Jasmin Kunst, Phil Bucher (Bilder)
Die Gemeinschaft ist das, was ein Walliser Dorf wie Stalden am Leben hält. Ein gemeinsamer, öffentlicher Ort für diese hat aber bislang gefehlt. Erst der Abbruch eines ungeliebten Wohnhauses aus den 1960er Jahren schafft Raum für die Neugestaltung des Dorfkerns und eine ungeahnte Weite.
Die Mitte von Stalden hat ein Loch. Konkret: einen kleinen, öffentlichen Patio, der das Zentrum des Walliser Dorfs an der Weggabelung nach Zermatt oder Saas-Fee schmückt. Fast quadratisch ist der Raum, doppelgeschossig, eingefasst von Bögen aus Beton. Eigentümlich gekippte Scheiben aus dem gleichen Material schliessen ihn oben ab, zum Himmel bleibt er offen.
Die einen sehen in diesem Raum wohl eine Betonskulptur; eine offene Schachtel vielleicht, ein Geschenk, das gerade geöffnet wurde. Ein räumlicher Akt der Vorfreude, eine verheissungsvolle Überraschung. Andere erkennen vielleicht einen sakral anmutenden Hof, halb drinnen, halb draussen, offen zu den Wolken, damit die Gedanken sich frei bewegen können. Wieder andere erkennen bestimmt die Hommage an die Villa Além von Valerio Olgiati in Portugal; im rohen Beton ein Zitat der schroffen Kargheit der Felswände der Walliser Alpen. Einigen ist dieses Bauwerk aber ganz einfach ein Dorn im Auge, ein störendes Hindernis im freien Blick auf die Landschaft. So viel vorweg: Einige Staldnerinnen und Staldner fremdeln noch mit dem neuen Dorfzentrum.
Die Programmierung des neuen Dorfkerns stiftet jedenfalls noch keinen Unmut. Neben einem Dorfplatz und einem Schulhof gibt es neu eine Einstellhalle, die das Zentrum von parkierten Autos befreit, ein Lebensmittelgeschäft mit kleinem Café, angrenzend dazu den Patio mit Aussensitzplätzen.
2020 hatte die Gemeinde einen Wettbewerb für die Neugestaltung des Dorfzentrums ausgeschrieben. Besetzt war der heutige Dorfplatz damals von einem unliebsamen Wohnhaus aus den 1960er Jahren. Das Programm liess offen, ob es stehen bleiben sollte.
Würde die Architekturszene ein Unwort des Jahres küren, hätte «Abbruch» momentan exzellente Chancen. In Stalden bestätigt aber die Ausnahme die Regel. Mit dem Abbruch des Wohnhauses, den das Atelier Summermatter Ritz in ihrem Entwurf vorgeschlagen hatte, ist ein weiteres Loch entstanden, das eine Weite schafft, die es im dichten Dorfkern so noch nie gegeben hat. Hier läuft man sich über den Weg, spontan nach dem Einkaufen oder bei einem Fest. Der Dorfplatz, eine Freifläche mitten im dichten Kern – jetzt wirkt er so selbstverständlich, und doch: Er ist eine neue Erfindung.
Hier kann nun ein lebendiges Zentrum entstehen. Das öffentliche Leben dazu hat es im Dorf durchaus bereits gegeben, – in Vereinen zum Beispiel – einen gemeinsamen öffentlichen Ort aber noch nicht. «Das Zentrum soll Dauerhaftigkeit ausstrahlen, es soll robust und beständig sein», meint Thomas Summermatter zum Entwurf. Er und sein Büropartner David Ritz, zwei junge Walliser Architekten, skizzierten eine skulpturale, harte und doch spielerische Architektur; von Imitation oder Scheunenromantik keine Spur, stattdessen eine selbstbewusste, durch und durch zeitgemässe Silhouette.
Wo einst das abgebrochene Haus stand, liegt heute der chaussierte Dorfplatz. Der sonst vornehmlich harte Belag im Dorf weicht hier einem weicheren Untergrund. «Das knirschende Geräusch der Chaussierung lässt die Menschen langsamer gehen», sagt der Architekt. Eine Gruppe aus drei Kastanienbäumen bringt Schatten, eine lange Sitzbank bietet Platz zum Verweilen. Auch wer nach dem Anknüpfen an das Bestehende, das Lokale, sucht, wird fündig; nur muss man etwas genauer hinschauen. Schatten wirft nämlich auch eine hölzerne Pergola, umrankt von wilden Reben, gebaut von einem ortsansässigen Schreiner. Die Verbindungen sind nur gesteckt, keine einzige Schraube war nötig, um die Walliser Lärchenhölzer zusammenzuhalten. Ein Brunnen grenzt den Dorfplatz locker zur Strasse hin ab. Die drei Becken sind ein Verweis auf frühere Rituale. Auf einem historischen Foto fand der Künstler Philipp Clemenz einen früheren Brunnen abgebildet, schon damals ein Treffpunkt mit drei Becken: eines zum Waschen, eines zum Spielen und eines zum Trinken.
Stalden liegt am Hang. Im Dorfzentrum treffen die extreme Topografie sowie unterschiedliche Körnungen aufeinander: historische, kleinteilige Wohnhäuser und neuere, grossmassstäbliche Schul- und Verwaltungsbauten. Der neue Dorfplatz vermittelt mühelos: Zwei Treppen vernetzen die Ebenen. Pflastersteine binden die Elemente des neuen Dorfzentrums und die bestehenden Gassen auch materiell zusammen. Die neue Einstellhalle formt gleichzeitig die Hangkante. Im Innern haben die Architekten die Natursteinmauern eines Gewölbekellers repariert und sichtbar gelassen, Überbleibsel des Grand Hotels, das hier einmal stand. Die Garage ist gleichzeitig ein Festzelt, die Staldnerinnen und Staldner können darin nicht nur parkieren, sondern auch Feste feiern. Eine Ebene höher liegt der neue Schulhausplatz, das harte Gegenstück zum Kiesplatz. Eine Pergola und die gekippten Betonscheiben über dem Patio bieten etwas Schatten. Dennoch ist die Asphaltfläche gross – genauso wie die erwartete Hitze im Sommer.
Auch der Elefant im Raum soll nicht unerwähnt bleiben: der Beton, oder eher – seine schlechte CO₂-Bilanz. Thomas Summermatter räumt ein, dass womöglich auch andere, nachhaltigere Baumaterialien den gewünschten Effekt der Verankerung im Ort erzielt hätten. Mit der Realisierung wäre es wohl trotzdem schwierig geworden. «In Zürich oder Basel etwas mit Stampflehm zu bauen, ist mittlerweile kein Problem mehr. In der lokalen Bauindustrie sind solche Materialien aber nicht verfügbar.»
Abwanderung war in den Dörfern des Oberwallis lange ein Thema. In Stalden ist die Bevölkerungszahl seit einigen Jahren stabil bei etwa 1 100 Personen. «Dafür tun wir auch einiges», erzählt Gemeindepräsident Joël Fischer. Kürzlich eröffneten ein Ärztehaus und ein Jugendtreff, ebenso gibt es eine Bibliothek und eine Kita. Mit dem Dorfzentrum erhält auch der Lebensmittelladen ein neues Lokal, dieses Mal mit Café und Sitzbereich.
Stalden will keine Tourismusdestination werden. Mit einer intakten Infrastruktur will es attraktiv bleiben, auch die Nachfrage umliegender Bergdörfer und abgelegener Weiler decken. Läuft das Dorf Gefahr, zu schrumpfen? «Nein, im Gegenteil», sagt Gemeindepräsident Fischer. Es dürfe nicht zu schnell und zu stark wachsen, sonst verliere es seine Identität. Ein Blick auf Homegate Ende Mai 2024 bestätigt das. Freie Objekte in Stalden: Null Treffer.
Mit kritischem Blick schaut man etwa zum Talausgang nach Visp, zehn Autominuten von Stalden entfernt. Mit der Lonza ist das Dorf stark gewachsen.1 Viele Menschen sind zugezogen, kennen sich aber nicht, sind nicht Teil der Gemeinschaft. Und die Gemeinschaft sei das, was ein Dorf wie Stalden am Leben halte, ist Fischer überzeugt. Im Dorf gibt es ein reges Vereinsleben: 25 Clubs widmen sich dem Sporttreiben oder Musizieren. Man kennt sich, schaut zueinander. Die Leute sind offen, haben keine Berührungsängste, das spüre ich schnell.
Keine zehn Minuten, nachdem ich am Staldner Bahnhof angekommen bin, stehe ich bei einem Glas Weisswein zum Hängertu2 auf dem Dorfplatz, neben dem ehemaligen Gemeindepräsidenten Egon Furrer. Wir treffen uns zufällig vor einem kleinen Haus, einst Stall, dann Munitionslager, das Furrer zur Weinstube umgebaut hat. Für ein Abendessen mit Freundinnen und Freunden können Besuchende das Lokal mieten und die passende Flasche aus dem Regal kosten.
Spontane Treffen sind nichts Aussergewöhnliches im Dorf. «Setzt man sich auf den Platz, bleibt man nicht lange allein. Jemand gesellt sich sicher auf einen Schwatz dazu», meint Furrer. Er ist zufrieden mit dem Projekt, das noch in seiner Amtszeit gestartet wurde. Auch wenn sich einige Bewohnerinnen und Bewohner noch an das Neue gewöhnen müssten. «Walliser tun sich schwer, mit ihren Gewohnheiten zu brechen.» Stur seien sie, und eigensinnig, aber auch direkt und tatkräftig. Nur zwei Jahre hat es gedauert von der ersten Idee bis zum Baustart des neuen Dorfzentrums.
Noch herrscht Uneinigkeit darüber, wie der Platz programmiert sein soll. Die einen wollen ihn für Veranstaltungen nutzen, Impulse setzen. Andere möchten den Platz möglichst frei halten, sodass er jederzeit allen zugänglich ist. Neue Orte brauchen neue Rituale – und die werden sich einspielen.
Ich lerne also, das Dorf befindet sich in einem sensiblen Gleichgewicht. Wachstum ja, aber moderat.3 Identität, das Wort fällt oft – und tatsächlich scheint es manchmal, als würden die Uhren hier etwas anders ticken. Bräuche werden gepflegt. Egon Furrer erzählt mir vom geplanten Schwingfest, bei dem Getränke- und Essensstände auf dem neuen Dorfplatz stehen werden, mit den alten Holzhäusern als Kulisse. An Fronleichnam – einem der wichtigsten Feiertage der katholischen Schweiz – wird eine Prozession durchs Dorf ziehen. Stalden schaut nach vorn, manchmal aber eben auch zurück. Das Militär führt seine Gewehre spazieren, die Vereine hüllen sich in ihre Trachten und Uniformen, bei einem Gläschen lauscht man der Marschmusik. Die Schweiz wie vor 100 Jahren, und im Hintergrund, man mag es kaum glauben: eine Skulptur aus gekippten Betonscheiben. Eine offene Schachtel vielleicht – oder ein schönes Geschenk.
1 Elena Lynch, «Das Wallis im Wachstumsschmerz – wie eine Region einem Konzern hinterherhechelt», in: NZZ 28.5.2022, vgl. www.nzz.ch (abgerufen am 20. Juni 2024).
2 Hängertu = plaudern, sich mit jemandem unterhalten. Bsp.: Schii hockund vorr dum Hiischi und tient mitenandre hängertu: Sie sitzen vor dem Haus und plaudern miteinander. https://walsermuseum.ch/allgemein/glossar (abgerufen am 20. Juni 2024)
3 Das Wallis ist grösstenteils eine Region des Hausbesitzes. Stalden schafft auch Alternativen: Einige Wohnungen bot es 2019 mit speziellen «Miete-Kauf-Verträgen» an, wobei sich die Mietpreise grösstenteils als Eigenkapital anhäufen, erzählt Gemeindepräsident
Joël Fischer.
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