtbar machen

Nach Ionna Theocharopoulous Builders, Housewives and the Construction of Modern Athens1 und dem von Richard Woditsch herausgegebenen The Public Private – Modern Athens and Its Polykatoikia2 hat sich ein weiterer, deutscher Autor an das Thema der «small-scale multistory apartment blocks»3 Athens gemacht.


Kilian Schmitz-Hübsch seziert in Athens’ Polykatoikias 1930 – 1975 den vielbeschworenen homogenen Stadtkörper der mannigfaltigen aneinandergereihten Athener Apartmenthäuser. Die für die Stadt so spezifische Gesamtheit der Polykatoikias, die als entworfene Architekturen bisher weitgehend anonym gebliebenen waren, analysiert er sorgfältig auf ihre konzeptionellen Ansätze hin. So schwärmerisch der Autor einsteigt mit seiner «Suche nach den Träumen, die in den Myriaden von Apartmenthäusern» enthalten sein müssen, so sorgfältig und nüchtern macht er sich daraufhin an die Arbeit.


Anders als Theocharopoulous Betrachtung der Polykatoikias als gesellschaftskulturelles und ökonomisches Phänomen oder Woditschs Herausarbeiten der enormen Nutzungsvielfalt und der daraus für die Stadt und ihre Zukunft erwachsenden Potenziale, sucht Schmitz-Hübsch die architektonischen Ideen und deren Entwerfenden in der vermeintlich «unstrukturierten Teppichästhetik» des Stadtkörpers, wie es in Wikipedia undifferenziert heisst. Für seine Recherche begrenzt Schmitz-Hübsch den urbanen Perimeter auf das Gebiet, in dem dieser besondere Gebäudetypus seinen Ursprung hatte. Dabei fokussiert er sich auf einen Zeitraum von 45 Jahren bis 1975, in dem sich Athen zur am dichtesten besiedelten Stadt Europas entwickelt hatte – begleitet von nicht ausbleibenden Defiziten.


Das Destillat seiner Forschung fasst der Autor und Architekt in 76 vorgestellten Bauten zusammen. Die Gebäude werden mit Texten beschrieben, neu gezeichneten Grundrissen und aktuellen Fotos dokumentiert, wodurch sich eine sehr ansprechende und gut lesbare Übersicht ergibt. Auch die Biografien der Architektinnen und Architekten stellt der Autor vor. In begleitenden Aufsätzen untersucht er die typologischen Charakteristika – die zentrale Halle, der in drei Zonen gegliederte Grundriss, die Eingangstypen – in ihren Varianzen und leitet sie aus der griechischen Baukultur her. Damit schält sich auch ein theoretischer Diskurs heraus, der die Entwicklung der Polykatoikias begleitet.


Athen wächst in drei Phasen

Wie schon Theocharopoulou unterscheidet auch Schmitz-Hübsch drei Phasen der Stadtentwicklung. Zunächst sind da die Zwischenkriegsjahre nach 1920, in denen sich der Einfluss der internationalen Moderne festmachen lässt. Emblematisch für diese Zeit steht die 1933 verfasste Charta von Athen anlässlich des CIAM-Kongresses. Interessant ist dabei, dass eine ihrer grundlegenden Forderungen – die Trennung der Funktionen – im Athener Wohnmodell gerade nicht umgesetzt wurde. Das Prinzip eines mehrgeschossigen Hauses mit Wohnungen, damals neu für griechische Verhältnisse, wird implementiert, jedoch ohne die Grossmassstäblichkeit anderer Stadtplanungen jener Zeit.


Die zweite Phase der Nachkriegszeit ab 1952 kann als Zeitraum der Konsolidierung und des Einwebens der Polykatoikias in die griechische Wohnkultur gelesen werden. Es ist die Phase, so Schmitz-Hübsch, in denen der Typus hinterfragt und vielfältige Konzepte (weiter-)entwickelt werden. Nach 1960, «when the range of concepts was increasingliy reduced to a (...) stereotypical image», entwickelt sich auch in Athen aus dem Pluralismus des Typus die griechische Massenarchitektur, die weit über die Grenzen der Hauptstadt hinaus ihre Ableger bildet.


Im vorliegenden Buch richtet Schmidt-Hübsch seinen sehr informierten, kritischen Blick auf die städtebaulichen Prozesse dieser Jahrzehnte in Athen. Ein Essay von ihm begleitet den dokumentarischen Teil, in dem die Positionen der wesentlichen Protagonistinnen und Protagonisten – von denen erstaunliche wenige bei uns geläufig sind – und ihre Verbindungen untereinander vermittelt werden. Es zeigt sich, wie überaus komplex die Einflüsse politischer und ökonomischer Macht den Diskurs prägten und in der Umsetzung der planerischen Absichten zunehmend zu Widerständen führten.


Als Dritter im Bunde ergänzt der Autor die Debatte über die Polykatoikias mit einem Buch, das neben der Informationsdichte auch das Auge erfreut und dabei den Charakter eines sehr verlässlichen Nachschlagewerks vermittelt. Das bisher stark im Vordergrund stehende Vernakuläre der Athener Wohnhäuser wird bei ihm von einer intensiven architektonischen Reflexion begleitet. Die baukulturelle Identität, welche die griechische Hauptstadt so anziehend und verheissungsvoll macht, steht im Zentrum.

Athens’ Polykatoikias
1930 – 1975
Kilian Schmitz-Hübsch
Verlag Kettler, Dortmund 2024
Mit Fotos von Dimitris Kleanthis
320 Seiten, 176 Abb., engl.
16 × 22 cm, Softcover
CHF 48.— / EUR 38.—
ISBN 978-3-987410-70-3

1 Die 2007 abgeschlossenen Doktorarbeit von Ioanna Theocharopoulou ist 2017 mit einem Vorwort von Kenneth Frampton bei Black Dog Publishing Ltd. in London erschienen.
2 Richard Woditsch, The Public Private House, Zürich 2018.
3 Ioanna Theocharopoulou, wie Anm. 1, Cover.

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