Jürgen Tietz Hans-Christian Schink, Tjark Spille (Bilder)
Berlin-Neukölln, Hermannstrasse. Gleich hinter dem Tempelhofer Feld, der gentrifizierte Schiller-Kiez mit hippen Restaurants liegt um die Ecke. Wie die Dinosaurier der Erinnerung ragen die denkmalgeschützten ehemaligen Leuchtfeuer des 2008 stillgelegten Berliner Zentralflughafens Tempelhof empor. Um einen dieser hohen Masten haben AFF Architekten ihren Neubau für die Spore Initiative zurückgezogen. So entsteht einer von zwei kleinen Stadtplätzen, mit denen die Berliner Architekten den Stadtraum aufweiten. Eine einladende räumliche Geste in das Haus der Spore Inititaive, die sich unter anderem mit Kultur- und Lernprogram- men für biokulturelle Vielfalt einsetzt.
Diese Kunst der Modulierung setzt sich auch in der Fassadengestaltung fort. Durchgefärbter roter Sichtbeton und grosse, bodentiefe Glasflächen bestimmen das Erdgeschoss der Spore Initiative. Ein Wechselspiel aus Transparenz und Geschlossenheit. Darüber schliesst sich das hohe Ausstellungsgeschoss an. Nach aussen ist es durch wiederverwendete Ziegel gekennzeichnet. Sie fügen sich mal heller, mal dunkler, mal röter gut in die Umgebung ein und legen sich wie eine fast fensterlose Bauchbinde um das gesamte Haus. Die beiden abschliessenden Geschosse mit ihren liegenden grossen Fensterformaten, hinter denen sich Büros, die Bibliothek, Multifunktionsräume und Studios für Stipendiaten der Stiftung befinden, sind dagegen mit neuen roten Ziegeln verblendet. So entsteht ein ebenso bodenständiger wie opulenter Materialmix, der zusammen mit der Gebäudefigur einen spannungsreichen Gesamteindruck erzeugt. Unmittelbar südlich des Stiftungsneubaus ist ein Bürogebäude für NGOs im Bau, ebenfalls von AFF entworfen. Verwandt in Form und Materialsprache, bilden sie gemeinsam ein markantes Ensemble: ein wenig ruppig, ein wenig rau, dazu die von den Architekten konzipierten «Sitzkissen» aus Beton, die vor dem Eingang liegen. Zarte britische Ziegellieblichkeit, wie sie derzeit en vogue ist, ist nicht ihre Sache. Gleichwohl erweist sich ihr Neubau als Hingucker, der aus dem Rahmen der Umgebung fällt, und das, obwohl er deren ruppigen Charakter aufgreift. In dieser Ambiguität ist es ein typisches Haus von AFF, die sowohl gerne mit Ziegeln als auch mit Beton arbeiten und dabei schöne, spektakulär skulpturale Häuser verwirklichen.
Doch genug gelobt und lieber schnell ins Haus gegangen. Der Eingang liegt an jenem etwas grösseren Stadtplatz, der sich zwischen dem NGO-Neubau und dem Haus der Spore Initiative öffnet. Wer das erste Mal das Haus betritt, dem könnte beim Blick zur Decke der Atem stocken, die mit den Tragwerksingenieuren von Schnetzer Puskas Ingenieure aus Basel entwickelt und umgesetzt wurde. Dort kreuzen sich schlanke Rippen der Sichtbetondecke, die den Kräfteverlauf verdeutlichen. Es handelt sich um «eine extrem material-optimierte Sichtbetonrippendecke», wie Martin Fröhlich von AFF erklärt. Sie erlaubt Spannweiten bis zwölf Meter bei vermindertem Betonverbrauch. «Die ganzheitliche Konstruktion des Hauses gleicht der eines Baums mit kräftigen Wurzeln und starkem Stamm sowie mit zarten Ästen und dünnen Blättern.» Das ermöglicht den fliessenden Raum im Erdgeschoss und die stützenfreien Ausstellungsräume im Obergeschoss. Funktion, Konstruktion und Ästhetik gehen Hand in Hand. Ein weiteres Nachhaltigkeitsthema ist das Bemühen, für das Kellergeschoss Recyclingbeton zu verwenden. Doch dort zeigte sich laut Martin Fröhlich, dass die Berliner Bauwirtschaft auf derartige Materialkreisläufe der Wiederverwendung bisher noch nicht ausgelegt ist, auch wenn sie (bau)kulturell sinnvoll und politisch gewünscht sind.
Das weite Foyer, der graue Boden, die weiten Fensteröffnungen zur Stadt und zum rückwärtigen Garten überlassen der Deckenstruktur das Anstimmen der Melodie im Raum. Doch nicht vollständig: Mit abgeschrägter Wandfläche und expressiv eingeschnittenem Eingang ist im Erdgeschoss ein erster Ausstellungsraum als Kunstschaufenster eingeschoben. Mit schräggestellter Fensterscheibe öffnet er sich zum Foyer und der Stadt dahinter. Gekonnt spielen AFF mit den Schichtungen des Raums, mal durchlässig, mal geschlossen, mal organisch bewegt. Rechts an diesem ersten Ausstellungsraum vorbeigeschlüpft, fliesst das Foyer weiter zum Treppenhaus. Dahinter schliessen sich die Garderoben sowie der Vortragssaal an, der sich tief in die Erde hinabgräbt und sich zugleich zum Freiraum öffnet. Ich blicke über die mit wiederverwendeten Sitzschalen in unterschiedlichen Holzfarbtönen bestückten Betonstufen des Auditoriums hinab. Den rückwärtigen Abschluss des Saals bildet eine Technikwand mit grossem (aber bei einer Filmvorführung letztlich doch zu kleinem) Bildschirm. Eine Faltwand zum Foyer lässt sich ganz schliessen oder entfernen, sodass eine räumliche Einheit aus Saal und Foyer entstehen kann. Das alles ist sehr fein umgesetzt. Und die Krönung bildet auch hier die sich atemberaubend verästelnde Betondecke.
Zurück zum Treppenhaus. Hinab führt es zu den Waschräumen, die mit aufgefundenen Objekten wie Waschtischen und Spülkästen bestückt sind. Was fehlte, wurde in ähnlichem Stil so pragmatisch wie feinfühlig ergänzt. Auch das ist sehr AFF.
Von unten nach oben geschaut, legt sich die Treppe um ein trapezförmiges Auge, das in einem Oberlicht endet. In den Zeiten der langsam aber sicher entschwindenden Kunst der Treppenhäuser ist es eine wunderbare Form. Also gerne über die Treppe hoch ins erste Obergeschoss. Dabei lohnt ein Zwischenstopp auf dem Treppenabsatz, um die abstrakte skulpturale Qualität dieser Raumschöpfung zu geniessen, die sich wie ein Treppen-Haus mit Dachschräge lesen lässt.
Zielpunkt des Aufstiegs sind die grossen, stützenfreien Ausstellungsräume im ersten Obergeschoss. Sie schliessen sich rechts und links der Treppe an. Entsprechend dem derzeit aktuellen Thema der Spore Initiative sind sie mit einer Ausstellung bestückt, die sich künstlerisch mit der indigenen Bevölkerung auf Yukatan befasst. Beide Räume öffnen sich mit je einem raumhohen Fenster zur Stadt. Während sich an der Fassade und in den Foyers die kraftvolle Handschrift der Architekten artikuliert, herrscht hier Zurückhaltung. Hier ist alles dienender Raum: mit flexibel bestückbaren Lichtleisten, schlichtem grauen Boden und viel Hängefläche an den Wänden. Beide Ausstellungsräume sind jeweils gute 300 Quadratmeter gross, sodass sie sich für die unterschiedlichsten Kuratierungen eignen, sowohl mit Stellwänden als auch ohne. Die Qualität dieser Räume zu betonen, erscheint besonders wichtig angesichts der wirklich schlechten Ausstellungsräume, die in letzter Zeit in Berlin etwa im Humboldt Forum1 entstanden sind. Um es einmal grundsätzlich zu sagen: Ausstellungsräume für Museen und Galerien sind für die Selbstdarstellung von Architekten ungeeignet. Sie haben dem Ausstellungsgegenstand zu dienen. Punkt. AFF haben das im Haus der Spore Initiative vorbildlich umgesetzt.
Die beiden obersten Geschosse mit ihren Betonwänden, den Fussböden aus Holzdielen und den wandfesten Einbauten aus Holz werden für die Stipendiaten der Stiftung genutzt. Sie können für Workshops bespielt werden oder dienen als Büros mit feinem Blick auf Neukölln. Hinzu kommt eine grosszügige Dachterrasse samt Pavillon. Dieser wurde, ebenso wie die Beton-«Sitzkissen» von AFF, im Sinne einer effizienten «Resteverwertung» aller Materialien aus den Schalhölzern errichtet. In seiner amorphen Form schafft der Dachpavillon zum kubischen Spore-Bau einen charmant luftigen Gegenpart. Und weil ein notwendiger Fluchtweg auch Teil der Architektur ist und nicht immer nur wie eine drangeklatschte Notlösung aussehen muss, haben AFF Architekten die Dachterrasse durch eine schmale, himmelsleiterartige Treppe mit dem «Garten» verbunden.
Im Garten, der eigentlich kein Garten ist, klären sich manche Gedanken mit Blick auf die gemeinschaftlich bewirtschafteten Hochbeete, auf weitere Belichtungsmastentürme des Zentralflughafens Tempelhof, aber vor allem auf die seitliche Ziegelmauer zum angrenzenden Anita-Berber-Park. Die Mauer umfasste ursprünglich einen jener acht Friedhöfe, die entlang der Hermannstrasse auf ehemaligen Ackerflächen ab Mitte des 19. Jahrhunderts vor den Toren der explosionsartig wachsenden preussischen Hauptstadt angelegt worden waren. In den letzten Jahren wurden die Ränder dieser Friedhöfe zur Hermannstrasse nach und nach bebaut. Ein paar Meter weiter im «Garten» stösst man auf Grabsteine zwischen wucherndem Holunder und übriggebliebenen Rosen. Von hier lässt sich auch ein schöner Blick auf die Rückseite des Neubaus werfen, die nicht vor- und zurückmäandert. Stattdessen addieren sich die drei unterschiedlichen roten Fassadenmaterialien so streng wie spannungsvoll zu einer Einheit zueinander. Die Geschichte dieses Berliner Orts und seiner «indigenen» Bewohnerschaft, der toten wie der lebenden, ist so vielfältig, dass es ein spannendes Projekt wäre, sie einmal zu erzählen.
Jürgen Tietz (1964) hat eine Ausbildung zum Buchhändler absolviert und Kunstgeschichte studiert. Er arbeitet als Schriftsteller in Berlin. Als Fachbuchautor und Journalist befasst er sich mit den Themen Architektur und Denkmalpflege. Er ist stellvertretender Vorsitzender des Hochhausbeirats der Stadt Düsseldorf und Mitglied der Arbeitsgruppe Öffentlichkeitsarbeit des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz.
1 Jürgen Tietz, «Schlossspaziergang», in: wbw 7/8–2019, S. 26–31.
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