Rahel Hartmann Schweizer, 11h45, Aurélien Poulat (Bilder)
Die Umnutzung der historischen Fabrik in ein Museum hält Erinnerungen wach und ein dreieckiges Holzdach gibt dem Dorfplatz einen neuen Mittelpunkt – ein Ort für neue Geschichten über Alltägliches und Aussergewöhnliches.
«Die Einheimischen haben wieder Besitz genommen von ihrem Zentrum. Sie treffen sich auf dem Platz, besuchen den wöchentlichen Markt, treiben Sport. An den Mittwochnachmittagen spielen Kinder Fussball und belagern den Springbrunnen, um die in unregelmässigen Abständen hervorschiessenden Fontänen abzupassen – eine ausgelassene und von ausgiebigem Gekreische begleitete Orgie. Das Leben pulsiert wieder, es ist das Herz des Dorfs. Es gibt regelrechte Prozessionen zur Grenette, dem dreieckigen Dach, so wie früher zur Kirche», erzählt Gwenaelle Grand. Sie betreibt seit zwei Jahren zusammen mit ihrem Mann Fabrice die Bäckerei in einem Haus an der Place du Foron am neu gestalteten Platz mitten im Dorf. Spaziert man hier unter freiem Himmel, wähnt man sich in einem Innenraum. Der Wechsel des Bodenbelags von Asphalt zu Beton, dessen Zementhaut entfernt und dessen Gesteinskörnung freigelegt wurde, bewirkt die Anmutung eines Terrazzobodens. Akzentuiert wird er mit grünen, je unterschiedlich bepflanzten Inseln und einigen Stühlen. Die Freiraumgestaltung, die nun Geborgenheit vermittelt, war Teil der Strategie des jungen Genfer Architekturbüros Archiplein. Es formulierte das Dorfzentrum als zusammenhängenden Aussenraum.
Dazu gehört auch der Wasserlauf des Foron du Reposoir, der das Dorf in Nordsüdrichtung quert und die lokale Industrie einst mit Energie versorgte. Er begleitet den Weg zur Grenette und zur ehemaligen Décolletage-Fabrik nebenan. In dem 1913 errichteten Gebäude wurden Drehteile gefertigt, die in der Uhren- und Medizinalindustrie sowie der Mikrotechnik und -mechanik eingesetzt wurden. Am früher mit Fabrikhallen und den Villen der Patrons bestandenen Platz ist es der letzte Zeuge in Scionzier der im letzten Jahrhundert florierenden Industrie im Vallée de l’Arve, dem einstigen Hinterhof der Schweizer Uhrenfabrikation.
Im Jahr 2016 kaufte die Gemeinde Scionzier auf Betreiben von Maurice Gradel, der als Bürgermeister die Geschicke des Ortes während eines Vierteljahrhunderts leitete, die alte Fabrik, um sie in ein Museum umzuwandeln. Es sollte die Sammlung ausgestopfter Tiere beherbergen, die der Buchhalter und während Jahrzehnten zur Jagd gehende Marcel Marquet der Gemeinde gespendet hatte.1
So anachronistisch die Idee war, so bedeutete sie doch die Rettung des Gebäudes. Ausserdem barg die seit zehn Jahren verlassene und verödete Brache, die Begehrlichkeiten potenzieller Investoren weckte, ein architektonisches Juwel. Der Nachfolger im Amt des Bürgermeisters, Stéphane Pépin, unterzog das Projekt einer Neubeurteilung. Das historische Haus sollte nun kulturellen und wissenschaftlichen Zwecken offenstehen. Heute ist die lokale Bibliothek einquartiert. Es finden Konzerte, Lesungen, Vorträge, Konferenzen und Seminare statt.
Das Umbauprojekt startete 2017, als Archiplein im Rahmen eines Konkurrenzverfahrens die Ausschreibung zur Renovation der Fabrik für sich entschied. Marlène Leroux und Francis Jacquier fokussierten auf zwei einander ergänzende Komponenten: die retrospektive und die modernistische. Die beiden beschieden sich nicht mit der Instandsetzung der Risalite, der akzentuierenden Bossensteine und der je vier Fassadenfelder dazwischen mit ihren kleinteilig profilierten Fenstern unter den Ellipsenbogen. Vielmehr sondierten sie verschüttete Merkmale, deren Rekonstruktion dem Haus eine identitätsstiftende Anmutung verleihen würde. Dabei stiessen sie auf Reste des ursprünglichen Farbkanons der dekorativen Bauteile: Rot, Gelb und Grün. Deren Rekonstruktion war auch ein Appell an das kollektive Gedächtnis, in dem die Erinnerung an diese Farben noch eingelagert war.
Der Aufruf fand Gehör, und die Industrie gibt sich wieder ein Stelldichein: Die «Damen der besseren Gesellschaft, Ehefrauen von Industriellen», die früher die Salons du Thé in Cluses oder Annecy besuchten, frequentieren heute Gwenaelles und Fabrices Boulangerie Brand. «Regelmässig reservieren diese vornehmen Frauengruppen einen Tisch bei uns.» Zur Umwandlung in ein öffentliches Haus haben Archiplein der Fabrik stirnseitig ein Peristyl hinzugefügt. Dafür haben sie den uniform beigen Kalkstein aus Hauteville-Lompnes verwendet. Der Säulengang dreht die Orientierung des Hauses und richtet es nun zum Platz aus. Dessen Schaufassade mit einem repräsentativen Eingangsportal liegt eigentlich auf der vom Platz abgewandten Seite. Die verspiegelten Fenster in acht der elf Intervalle binden die gesamte Stützenreihe zu einem Element zusammen. Dass sich die historischen Bauten auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes in den Fenstern spiegeln, staucht gleichsam die Fläche des grossen Platzes und intimisiert ihn. Und im Gegensatz zu so manchen verspiegelten Fassaden, die ihr Versprechen nicht einlösen, erscheinen die Fensterflächen wirklich entmaterialisiert und mithin transparent.
Ein Blickfang ist der Wasserspeier über dem Peristyl, den Archiplein in Anspielung an die im Französischen als Gargouilles bezeichneten eindrucksvollen Speier der Kathedrale Notre-Dame in Paris überdimensioniert und skulptural ausformuliert hat. Darin spiegelt sich ein Prinzip, das sich wie ein roter Faden durch das Projekt zieht: ein technisch notwendiges Objekt mit einer ästhetischen Prägnanz auszustatten.
Die 2020 abgeschlossene Renovation der Fabrik war der Auftakt für die urbanistische Intervention von Archiplein, die nach der Eröffnung von der Gemeinde angefragt wurden, das gesamte Zentrum zu planen. Das Vorhaben schien ambitioniert. Die Lokalzeitung der Haute-Savoie Le Faucigny schrieb am 21. Februar 2021: «Scionzier, ein kultureller Hotspot im Arve-Tal? Das Bild wird sicherlich mehr als ein Lächeln ins Gesicht zaubern!»2 Ein Jahr später beherbergte die Gemeinde das renommierte Festival Musiques en Stock, das zuvor während 15 Jahren im Nachbarort Cluses über die Bühne gegangen war. Seither strömen jeweils gegen 10 000 Menschen ins Stadtzentrum, was etwa der Bevölkerungszahl Scionziers entspricht.
Den Platz teilweise zu überdachen, war keine Anforderung der Gemeinde. Den Bau des dreieckigen Dachs, der Grenette – der Begriff ist abgeleitet von «Greniers», den Speicherbauten, in denen man früher die Vorräte aufbewahrte –, schlug Archiplein als «Werkzeug für grosse Veranstaltungen» vor, wie Leroux sagt, als sichtbares Zeichen. Marlène Leroux und Francis Jacquier ist die Verbindung von Funktion und Ästhetik, oder wie sie es nennen: «l’équilibre de l’usage et de l’effet esthétique» gelungen. Sie balancierten zwischen einem Minimum tragender Punkte zur Maximierung der Nutzung und der für die Lesbarkeit als Akropolis nötigen Anzahl Stützen. Deren Betonsockel haben dieselbe Materialisierung wie der Boden, sodass dieser nahtlos in das Fundament der Stützen übergeht und dadurch optisch mit diesen verschmilzt. Sie scheinen ihres Gewichts enthoben zu sein.
Die 680 Quadratmeter überspannende Holzkonstruktion – ein gleichseitiges Dreieck mit einer Seitenlänge von je 36 Metern – schwebt über dem Platz. Sie bezieht ihre Strahlkraft aus der ebenso komplex konstruierten wie filigran anmutenden Komposition, die auch mit einem Origami oder einem Gewebe assoziiert werden kann. Den ortsansässigen Schreiner Laurent Pernet-Solliet, der sie mit seiner gleichnamigen Firma LPS montiert hat, überraschte die Verwendung von Holz im urbanen und industriellen Kontext – einem «Ort des Eisens». So meint er lakonisch: «Es ist ein aussergewöhnliches Dach für ein aussergewöhnliches Dorf.»
Die Eindeckung mit Polycarbonat erzeugt ein frappierendes Lichtspiel. Wenn die Sonne scheint, werden die Dreiecke auf den Boden projiziert. Die Reflexion konterkariert die Zuordnung von unten und oben, relativiert das Gewicht des Dachs. Und je nach Einfallswinkel verfärben sich die Triangel. Es sind Effekte, die an Kirchen mit farbigen Glasfenstern denken lassen.
Es war denn auch eine religiöse Zeremonie, die am Tag der Vollendung des Projekts unter dem Dreiecksdach abgehalten wurde: Als magisch empfand die Bäckerin Gwenaelle Grand die Abdankungsfeier für ihren Bürgermeister, der viele Einheimische beiwohnten. «Dann, zwei Tage später, hat man eine Bar aufgestellt, und die Leute haben getrunken.» Einst warf Jesus die Leute, die den Tempel zur Markthalle umfunktioniert hatten, aus seinem Haus. In Scionzier ist es gewissermassen umgekehrt. Die Grenette Stéphane Pépin, wie sie zu Ehren des verstorbenen Gemeindepräsidenten benannt wurde, bietet auch ein Dach für religiöse Rituale.
Rahel Hartmann Schweizer (1965) ist promovierte Kunsthistorikerin und befasst sich als Publizistin und Kuratorin mit Wechselwirkungen zwischen westlicher und ostasiatischer Kultur, Interdisziplinarität in Architektur und Ingenieurwesen sowie «Kreuzbestäubungen» zwischen den Künsten.
1 Ohne Autor, Scionzier, in: Le Faucigny 15.2.2021, vgl. www.lefaucigny.fr/2021/02/scionzier-la-commune-veut-changer-dimage-et-devenir-un-haut-lieu-culturel/ (abgerufen am 25.6.2024).
2 «Scionzier, haut lieu culturel de la vallée de l’Arve? L’image en fera certainement sourire plus d’un!», in: Le Faucigny 15.2.2021, vgl. https://www.lefaucigny.fr/2021/02/scionzier-la-commune-veut-changer-dimage-et-devenir-un-haut-lieu-culturel/ (abgerufen am 25.6.2024).