Roland Züger, Till Schuster (Bilder)
Bei einem Heft über Dresden darf ein Ausflug in die eindrückliche Landschaft elbaufwärts nicht fehlen. Als Landschaftsbegriff zwei Schweizer Malern zugeschrieben, bleibt man in der Sächsischen Schweiz heute kaum mehr allein – ein Ausflug auf dem Malerweg über bröckelnde Felsen zu einem umsichtig sanierten Schloss, in dem man verweilen möchte.
Warum nicht anlässlich der Festivitäten rund um den 250. Geburtstag des Malers Caspar David Friedrich in die Sächsische Schweiz fahren?1 Er lebte schliesslich über vierzig Jahre in Dresden und liess sich vom Elbsandsteingebirge im Südosten Dresdens inspirieren. So hat er dort auf Wanderungen manche Felsformationen gezeichnet und in Gemälden neu arrangiert. Wer einmal vor dem Bild Wanderer über dem Nebelmeer (um 1818) stand, erinnert sich an die Tafelberge im Hintergrund.
Heute Nationalpark und Tourismusidyll, verweist der Name der Sächsischen Schweiz auf seine Erfinder. Erstmals aufgetaucht in Briefwechseln um 17902, hat der Begriff spätestens mit dem 1801 veröffentlichten Reiseführer Wegweiser durch die Sächsische Schweiz des Pfarrers des Dörfchens Lohmen, Carl Heinrich Nicolai, weite Verbreitung erfahren.3 Zwei Schweizer Malern wird die Namensgebung zugeschrieben. Im April 1766 beginnt Anton Graff aus Winterthur in Dresden als Portraitmaler des Hofs seine Karriere. Drei Monate später folgt ihm der St.Galler Adrian Zingg, ein in Paris ausgebildeter Kupferstecher, an die Kunstakademie.
Nach dem Ende des Siebenjährigen Kriegs sowie dem Tod des Königs August III. und des kunstsinnigen Staatsmanns Graf Heinrich von Brühl, alles 1763, endete die glanzvolle Zeit Dresdens. Die Stadt immer noch in Trümmern, Sachsen gedemütigt und verschuldet, kommen die beiden Schweizer nach Dresden. Angesichts dessen sind Ausflüge ins Umland auch eine Flucht vor der ruinösen Stadt. Zingg war zuerst zusammen mit seinem Kollegen Graff, später mit seinen Studierenden dort unterwegs. Das Studium der hiesigen Landschaften, nicht nur jener der Grand Tour, bedeutete ein Novum in der damaligen Zeit. Galt die Gebirgslandschaft einst als unwirtlich und furchterregend, wird sie durch Zingg nun als erhaben und malerisch beschrieben: Die Betrachtenden sind ergriffen, nicht mehr entsetzt.
Mit seinen Landschaftsdarstellungen war Zingg freilich nicht der Erste in Dresden, sondern stand in der Tradition der Prospektmaler Johann Alexander Thiele oder Bernardo Bellotto, genannt Canaletto. Er hat jedoch die Motive der Sächsischen Schweiz als Erster systematisch erschlossen, war stil- und schulbildend. Seine Grafiken und Veduten fanden schnell grosse Verbreitung, beispielsweise in Reiseführern oder als Souvenir im frühen Tourismus. Interessiert an geologischen Verhältnissen, sind die naturgetreuen Topografien Zinggs der Aufklärung verpflichtet, noch nicht der symbolischen Überhöhung der folgenden Zeit. So gilt er als Vorläufer der Romantik eines Caspar David Friedrich, bei dem die Natur zum Altar wird.
Auch der berühmte Malerweg wird Zingg zugeschrieben: heute ein touristisches Highlight der Region, ausgebaut auf 112 Kilometer, in acht Tagesetappen zu bewältigen. Auf die nur rund 250 Meter aufragenden Tafelberge führen oft jähe Aufstiege, früher direkt in den Felsen gehauen, heute mit Leitern bezwingbar. Entwicklungsgeschichtlich sind sie gar kein Gebirge, sondern eine Erosionslandschaft mit tief eingeschnittenen Tälern in das Plateau, auf dem die Felsen wie Exponate präsentiert sind.
Wie oft waren Zingg und Graff wohl auf der Bastei, dem wohl berühmtesten Aussichtspunkt der Sächsischen Schweiz? Seitdem sind über zwei Jahrhunderte vergangen, die Sandsteinfelsen verwittert, unterspült, zerbröselt. 2016 ergaben Untersuchungen eine ungenügende Standfestigkeit. Die letzten zehn Meter vor dem Abgrund mussten gar vorsorglich gesperrt werden. Felsnägel und Presspfähle sichern seit 2021 den Basteifelsen. Sie schaffen den sicheren Grund für die neue Krönung: die 3,30 Meter breite und 11 Meter lange Aussichtsplattform aus Spannbeton. Als Platte schwebt sie sanft über dem Grund und trägt die Touristenschar zum berühmten Blick an der Vorderkante des Felsens. Noch frei von Patina, lenkt die wohl nötige, aber mit etwas überspannter Ambition seit Anfang 2023 fertig gestellte Plattform etwas von der eigentlichen Attraktion ab: der Aussicht auf die Elbe in Blickrichtung Tschechien.4
Eine majestätische Aussicht eröffnet sich auch im Dorf Prossen, eine Elbschlaufe flussaufwärts. Das blaue Band windet sich um den majestätischen Lilienstein herum, neben der Bastei wohl der berühmteste Gipfel. Diesen vor Augen, steht der heutige Eigentümer Torsten Wiesner auf dem Balkon einer alten Ruine, des heruntergekommenen Schlosses Prossen: Kaufen oder nicht, fragt er sich 2013, und ruft den Architekten Tom Schoper an. Sechs Jahre später, um fast vier Millionen Euro ärmer, dafür um zahllose Erfahrungen reicher, kann Wiesner 2019 die Pforten des Schlosses öffnen. Von den elf Ferienwohnungen darin bewohnt Wiesner nun eine und pendelt dreissig Minuten nach Dresden in seine beiden Apotheken, die er betreibt, um sein Projekt zu finanzieren. Das kaputte Schloss ist zwar denkmalgeschützt, aber von der verborgenen Grandezza des im Barock überformten Baus war damals noch nichts zu erahnen. Die Loggia zugemauert, das Dach verrottet, die Substanz lawede5 – zuletzt diente das Haus als Postlokal fürs Dorf. Tom und Henrike Schoper haben sich akribisch in Archiven umgesehen und am Schloss Schicht um Schicht freigelegt. Mit überraschenden Funden: Stuckdecken, Renaissancemalereien sowie Wandreliefs nach Vorlagen des dänischen Klassizisten Bertel Thorvaldsen. Dieser Schmuck kam einst mit dem berühmten Vorbesitzer, dem Verleger Friedrich Brockhaus, Mitte des 19. Jahrhunderts ins Schloss. Schnell war aber klar, dass eine Grundsanierung und einiges an Rekonstruktion erforderlich war.
Doch wie finden Alt und Neu in einem lebendigen Dialog zueinander? Henrike Schoper schrieb zum Zeitpunkt des Entwurfs an ihrer Doktorarbeit über die Entwurfstheorie der Analogen Architektur von Aldo Rossi. Diese Entwurfsmethode wies dem Umbau die Richtung. Neue und alte Teile, Rekonstruktionen und Renovationen sind heute nur mit gutem Auge zu erkennen. Sie werden atmosphärisch verheiratet und gehen im stimmigen Gesamtkonzept auf, wie einst die Maler in der umgebenden Landschaft Motive und Staffagen in Stimmungsbilder komponierten. Der Wiedereinbau vorgefundener Parkett-, Dielen- oder Steinböden verstärkt diesen Effekt. Vieles sieht aus, als wäre es immer schon dagewesen.
Grundlegend war die architektonische Idee, die herrschaftliche Pracht der Räume wieder zur Geltung zu bringen. So sind die grossen Räume nun den Wohn- und Essbereichen vorbehalten. Schlafzimmer und Bäder liegen hinter eingestellten Wänden, Möbeln oder in der schmalen Raumschicht zur Westseite hin verborgen. Die abstraktere Fassung der Türen (türblattbündige Blockzargen, verdeckte Türbänder) gibt Hinweise auf diese Transformation. In barocker Fassung rekonstruiert sind die Fenster und das Dach. Dort tragen die Wohnungen ein weiss gestrichenes Holzkleid. Der offensive Einsatz von Deckleisten versichert die Glaubwürdigkeit im barocken Bestand. Unaufdringlich neu ist auch das Eingangsportal zur Vorder- und der ebenfalls dreieckige Annex zur Rückseite. Dessen Form leitet sich von der Abmessung der erforderlichen Treppenläufe her, wie Tom Schoper mit verschmitztem Lächeln erklärt. Hier trifft das überbordende Erzählen der Analogen Architektur von Fabio Reinhart6 auf pragmatischklugen Entwurfsoperationen à la Hermann Czech.7
In diesem Gespinst der Anleihen behaupten sich die freistehenden Einbaumöbel von Küche und Garderobe in vielen der Wohnungen wie eigenständige Preziosen. Auch der Einbau der Sauna ist dezidiert modern, deren geschwungene Geometrie wiederum dem Barock entlehnt. Im Zusammenspiel mit einer feinsinnigen Auswahl von Sitzmöbeln, Textilien und Leuchten ist eine gehobene und feierliche Atmosphäre als neues Ganzes entstanden, das uns auf der Recherchereise fern an das Konzept der «Ferien im Baudenkmal» hierzulande erinnert hat.
Sich in der Sächsischen Schweiz eine Auszeit zu gönnen, hat bei vielen Kunstschaffenden Tradition. Unweit von Prossen, in Gohrisch, hielt sich 1960 und 1972 der russische Komponist Dmitri Schostakowitsch auf, konkret im ehemaligen Gästehaus des Ministerrates der DDR, heute noch erhalten und denkmalgeschützt. Er schrieb an einen Freund: «Die Gegend ist unerhört schön. Übrigens gehört sich das für sie auch so: Die Gegend nennt sich ‹Sächsische Schweiz›.»8
Über hundert Jahre zuvor hatte bereits Richard Wagner die Sommermonate 1846 in Graupa verbracht.9 Geboren in Leipzig, lebte er als Kind in Dresden, wurde dort königlicher Hofkapellmeister und flüchtete 1849 nach Zürich. Wie sein Freund Gottfried Semper, dank seinem Hoftheater (1838–41) «auf einen Schlag berühmt»10, wurde auch Wagner steckbrieflich gesucht. Beide hatten an der Revolution von 1848 teilgenommen und flohen in die Schweiz – in die Richtung, aus der Graff und Zingg nach Sachsen kamen.11
1Der Titel der Dresdner Friedrich-Ausstellung «Wo alles begann» im Albertinum sowie im Kupferstichkabinett (30.8.–12.10.2024) verweist auch auf den Urquell der Romantik an der Elbe.
2 Harald Marx, «Die Schweizer Künstler Anton Graff und Adrian Zingg in Dresden», in: Dresdner Geschichtsverein (Hg.) Die Schweiz und Sachsen in der Geschichte, Dresdner Hefte 78–2004, S. 14–22.
3 Sabine Weisheit-Possél, «Adrian Zingg. Der Kuhstall der Sächsischen Schweiz», in: Petra Kuhlmann-Hodick, Claudia Schnitzer, Bernhard von Waldkirch (Hg.), Adrian Zingg, Wegbereiter der Romantik, Ausstellungskatalog, Dresden 2012, S. 140. Zu den literarischtouristischen Entdeckern gehört ein weiterer Pfarrer: Wilhelm Leberecht Götzinger, der ebenfalls viele Reiseberichte verfasste. Nicolai und Götzinger ist bei der Bastei eine Gedenktafel gewidmet.
4Detaillierte Angaben dazu finden sich in der Broschüre über den Bau der Aussichtsplattform auf der Seite des Staatsbetriebs Immobilien- und Baumanagement (SIB): www.sib.sachsen.de (abgerufen am 8. Mai 2024).
5«lawede» ist ein sächsischer Ausdruck für reparaturbedürftig, aber noch nicht ganz kaputt.
6Henrike Schoper, «Ich aber bin entstellt vor Ähnlichkeit» – Aldo Rossi und die Città analoga. Eine Theoriesuche, Diss. TU Dresden 2017.
7Tom Schoper, Ein Haus. Werk–Ding–Zeug? Gespräche mit Gion A. Caminada, Hermann Czech, Tom Emerson, Hans Kollhoff, Valerio Olgiati, Wien 2017.
8Noch heute findet regelmässig ein Musikfestival in Gohrisch statt. Vgl. www.schostakowitsch-tage.de (abgerufen am 8. Mai 2024). Für diesen Hinweis danke ich Marius Winzeler, Direktor des Grünen Gewölbes.
9Wagner ist im Jagd- schloss Graupa ein Museum gewidmet. Vgl. www. wagnerstaetten.de (abgerufen am 8. Mai 2024).
10Nach dem Brand 1869 wich es der Semperoper, dem Namen gemäss ebenfalls entworfen von Gottfried Semper. Vgl. Sonja Hildebrand, Gottfried Semper. Architekt und Revolutionär, Darmstadt 2020, S. 73 – 74.
11Auch heute herrschen politisch stürmische Zeiten. Im Dezember 2023 hat der parteilose AfD-Kandidat Tim Lochner die Bürgermeisterwahl in Pirna gewonnen. Und im Herbst 2024 stehen Wahlen für den Sächsischen Landtag an – mit guten Wahlchancen für die AfD in den ländlich geprägten Regionen Sachsens. Das sind trübe Perspektiven für die Kulturlandschaft.
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