Daniel Kurz, werk-archiv (Bilder)
Als werk-Redaktor stellte Lucius Burckhardt Fragen, auf die wir auch heute Antworten suchen. Untrennbar war für den Soziologen die gebaute Welt mit der sozialen verbunden. Dieses Verständnis der Architektur ist auch der Schlüssel ihrer gelungenen Vermittlung.
Lucius Burckhardt: Sein Name taucht immer wieder auf, wenn von grundsätzlichen Fragen an die Architektur die Rede ist. Jacques Herzog bezieht sich ebenso auf ihn1 wie die Aktivistinnen und Aktivisten von umverkehr! 2 ; Burckhardt steht für Inspiration und Kritik, für neue Denkhorizonte ebenso wie für Infragestellung der Architektentätigkeit und beharrliches Mahnen vor den Folgen einer überbordenden Konsumgesellschaft.
Und doch sind seine Schriften im Grund nur wenigen Spezialisten vertraut: Höchste Zeit also, dass Burckhardts Denken freilegt und im Originalton zugänglich gemacht wird. Burckhardts Texte aus seiner zehnjährigen Zeit als Redaktor der Zeitschrift werk (1962 – 72) und ihre Interpretation fördern einen Schatz zutage, der trotz fünfzigjähriger Distanz überaus gegenwärtig und aktuell wirkt.
Diese Aktualität hat mehrere Gründe. Erstens: Schon die Zeitumstände von Burckhardts Jahren beim werk erinnern an die Gegenwart. Sie fielen in eine Zeit enormen Wachstums; die Innenstädte wurden nach den Bedürfnissen des schnellen Verkehrs brutal umgebaut, Altbaubestände verschwanden in beängstigendem Tempo, und noch grundlegender veränderte sich die Landschaft, der ländliche Raum, unter dem Druck von Zersiedlung und Infrastrukturausbau. Dieses Wachstum warf Fragen auf, und der technokratische Bauwirtschaftsfunktionalismus in der Architektur förderte ein Gefühl der Entfremdung, des Heimatverlusts und der Machtlosigkeit der Betroffenen. Ganz ähnliche Fragen – vermehrt um die Sorge um den Klimawandel – diskutieren wir heute, nach wiederum mehr als zwanzig Jahren des «frischfröhlichen Bauens», wie Burckhardt das nannte.
Zweitens: Burckhardt war damals bei weitem nicht der einzige Kritiker des architektonischen Zeitgeschehens – aber er ist von allen am aktuellsten geblieben, denn er stellte die richtigen Fragen. Prominent waren etwa die Debatten, welche die Zürcher Arbeitsgruppe für Städtebau ZAS in jenen Jahren führte.3 Ihr Fokus lag auf dem Kampf gegen die Vorherrschaft des Automobils in der Innenstadt. Otti Gmür in Luzern, Metron in Brugg und viele andere kritisierten zur gleichen Zeit die Folgen der Wachstumsgesellschaft und fanden im werk ihre Plattform. Was Lucius Burckhardt aber ganz besonders auszeichnete, war seine Art, die Kritik zu äussern: Er kleidete sie in höfliche (aber beissend grundsätzliche) Fragen, und nicht selten nutzte er das Format des Gesprächs. Des Gesprächs in jeder Form, übrigens, von der vielstimmigen Debatte über den intensiven Austausch (mit Walter Förderer) bis hin zum imaginären Selbstgespräch. Er gab sich nicht als Experte, als Empörter oder als Besserwisser, sondern als Fragender. Damit lud – und lädt – Burckhardt seine Leserinnen und Leser ein, an der Debatte teilzunehmen, seine Fragen zu ihren zu machen und eigene Antworten darauf zu suchen. Das macht sein Gesprächsangebot so glaubwürdig und frisch.
Burckhardt unterscheidet sich vom damaligen Mainstream der Soziologie darin, dass er nicht die Verallgemeinerung oder die Gesetzmässigkeit suchte, sondern in einem kulturanthropologischen Sinn vom Einzelnen ausging, von der unmittelbarenWahrnehmung und ihrer Reflexion. Nicht das Erklären, sondern das Verstehen war sein erkenntnisleitender Impuls. Darum traf ihn die Soziologiekritik am Ende seiner Zeit an der ETH Zürich vollkommen zu Unrecht und deshalb ist er auch für heutige Sozialwissenschafterinnen ein inspirierender Gesprächspartner.
Lucius Burckhardt glaubte nicht an die Autonomie von Architektur. «Sie existiert», so fassen die Autorinnen und Autoren des Buchs Bauen ist Weiterbauen (Triest, 2021) seine Sicht zusammen, «nicht ausserhalb gesellschaftlicher Praktiken, Interaktionen, Wahrnehmungsmuster und Regeln. Die materielle, physische Welt – ob Landschaft oder gebaute Architektur – ist, gemäss Burckhardt, immer schon und auf vielfältige Weise verwoben mit der sozialen Welt und daher bedeutungsvoll.» Diese Sichtweise hat für Architekturschaffende bis heute etwas Provokatives. Und auch damals schon distanzierten sich führende Architektinnen und Architekten von der Zumutung der soziologischen Infragestellung, die sie als Unterwanderung der künstlerischen Autonomie verstanden. Der vor wenigen Jahren verstorbene Luigi Snozzi zum Beispiel sah 1978 im Rückgriff auf soziologische und ökonomische Vorgaben nur eine «Fluchtmöglichkeit vor der eigenen Verantwortung der Architekten», denn Architektur sei in letzter Analyse «ein Formproblem», das heisst eine Frage des guten Entwurfs.4 Was heute wie damals niemand bestreiten würde. Interessanterweise hatte der gleiche Snozzi aber 1969 in Burckhardts werk seine Case popolari in Locarno auf experimentelle Weise mittels einer Bildreportage über den Siedlungsalltag präsentiert, um «Architektur als eine konkrete Äusserung des sozialen Geschehens» zu zeigen.5
In den lebensnahen Fotos von Kindern, Hausfrauen und trocknender Wäsche tritt die Architektur, der kraftvolle Entwurf selbst, in den Hintergrund, wird zur Bühne des Alltagsgeschehens. Ganz im Sinn Lucius Burckhardts also. Da sie nicht ausserhalb der Gesellschaft steht und handelt, ist Architektur für Lucius Burckhardt auch nicht Spiegel der Gesellschaft, sondern vielmehr ein Medium, das die Realität sichtbar und damit verhandelbar macht. Auf die Aktualität bezogen heisst das zum Beispiel: Wohnungsbau ist zwar Städtebau, Typologie, Lichtführung und Materialisierung – aber auch Ausdruck von Marktkräften und -einschätzungen, Zielgruppen, Grundstücksgrenzen, Bauordnungen, von nachbarschaftlichen Einsprachen und politischen Diskussionen; er bezieht sich auf gesellschaftliche Normen des Wohnens und auf individuelle Wohnträume, auf ökologische Ziele wie auf die Ambitionen der Bauherrschaft. Architekturkritik greift zu kurz, wenn sie dieses Geflecht von Abhängigkeiten und Akteurskonstellationen nicht einbezieht. Das bedeutet nicht, den Beitrag der Architektur geringzuschätzen, wohl aber, ihn in einen Kontext zu setzen.
Burckhardt ging aber in der Dekonstruktion von Architektur noch weiter, indem er darauf pochte, dass Bauen immer ein Um- und Weiterbauen sei und das Neubauen als Lösung für gesellschaftliche Probleme überhaupt in Frage stellte. Es gebe keine fertigen Zustände, in der Architektur so wenig wie in der Planung. Damit führte er die Kategorien der Zeit und der Zeitlichkeit in den Architekturdiskurs ein. Er betonte, «dass das Wachsen von Gebäuden, das Verändern von Gebäuden ein ästhetischer Prozess ist, der die Zeit der menschlichen Emanzipation abbildet».6 Es zählt also nicht primär der Entwurf, nicht das fertig gestellte Haus, sondern erst die Aneignung durch die Menschen, die es bewohnen oder nutzen und dabei umgestalten. Diese Sicht Burckhardts ist eine arge Zumutung für Architektinnen und Architekten, die ihr Werk am liebsten rein und unbewohnt fotografieren lassen. Denn sie negiert den Werk-Charakter der Architektur und ihre Chance, zumindest für einen Moment ganz aus sich selbst zu wirken. Architektur also mehr im Sinn eines Lebensraums, einer Infrastruktur für das Leben, offen für Veränderung.
In der gleichen Logik plädierte Burckhardt – sehr zeitgemäss – unermüdlich auch für das Weiternutzen und Umfunktionieren von Gebäuden als Alternative zum Abbruch oder zur Totalsanierung. Dies, noch ohne die graue Energie als Argument ins Feld zu führen. Er ehrte die Spuren des Gebrauchs, die Veränderungen und früheren Umbauten als «Zeichen der Zeit»7 und Zeugen der Geschichtlichkeit. Eine Auffassung, der sich die heutige Denkmalpflege ohne weiteres anschliesst.
Lucius Burckhardt hat mit seiner Arbeit beim werk die Rolle dieser Zeitschrift verändert, indem er sie zu einer Plattform für Debatten machte. Diesen Anspruch haben spätere Redaktionen weiterhin gepflegt (die Ära von Christoph Luchsinger und Ernst Hubeli 1990 – 99 sticht dabei besonders hervor) und sie tun es bis heute, etwa mit der «Debatte» als Rubrik oder mit Heften voller Debatten, wie jenem zu den «Netzwerken der Jungen».8
Die öffentliche Rolle der Zeitschriften hat sich indessen grundlegend gewandelt. Ihr Monopol der Architekturvermittlung ist längst gefallen, und sie kämpfen um Abonnentinnen wie um Werbeeinnahmen. Als Informationskanäle sind sie weitgehend von Onlineformaten abgelöst worden; das Neuste und Angesagteste findet sich heute nicht mehr zuerst im gedruckten Heft, sondern im Bilderzauber von Instagram. Plattformen wie Baunetz, Archdaily oder auch das gediegene Divisare bringen aktuelle Architektur im Tages- oder Wochentakt, im einen Fall kuratiert, im anderen weniger. Doch diese Überfülle reduziert Architektur auf ihre Bildhaftigkeit, sie generiert weder Fragen noch Debatten. Kritische Reflexion ist ihr fremd, und es fehlt der Bezug zum Kontext, zum wirklichen Leben. Je länger man sich durch die verführerisch schönen Fotostrecken etwa von Divisare klickt, desto heftiger regen sich Dégout und Widerspruch angesichts der edlen Raumwelten, wo nichts am falschen Ort steht und wo Lehm, Holz und handgeformte Keramik nicht fehlen: All diese Ästhetik – was ist ihre Relevanz? Was hat sie mit den drängenden Fragen der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu tun?
Es sind genau diese Fragen, denen Architekturzeitschriften wie werk, bauen + wohnen, Hochparterre oder TEC21 heute nachspüren: die soziale Verantwortung von Architektinnen und Architekten, die gesellschaftliche Wirkung von Architektur, die Entwicklung des Architekturgeschehens und der gebauten Umwelt. Darin stehen sie in der direkten Nachfolge von Lucius Burckhardt. Zwar steht auch die Redaktion von werk, bauen + wohnen im Bann des Ikonischen und Neuen, aber sie diskutiert es im Kontext und bezieht historische, soziologische oder naturwissenschaftliche Expertise mit ein. Dank des Konzepts von Themenheften vermag die Zeitschrift im Unterschied zu ihrer Konkurrenz mehr Tiefe und Reflexion zu erzeugen und dadurch eine längere Halbwertszeit.9 Es bleibt anzumerken, dass die primäre Leserschaft, nämlich Architektinnen und Architekten, solche Themensetzungen nicht immer zu schätzen weiss, denn sie zwingen zur Auseinandersetzung mit unangenehmen Wahrheiten, mit Hässlichem und mit Gedanken, die sich nicht in schöne Bilder fassen lassen.
In solchen Themenheften erscheint Architektur nicht als autonome Disziplin, sondern als ein wichtiger und bereichernder Akteur unter vielen anderen. Nicht als Instrument zur Rettung der Welt, aber als Werkzeug, das punktuell ihrer Verbesserung dienen kann: wenn es die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen erlauben, die Bauherrschaft überzeugt ist und die Nutzer oder Bewohnerinnen den Anspruch mittragen. Klimawandel, Knappheit und ungleiche Verteilung der Ressourcen, Zersiedlung – all das sind Themen der Architektur, aber nicht ihrer allein. Architekten und Architektinnen allein tragen so auch nicht die ganze Last der Verantwortung. Sie sind eingeladen, inter- und transdisziplinär zu arbeiten und zu denken. Und eben nicht nur an der Fachplanersitzung, sondern auch «draussen», in der Gesellschaft, in der Politik, zusammen mit Betroffenen und Nutzerinnen. In der Hochkonjunktur fehlte dafür meistens die Zeit.
Daniel Kurz (1957) war 2012 – 21 Chefredaktor dieser Zeitschrift. Er leitete 2022 – 23 die Redaktion des Swiss Architecture Yearbook SAY 2023.
Dieser Beitrag erschien erstmals als Beitrag im Buch Bauen ist Weiterbauen. Lucius Burckhardts Auseinandersetzung mit Architektur (Triest, 2021), herausgegeben von Philippe Koch und Andreas Jud.
1 Jacques Herzog, «Stadt-Nicht-Stadt Schweiz. Ein fiktives Gespräch», in: wbw 6–2014; Hans Ulrich Obrist, Herzog & de Meuron u.a., Lucius Burckhardt and Cedric Price. A stroll through a fun palace, Schweizer Pavillon, 14. Architekturbiennale, Venedig 2014.
2 VCS- und umverkehr!-Mitgründer Beat Schweingruber war in Kassel Assistent bei Lucius Burckhardt.
3 Beate Schnitter, Fritz Schwarz, Rolf Keller, Rudolf und Jakob Schilling, Benedikt Huber und andere.
4 Luigi Snozzi, «Architektur als Formproblem», in: bauen + wohnen 12/1978, S. 493.
5 Luigi Snozzi, «Case popolare der Gemeinde Locarno: eine Reportage. Architekten Luigi Snozzi, Livio Vacchini», in: werk 5/1969, S. 296 – 300.
6 Lucius Burckhardt, «Ästhetische Probleme des Bauens» (1978), in: Jesko Fezer, Martin Schmitz (Hg.), Lucius Burckhardt, Wer plant die Planung? Architektur, Politik und Mensch, Berlin 2004, S. 174.
7 Lucius Burckhardt, «Zeichen der Zeit» (1973), in: Jesko Fezer, Martin Schmitz (Hg.), Lucius Burckhardt: Wer plant die Planung? Architektur, Politik und Mensch, Berlin 2004, S. 166.
8 Vgl. wbw 1/2–2020.
9 Davon zeugen aktuelle Hefttitel zu relevanten gesellschaftlichen Brennpunkten wie etwa «Kreislaufwirtschaft», wbw 5/2021, «Für das Klima», wbw 3/2020, «Im Klimawandel», wbw 7–8/2018, «Mehr als Natur», wbw 6/2020, «Dichte Quartiere», wbw 5/2020, «Programm Agglo», wbw 6/2019, «Dorfbau», wbw 10/2018, «Ersatzwohnbau», wbw 10/2019 oder «Preiswert Wohnen», wbw 3/2018.
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