Lucia Gratz, Marc Díaz, Adrià Goula (Bilder)
Die Temperaturen steigen und mit ihnen die Notwendigkeit zu kühlen. In der katalonischen Hauptstadt verwenden Architekturschaffende passive Methoden der Klimatisierung. Wohnräume bleiben so im Sommer auch mit wenig Technik behaglich.
Wir befinden uns im Übergang vom aktuellen zum zukünftigen Klima. 2018 war einer dieser heissen Sommer, die uns einen Vorgeschmack darauf gaben, was in Zukunft Normalität sein wird. Der Handlungsbedarf in Planung und Baupraxis ist gross. Das zeigen Klimaszenarien für die kommenden Jahrzehnte, denn wir bauen jetzt auch für die Bedürfnisse von morgen.1 Schon heute liefert die Gebäudetechnik differenzierte Möglichkeiten zum Kühlen. Doch welche Antworten hat die Architektur selbst? – Und benötigen wir für alle Wohnbauten künftig aktive Klimatisierung, wie es eine Studie für die Südschweiz feststellt, wo Temperaturen im Sommer über 30 Grad bereits die Regel sind?2
Ich öffne das Fenster, die Blätter der Zimmerpflanzen schaukeln sanft. Obwohl es draussen heiss ist, fühlt es sich erfrischend an. Bewegte Luft kühlt. Passives Free-Cooling, wie es die Experten nennen, nutzt lokal vorhandene Ressourcen, den Schatten der Bäume, die Thermik der Luft und den Wind, der über das Land streicht. Ende Juli sitze ich mit Alfonso Godoy im Think Tank der Architekturschule in Vallès, nördlich von Barcelona. Er ist Bauklimatiker in der Kooperative Arqbag, einem interdisziplinären Startup. Der Hochschule angegliedert, lassen die Mitglieder ihre Erfahrungen aus der Praxis unmittelbar in die Lehre zurückfliessen. Mit der Studie über das Tessin im Hinterkopf bin ich gespannt, wie Architekturschaffende hier mit Blick auf die Klimaerwärmung entwerfen.
In den Büros surren Klimageräte und Ventilatoren – je weniger der Körper selbst kühlen muss, desto mehr Energie bleibt für die Kopfarbeit. «Wir sind hier kein Vorbild, nur ein Abbild der Klima-Realität», stellt Godoy fest. In Barcelona sind viele Häuser, auch neue, klimatisch überfordert und mit ihnen ihre Nutzerschaft. Alfonso Godoy entwickelt bioklimatische Konzepte: «Passiv kühlen heisst nicht nichts tun, sondern Räume emissionsfrei klimatisieren», sagt er. Passiv bedeutet, Hitze zu vermeiden, den Temperaturanstieg zu verzögern und erhitzte Räume wieder auszukühlen – und all das leistet das Haus selbst.
Nicht weniger anspruchsvoll, als dies bei neuen Gebäuden umzusetzen, ist es im Umbau. Das zeigt ein unscheinbares, zweigeschossiges Wohnhaus in der Altstadt von Terrassa nördlich von Barcelona, das Arqbag mit dem ebenso schmalen Nachbarhaus vereinte. Neben den baulichen Justierungen optimierten sie es klimatisch. Ein fein abgestimmtes Zusammenwirken passiver Massnahmen gegen Hitze war das Ziel: Durch einen Holzrost in der Geschossdecke im Flur kann Luft aufsteigen. Die Innenwände mauerte man neu mit Lehmsteinen auf. Sie regulieren die Luftfeuchtigkeit, kühlen die Luft und sorgen mit ihrer thermischen Masse für eine effiziente Nachtauskühlung. Doch gab es im Haus auch vorher schon eine gebaute Kühlung. Da die Sommer in Katalonien seit jeher heiss sind, verschatten traditionell Persianas, also Rolljalousien aus schmalen Holzlatten, Fenster und Terrassen. Leicht ausgestellt, kann die Luft dahinter zirkulieren. Auch der Dachraum war gegen Hitzestau natürlich ventiliert. Die zugehörigen Luftlöcher fügen sich ins Fassadenbild ein, nehmen Platz in einer Reihe kleiner Öffnungen unter der Attika, als wären sie nur der harmonischen Gliederung wegen dort. Der Zwischenraum unter den flach geneigten Dächern war im Winter kalt, im Sommer warm und wirkte so als Temperaturpuffer für die Wohnräume im oberen Stock.
«Was früher Luftschichten leisteten, leisten heute Dämmschichten, um gegen Hitze zu isolieren», sagt der Bauklimatiker. Das traditionelle System des Hauses veränderte Arqbag mit Bedacht: Die Räume reichen heute bis unters Dach, warme Luft kann aufsteigen und über eine Öffnung unter dem Giebel abziehen. Da man auch in Barcelona Jahreszeiten kennt, sind die Häuser sowohl gegen Hitze als auch gegen Kälte geschützt. Behaglichkeit im Haus hat oberste Priorität – immer wichtiger wird dabei die Zwischensaison, denn oft herrschen bereits im April tagsüber hohe Temperaturen. Der wirkliche Spagat ist jedoch der zwischen dem heutigen und dem prognostizierten künftigen Klima. «Wir rechnen und bauen für beides», sagt Alfonso Godoy, denn Dauerhaftigkeit müsse die klimatische Zukunft antizipieren.
Der Küste entlang fahre ich mit dem Vorortzug weit in die südöstliche Peripherie Barcelonas. Das Stadtgebiet ist längst über seine Grenzen hinausgewachsen, der Grossraum Barcelona boomt. Übertourismus und Mangel an bezahlbarem Wohnraum sind Alltag für viele Menschen: Die Lage ist angespannt. Wie kaum wo in Spanien, hat der Sozialwohnungsbau grosse Dringlichkeit und ist dabei mit hoher Innovationskraft verbunden. IMPSOL hat als halbstaatliches Wohnbauunternehmen mehrfach gezeigt, dass sich trotz begrenzten Budgets und anspruchsvoller Standorte nachhaltige Ergebnisse erzielen lassen (vgl. wbw 10 – 2021, S. 61 – 65). Eine Wohnüberbauung mit 167 Einheiten in Gavà von Harquitectes ist eins der jüngsten Beispiele für dieses Engagement.
Eine Hitzetypologie versteckt sich hinter den regelmässig durchfensterten Fassaden. Im Inneren der drei tiefen Häuser sparen schmale Patios einen Luftraum aus. Die langgestreckten Wohnungen sind in drei Raumschichten gegliedert: Balkon-, Wohn-, und Serviceschicht mit einem breiten Flur entlang der verglasten inneren Fassade. Der Grundriss schafft ideale Verhältnisse für gute Querlüftung. Auch wenn die umlaufenden Balkonlauben die Sonne zurückhalten, wurden mittlerweile die typischen hölzernen Rolljalousien davor montiert. Die Bewohnerschaft kann so die Beschattung selbst steuern und sich eine geschützte Raumerweiterung nach aussen schaffen. Die Häuser in Gavà folgen einem mediterranen Raumverständnis: Es gibt Räume, in denen sich warme Luft sammelt, und welche, die sie abführen.3 «Unsere Normen sind von Mitteleuropa geprägt. Die Idee der Abschottung vom Aussenklima steht in einem Widerspruch zur südländischen Tradition – hier ist alles durchlässiger», sagt Luca Volpi. Nach
meinem Besuch vor Ort treffen wir uns zu einem Zoom-Gespräch. Als Partner im Nachhaltigkeitsbüro Societat Orgànica betreute er das Projekt. Er war auch an anderen Bauten beteiligt, die mit klimatischer Suffizienz architektonisch Massstäbe setzten: dem Genossenschaftshaus La Borda von Lacol (vgl. wbw 9/10 – 2020, S. 24-30), den Projekten für IBAVI auf den Balearen (vgl. wbw 6 – 2023, S. 6 – 15). Als Schrittmacher der Entwicklung lenkten sie den Fokus auch auf die soziale Komponente klimaneutraler Architektur.
Passives Kühlen nimmt die Bewohnerschaft in die Verantwortung. Auch IMPSOL hat damit Erfahrung, setzt auf Mieterinformation und Selbstverantwortung wie auf einen einfachen, wartungsarmen Gebrauch. Doch folgt das Interesse an Low-Tech und No-Tech auch ökonomischen Überlegungen: Was man nicht hat, kann nicht kaputtgehen und erzeugt so auch keine Kosten. Luca Volpi sagt: «Einige Dinge, die das Innenklima beeinflussen, sind fix, wie Materialien, Fenstergrössen und thermische Masse. Die Fähigkeit der Bewohnerschaft, die Temperatur im Haus mit flexiblen Elementen wie Sonnenschutz und Fensterlüftung zu regulieren, definiert den Grad der Automatisierung.» Gleichzeitig hilft passives Kühlen, Energiekosten tief zu halten, und ermöglicht allen, egal ob arm oder reich, den Zugang zu behaglichen Wohnräumen im Sommer.
Trinitat Nova ist ein Quartier im Norden Barcelonas, die Autobahn trennt es vom einstigen Dorf Trinitat Vella. Schnurgerade führt die Strassenachse ins Stadtzentrum, am Horizont sehe ich die Baukräne der Sagrada Familia, das Meer. Vom touristischen Treiben der Innenstadt ist hier nichts zu spüren. Auf der anderen Seite des Hügels erzählen einfache Behausungen vom einst informellen Charakter der Umgebung, von Menschen, die hier strandeten und am Rand der Metropole Platz fanden. Der Kleinteiligkeit stehen städtebauliche Planungen der letzten Jahre gegenüber, die das Quartier anbinden. Jüngst sind mehrere Sozialwohnbauten entstanden, einer davon ist eine lange, sechsgeschossige Zeile, die die staatliche Wohnbaugesellschaft IMHAB mit den drei Architekturbüros DataAE, Narch und Maira Arquitectes realisierte.
Jetzt, im Juli um die Mittagszeit, scheint alles stillzustehen, die Rolljalousien hängen schlapp über die Brüstungen der raumhohen Fenster und Loggien. Die Vor- und Rücksprünge der Fassade folgen mit ihrem kontrastreichen Spiel aus Licht und Schatten dem Strassenverlauf. Die Grundrisse der 67 Wohnungen reichen über die gesamte Tiefe, zur Querlüftung trägt auch ein innerer Patio bei, der, fast schon ein Schacht, für vertikale Luftbewegung sorgt. Wie in Spanien üblich, wird auch er zum Wäschetrocknen verwendet. Anders ist hier, dass dies bewusster Teil des Klimakonzepts ist. Anstatt das Trocknen an Maschinen zu delegieren, regt die feuchte Wäsche die Thermik und den Kühleffekt an.
«Für gutes Kühlen spielen immer mehrere Faktoren eine Rolle: die Temperatur, die Luftfeuchtigkeit und Luftbewegung, auch wie wir angezogen sind – denn wir selbst sind es, denen heiss ist. Die Synergie der Massnahmen ist entscheidend», sagt Luca Volpi. Wichtig sei genauso, dass die umgebende Stadt kühl bleibe. Auch er weiss, dass das Raumklima von Lehmstein- anstatt Leichtbauwänden profitiert hätte, doch geht es im Sozialwohnungsbau um eine bestmögliche, nicht die optimale Lösung – klimatische Aspekte müssen gegenüber politischen und ökonomischen Kriterien verhandelt werden.
«Seit den 1970er Jahren wird der Energieverbrauch nur über Effizienz, nicht über Suffizienz ermittelt. Wir arbeiten an suffizienten Strategien und versuchen, die Probleme an der Wurzel zu packen, Abhängigkeiten zu reduzieren und Komplexität gering zu halten», beschreibt Luca Volpi die Haltung von Societat Orgànica. Derweil steigt in der Schweiz die Zahl der Klimaanlagen (Wärmepumpen miteingeschlossen) stark an, die meisten kühlen mit klimaschädlichen Treibhausgasen.4 Auch in Barcelona sind Projekte, in denen Architekturschaffende passive Methoden räumlich übersetzen, die Ausnahme, doch nimmt man die Notwendigkeit zur Klimaneutralität ernst, müsste es die Regel sein. Erst in extremen Hitzephasen, in einer emissionsreichen Umgebung oder für die Bedürfnisse vulnerabler Personen stösst natürliche Kühlung an ihre Grenzen. Dort sind aktive Systeme nützlich und auch notwendig. Die Projekte aus Katalonien zeigen, dass Kühlen eine architektonische Aufgabe ist, die Typologien, Konstruktion und Raumproportionen mitformt und mit ihr ein Lebensgefühl, die mediterrane Freude an bewegter Luft.
1 ResCool: Klimaanpassung von Neu-, Um- und bestehenden Bauten – effiziente Kühlkonzepte, www.aramis.admin.ch (abgerufen am 19.8.2024).
2 Das Klima von morgen: Leitlinien für das Bauwesen – die Südschweiz als Vorreiterin, www.bwo.admin.ch (abgerufen am 19.8.2024).
3 Eduardo Prieto, Historia medioambiental de la arquitectura, Madrid 2019, S. 313.
4 Statistik zu Anlagen mit Kältemittel 2024, www.bafu.admin.ch (abgerufen am 19.8.2024).