Article de la 1/2–2025

Stupfen, nicht stechen

Drei Fixpunkte im publizistischen Koordinatensystem der Burckhardts

Roland Züger

Wie nähert man sich dem reichhaltigen Werk von Annemarie und Lucius Burckhardt? Die Auswahl von drei Schlüsseltexten bietet eine Einstiegshilfe. Die Kontextualisierung der Texte eröffnet Einblicke in die Biografie zweier aussergewöhnlicher und wacher Geister.

Sie haben über fünfzig Jahre hinweg die Entwicklung in Architektur und Stadtplanung kritisch begleitet und vielfach Anstoss gegeben, den Blick zu weiten. Dabei haben Annemarie (1930 – 2012) und Lucius Burckhardt (1925 – 2003) eine unüberschaubare Zahl an Texten hinterlassen: Leserbriefe, Fachartikel, Glossen in Zeitungen oder Fachzeitschriften bis hin zu Theaterstücken und Drehbüchern für Filme.1 Ihre Texte sind wie «Wegelagerer an Strassen für unvorsichtige, voreilige und schlecht gerüstete Passanten»2, schrieb einst der Philosoph und Kunsthistoriker Hans Ulrich Reck. So bilden sie Stolpersteine und Denkanstösse, manchmal regelrechte Wegmarken.

Die kritischen Einlassungen der Burckhardts waren oft begleitet von politischem Aktivismus: in Form von Demonstrationen gegen Abrisse in der Altstadt oder den Stadtautobahnausbau. Zu dieser frühen Urbanismuskritik kamen mit der umtriebigen Lehrtätigkeit der Burckhardts weitere Themen dazu: die Wahrnehmung und Ästhetik der Landschaft sowie ein umfassendes Verständnis von Design, das Lucius als Vorsitzender des Deutschen Werkbunds 1976 – 83 propagierte.

Die Denkmodelle in den Texten entfalten auch in der Lehrtätigkeit an den Hochschulen grosse Wirkung. Als einflussreicher Dozent wirkt Lucius Burckhardt an der ETH Zürich und als Professor an der Gesamthochschule Kassel – im Tandem mit Annemarie Burckhardt. Danach war er 1987 – 89 bei der Gründung der Hochschule der Bildenden Künste Saar und 1992 – 94 als Gründungsdekan des Fachbereichs Gestaltung an der Bauhaus-Universität in Weimar aktiv.

Drei ausgewählte Texte bieten Einblicke in ein schillerndes Œuvre und stecken die Spannbreite des reichen Schaffens ab. Die Lektüre kann mit der Beilage zu diesem Heft, dem Reprint von Bauen ein Prozess aus dem Jahr 1968, vertieft werden. Es ist ein veritables Manifest für das Weiterbauen und ein prozesshafte Idee von Planung statt eines Verständnisses der Architektur als Objekt. Auch diese Schrift hat wenig an Aktualität verloren.

achtung: die Schweiz

Einiges Aufsehen erregt bereits 1953 die Veröffentlichung der Schrift Wir selber bauen unsere Stadt des 28-jährigen Lucius Burckhardt mit dem Historiker Markus Kutter. Sein Vorwort beschliesst Max Frisch mit seinem berühmten Diktum: «Man ist nicht realistisch, indem man keine Idee hat.»3 Im gleichen Jahr unterstrich Frisch im vielbeachteten Vortrag «Cum grano salis» schon sein urbanes Bewusstsein, das er mit Burckhardt und Kutter teilte.4 Das Manuskript der Jungautoren von achtung – die Schweiz überarbeitet Frisch daraufhin grundlegend. Als die Schrift 1955 erscheint, erhält sie nationale Aufmerksamkeit. Sie ist ein «nonkonformistischer Ausbruch aus der ‹Landi-Schweiz›, zehn Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkriegs», wie der Biologe Markus Ritter das Pamphlet treffend einordnet.5 Als Trio legen sie 1956 eine dritte Publikation nach, wieder im erfrischenden Layout von Karl Gerstner: Die Neue Stadt. Sie löst jedoch nicht mehr das gleiche Medienecho aus wie das Traktat von 1955 und dessen Flutwelle von Presseartikeln.6 Mit den drei Schriften hat Burckhardt als Vordenker der Urbanismuskritik untermauert, dass die politische Auseinandersetzung mit Planung in der breiten Bevölkerung erfolgen muss und nicht den Experten überlassen werden kann. Darin sind die drei Basler Politische Schriften angesichts heutiger Herausforderungen zur Innenentwicklung (vgl. wbw 1/2–2024) wegweisend.

Wer plant die Planung?

Nach dem publizistischen Grosserfolg, gerade promoviert und frisch verheiratet, forscht Lucius Burckhardt 1955 zu Wohnungsfragen in Dortmund und unterrichtet 1959 als Gastdozent an der frisch gegründeten Hochschule für Gestaltung in Ulm – wohnt mit Annemarie Burckhardt in einem Künstler-Atelier von Max Bill auf dem Kuhberg. Von dort lotst ihn Alfred Roth, damals selbst Professor, an die ETH Zürich. Von 1961 – 1973 erhält Lucius Burckhardt mehrere Lehraufträge und später eine Gastdozentur für Soziologie an der Architekturabteilung. Herausragend dabei ist das Lehrcanapé 1970 – 73. Als Experiment gedacht, hat das neue Unterrichtsformat Studierende wie Jacques Herzog und Pierre de Meuron geprägt: «Es war zweifellos ein Vorteil für unsere Generation, sowohl von der spröden intellektuellen und ironischen Seite eines Lucius Burckhardt als auch von der Sinnlichkeit eines Aldo Rossi etwas mitgekriegt zu haben.»7 Selbstbewusst haben sie sich auf dem Cover der Canapé News verewigt.

Viele Artikel dieser Lehrstuhlpublikation sind, wie die Ausgaben der Zeitschrift werk, die Lucius 1962 – 72 leitete, mit witzigen Karikaturen illustriert. Sie zeugen vom locker ernsthaften Lernklima genauso wie von der Expansion der Untersuchungsfelder im Entwurfsprozess. Im problemorientierten Unterricht waren die Übungsfragen offen gestellt und konnten nicht mit einfachen Lösungen – in Form eines Neubaus – beantwortet werden. Vom Mathematiker und Designtheoretiker Horst Rittel, der Burckhardt einst von Dortmund nach Ulm geholt hatte, übernahm er den Begriff des «bösartigen Problems». «Wer plant die Planung?», war die Schlüsselfrage dieser Zeit.8 Und auch das Nicht-Bauen, wie es heute aus ökologischen Gründen wieder en vogue ist, war im Unterricht am Lehrcanapé der ETH Zürich bereits eine Option.

Warum ist Landschaft schön?

Nach dem Ende des antiautoritären Lehrexperiments an der ETH Zürich ziehen die Burckhardts nach Kassel. Dort lehren sie 1972 – 97 an der Hochschule auch Landschaftsplanung und machen einen Mangel im Wissen zur Ästhetik und Wahrnehmung der Landschaft aus. So prägt diese Schaffensphase die Frage: «Warum ist die Landschaft schön?»9

Annemarie und Lucius Burckhardt führen das Fach «Mobilität, Wahrnehmung und Gestaltung» ein und erfinden die sogenannte Spaziergangswissenschaft. Beim Spazieren sind drei Dinge über Wahrnehmung zu lernen: Erstens kann man Umwelt gar nicht wahrnehmen, sondern fügt einzelne Erinnerungsbilder im Kopf zu einem Film zusammen. Zweitens prägen Sprache und Medien, bis hin zur Werbung, unsere Vorstellungen mit. Und drittens eröffnen sich gerade durch die Langsamkeit des Spazierens neue Blickwinkel.

Von der Spaziergangswissenschaft lernen Studierende noch heute. Gerade in der gegenwärtigen Hektik sei das zentral und für einen vielschichtigen Entwurf nützlich, berichtet Entwurfsprofessorin Maria Conen von der ETH Zürich. Einst belächelt, dann von Künstlerinnen und Künstlern entdeckt, ist der methodische Spaziergang heute bei jüngeren Architekturschaffenden nicht mehr wegzudenken. Angesichts Herausforderungen durch die Klimakrise zeigt diese Generation ein stärkeres politisches Bewusstsein. Für sie ist das Werk von Annemarie und Lucius Burckhardt anschlussfähig und kann in der Ausstellung in Basel wiederentdeckt werden. Mit kritischem, aber gewaltfreiem Aktivismus haben sie einst die Stadtentwicklung begleitet und zu Debatten angestachelt – in Basel heisst das: «Stupfen, nicht stechen.»

1 Eine ausführliche Bibliografie findet sich unter: www.lucius-burckhardt.org (abgerufen am 29.11.2024). Zur Biografie ist ein dreiteiliger Hörbeitrag im Deutschlandfunk erschienen, «Querfeldein denken mit Lucius Burckhardt»: www.deutschlandfunk.de (abgerufen am 25.11.2024), sowie von Peter Sutter zu Lucius oder Ueli Mäder über Annemarie, in: Ueli Mäder et al. (Hg.), Raum und Macht, Zürich 2014.
2 Hans Ulrich Reck, «Gefrässige Kinder», in: werk, bauen + wohnen 6 – 1985, S. 12. Das Buch Die Kinder fressen ihre Revolution ist 1985 zum 60. Geburtstag von Lucius erschien. Der Herausgeber Bazon Brock, Kunsttheoretiker und Freund der Burckhardts, hat 85 Texte in vier Kapitel gegliedert: «Design ist unsichtbar», «Durch Pflege zerstört», «Der kleinstmögliche Eingriff» und «Mülltheorie der Kultur».
3 Max Frisch, «Zum Geleit», in: achtung: Die Schriften, Reprint «Basler Politische Schriften» Band 1 – 3, Zürich 2016, S. 9.
4 Max Frisch, «Cum grano salis. Eine kleine Glosse zur schweizerischen Architektur», in: Werk 10 – 1953, S. 325 – 329.
5 Markus Ritter, «Vorwort», in: achtung: Die Schriften, S. 11. Er hat mit den Burckhardts 1986 die Grüne Alternative gegründet und war langjähriger Gesprächspartner. Heute leitet er die Lucius und Annemarie Burckhardt Stiftung. Ihm danken wir für zahlreiche Hinweise in diesem Heft.
6 Vgl. Angelus Eisinger, Reto Geiser, «Zeitgemässe Anachronismen», in: achtung: Die Schriften, S. 13 – 24.
7 Vgl. «Viele Mythen, ein Maestro. Kommentare zur Zürcher Lehrtätigkeit von Aldo Rossi», in: werk, bauen + wohnen 12–1997, S. 42.
8 Lucius Burckhardt, «Wer plant die Planung?» (1974), in: Lucius Burckhardt, Wer plant die Planung? Architektur, Politik und Mensch, hg. von Jesko Fezer, Martin Schmitz, Berlin 2004, S. 71 – 87.
9 Der Urtext dazu erschien 1979 anlässlich eines Seminars in Vrin der Fachklasse Innenausbau der Kunstgewerbeschule Basel in: Lucius Burckhardt, Warum ist Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft, hg. von Markus Ritter, Martin Schmitz, Berlin 2006, S. 33 – 41.

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