Henriette Lutz, Joana Teixeira Pinho
Wie bekommt eine Frau mit so vielen Facetten angemessene Sichtbarkeit, wenn ihr Wirken kaum dokumentiert ist? Zwei Architektinnen berichten von ihrer Forschungsreise zu Annemarie Burckhardt.
«Lucius und ich haben zehn Jahre lang das ‹Werk› gemacht [...].»1 Mit grosser Selbstverständlichkeit sprach Annemarie Burckhardt-Wackernagel (1930 – 2012) über ihre Arbeit bei der Architekturzeitschrift. Einen Lohn erhielt sie hierfür nie. Auch bekam sie für ihre tägliche Arbeit an der Gesamthochschule Kassel kein Geld. Und das, obwohl sie fast 25 Jahre lang die Inhalte am Lehrstuhl für Sozioökonomie urbaner Systeme im Fachbereich Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung mitgestaltete.
Annemarie Burckhardt war für uns eine Unbekannte, als wir begannen, uns mit den Spaziergangswissenschaften zu beschäftigen. Bei der ersten Annäherung fiel uns ihre Präsenz auf Fotos auf. Bei Spaziergängen, politischen Aktionen oder mit Studierenden war sie mit ihrem Ehemann Lucius Burckhardt abgebildet. Wir wollten mehr über sie erfahren, über ihre Rolle bei der Entwicklung der Spaziergangswissenschaft, über ihre Zusammenarbeit mit ihm und über ihre eigenständigen Tätigkeiten.
Schnell fanden wir Artikel von Annemarie Burckhardt, die unter ihrem eigenen Namen veröffentlicht wurden. Einige davon erschienen in den späten 1970er Jahren in werk-archithese.2 Es sind kritische Kommentare zu städtebaulichen, architektonischen und landschaftsplanerischen Themen sowie Buch- und Ausstellungsrezensionen. Sie erschienen nach Lucius Burckhardts redaktioneller Tätigkeit von 1962 – 72 für diese Zeitschrift. Er war Redaktor, sie arbeitete ebenfalls dort. Ihre Position war allgemein bekannt, aber nicht vertraglich geregelt. Annemarie Burckhardt betrachtete ihre Rolle zu jener Zeit ambivalent: «Natürlich musste man sich als Frau immer etwas zurückhalten, insbesondere als wir für das ‹Werk› arbeiteten. Bei der Redaktionsarbeit in Basel war ich auch dabei. Ich erledigte viel organisatorische Arbeit und telefonierte mit Architekten. Allerdings habe ich mich jeweils zurückgehalten, denn die Männer sind ja Machos.»3
Annemarie Burckhardt war auch Heimatschützerin. Nach der Einführung des kantonalen Frauenstimmrechts in Basel-Stadt im Jahr 1966 wurde sie als erste Frau Vorstandsmitglied des Basler Heimatschutzes und war von 1972 bis 1983 Herausgeberin der Broschüre Heimatschutz Basel liest für Sie. Für den originellen Inhalt und die humorvolle Gestaltung erhielt sie die Silberne Halbkugel des Deutschen Preises für Denkmalschutz. Annemarie Burckhardt war auch Politikerin. In Basel vertrat sie von 1996 bis 2001 die Grüne Partei im Grossen Rat.
Wir setzten unsere Recherchen in der Universitätsbibliothek Basel fort. Dort fanden wir unter anderem Kunstwerke und Hinweise über einen Vortrag von Annemarie Burckhardt. Ihre Kunstform war die Stickerei. Kreuzstiche mit humorvollen und vieldeutigen Wortspielen bereichern die Bedeutung von Alltagsgegenständen. Die Aneignung dieser Kunstform lag nahe. Zum einen hatte Annemarie Burckhardt nach der Schulzeit eine Schneiderinnenlehre begonnen und das Handwerk professionell erlernt. Zum anderen verstand sie die Stickerei als feministische Kunst: Tatsächlich wurde das Sticken als Kunstformat seit den 1980er Jahren verstärkt diskutiert und auch von anderen Künstlerinnen wie Elaine Reichek praktiziert. Annemaries Kunstwerke wurden zum Erkennungszeichen kollektiver Aktionen, wie 1994 ihr Stickwerk Die Kasse als Spendenaktion für den Neuen Kasseler Kunstverein. Ihr bekanntestes Werk ist der falsche documenta-Katalog von 1990, der zwei Jahre vor der documenta IX für grosses Aufsehen in den Medien sorgte, als Bastelset zur Nachahmung anregte und sogar eine juristische Klage nach sich zog.4
Nach der abgebrochenen Lehre als Schneiderin arbeitete Annemarie Burckhardt als Sekretärin. Als sie 1955 heiratete, schloss das geltende Recht den Doppelverdienst aus, sodass sie ihre Erwerbstätigkeit aufgeben musste. Ab diesem Zeitpunkt begann die Zusammenarbeit mit Lucius Burckhardt. Wie haben die beiden nun inhaltlich zusammengearbeitet?
«Symbiotisch», hörten wir aus deren Umfeld immer wieder. Beim Erinnern an die gemeinsame Arbeit, an persönliche Erlebnisse oder politischen Aktivismus sprachen alle, die wir interviewt haben, immer ganz selbstverständlich von Annemarie und Lucius Burckhardt. Besonders deutlich wurde dies in Bezug auf die Lehre an der Gesamthochschule Kassel. Ehemalige Studierende erzählten uns, dass sie in ihrer Wahrnehmung immer bei beiden studiert haben. Annemarie Burckhardt kam täglich an den Lehrstuhl, war in Lehrveranstaltungen anwesend und übernahm unzählige Aufgaben rund um die Lehre. So organisierte sie Exkursionen, betreute Arbeiten von Studierenden, rief die studentische Zeitschrift Der Monolith ins Leben und begleitete diese redaktionell in einem kleinen Team. Ihr Fachwissen machte Eindruck: Annemarie Burckhardt ergänzte beispielsweise Namen von Personen, die Lucius Burckhardt während einer Vorlesung vergessen hatte. Sie war es aber auch, die in Vorbereitung auf den Unterricht die Lerninhalte strukturierte und vermittelbar machte, wie ein langjähriger Freund und Lehrstuhlmitarbeiter erzählt. Aus der Anekdote eines Arbeitskollegen von Lucius Burkhardt lässt sich schliessen, dass sie die städtebaulichen Theorien von Jane Jacobs gut kannte, da sie diese als Referenz bei einem Projekt einbrachte.5
Wir fanden bisher kein schriftliches Dokument, das Annemarie Burckhardts wissenschaftliche Leistung bezeugt. Und langsam spüren wir, dass dies wohl auch so bleiben wird. Aber noch ein letztes Mal haken wir bei ehemaligen Weggefährtinnen und Arbeitskollegen nach: Hat Annemarie Burckhardt an den Schriften von Lucius Burckhardt mitgeschrieben? Niedergeschrieben hat sie alles. Er konnte druckreif diktieren. Bevor er diktierte, diskutierten sie gemeinsam über die Inhalte. Wenn sie beim Redigieren etwas änderte, sprach sie das mit ihm ab. Mit der Arbeit für Das Werk begann Annemarie Burckhardt regelmässig Architekturzeitschriften zu lesen. Ihre umfangreiche Büchersammlung ist öffentlich zugänglich: Im Case Studio Vogt in Zürich findet sich ihr Schweizer Bücherbestand, und die ehemalige Lehrstuhlbibliothek ist in der heutigen Universität Kassel untergebracht.
Etwas Bahnbrechendes haben wir bei unserer Recherche nicht gefunden. Aber wir haben Annemarie Burckhardt als Ermöglicherin, Fotografin, Künstlerin, Lektorin, Netzwerkerin, Organisatorin, Sammlerin und vieles mehr kennengelernt. Gemeinsam haben Annemarie und Lucius Burckhardt Ideen erarbeitet und auf den Weg gebracht. Sie engagierten sich sozial, kulturell und politisch. Nach dem Tod ihres Mannes im Jahr 2003 hat es sich Annemarie Burckhardt zur Aufgabe gemacht, das gemeinsame Erbe zu bewahren. Sei es durch die Gründung der Lucius und Annemarie Burckhardt Stiftung oder durch die Unterstützung der Publikation der losen Texte in thematischen Sammelbänden im Martin Schmitz Verlag.
Erfreulicherweise diskutieren wir heute verstärkt die Frage, was eine enge Zusammenarbeit für die Zuschreibung von Autorinnen- und Autorschaft sowie die Geschichtsschreibung bedeutet. Die historische Aufarbeitung dieser Fragen anhand von konkreten Personen erfordert einen langen Atem und führt nicht immer zu nachweisbaren Erfolgen, sei es aufgrund mangelnder Dokumentation, der Nichterwähnung weiterer Beteiligter oder eines gänzlich anderen Selbstverständnisses von Leistungen und Rollen. Im Zweifelsfall sollten wir uns bei der Nennung für das Kollektiv, die Gruppe oder das Paar entscheiden. Inzwischen wissen wir, dass Annemarie Burckhardt einen wesentlichen, wenn auch schwer nachweisbaren Anteil am gemeinsamen Werk hatte und dass die Entdeckung ihres eigenen Werkes viele interessante Facetten mit sich bringt.6 Sprechen wir von nun an ganz selbstverständlich von Annemarie und Lucius Burckhardt im Hinblick auf die Werke, die während ihrer Zusammenarbeit entstanden sind. So wie es Hans Ulrich Obrist im Jahr 2000 bei einem Interview über das Spazieren mit den beiden machte. Er fragte: «Könnt ihr mir erzählen, wie die Spaziergangswissenschaften begonnen haben?» Und Annemarie Burckhardt antwortet: «Das fing ganz allmählich an …»7
Henriette Lutz (1988) ist Architektin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Berner Fachhochschule. Joana Teixeira Pinho (1981) ist Architektin und Doktorandin am Politecnico di Milano. Als Research Walkers sind sie gemeinsam zu Themen der Diversität im begehbaren Raum unterwegs. In Anlehnung an die Spaziergangswissenschaften entwickelten sie an der Berner Fachhochschule das interdisziplinäre Wahlmodul Strollology – Other Views.
1 Annemarie Burckhardt im Gespräch mit Li Tavor und Regula Schweizer, in: Reto Geiser, Martino Stierli (Hg.), Im Gespräch: 8 Positionen zur Schweizer Architektur, Basel 2014, S. 24. Das Interview wurde 2011 im Rahmen eines Seminars an der ETH Zürich mit Architekturstudierenden geführt.
2 Vgl. z.B. über Arbeiten zur Documenta 6 in Kassel: Annemarie Burckhardt, «Landschaftskunst», in: werk–archithese 11–12 / 1977, S. 77, oder zum Bau von Tiefgaragen in Basel: Annemarie Burckhardt, «Planerischer Rückfall in Basel?», in: werk–archithese 21 – 22 / 1978, S. 71 – 72.
3 Geiser/Stierli, wie Anm. 1, S. 22, 23.
4 Annemarie Burckhardt veröffentlichte ein Buch über die Entstehungsgeschichte des Kunstwerks und seine Folgen: Annemarie Burckhardt, Der falsche documenta Katalog, Kassel 1991.
5 Ueli Mäder, Raum und Macht: die Stadt zwischen Vision und Wirklichkeit, Zürich 2014, S. 89.
6 Vortrag an der Lucius Burckhardt Convention III, 2023, «Die Künstlerin Annemarie Burckhardt» von Henriette Lutz und Joana Teixeira Pinho.
7 Lucius Burckhardt, Warum ist Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft, hg. von Markus Ritter, Martin Schmitz, Berlin 2006, S. 5. Anstelle eines Vorwortes wurde das Interview von Hans Ulrich Obrist mit Annemarie und Lucius Burckhardt «Strollology als Nebenfach» (2000) abgedruckt.
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