Article de la 11–2024

Gutbäuerlich

Ersatz eines Vielzweckbauernhauses von Bernath + Widmer in Dingenhart

Christoph Ramisch, Roland Bernath (Bilder)

Die Verpflichtung, ein grosses Haus zu bauen, liess eine Familie hinterfragen, wie sie in Zukunft wohnen will. Das traditionelle Bauernhaus war eine Referenz und lieferte die Idee fürs gemeinschaftliche Wohnen. In deren Mittelpunkt steht die Küche für alle.

Keine Viertelstunde von Frauenfeld entfernt, kommen zwischen Streuobstwiese und Pferdekoppel Ballenberg-Gefühle auf: Pittoresk versammelt der Weiler Dingenhart, einer von 300 im Kanton Thurgau, historische Vielzweckbauernhäuser – jene Hausform, die das ländliche Leben in der Region seit fünf Jahrhunderten prägt. Ihren steinernen Wohntrakt setzen diese voluminösen Bauten zwischen Heuboden, Tenne und Stall aus Holz. Einst lebte unter den mächtigen Dächern alles, was am Hoftreiben beteiligt war: das liebe Vieh zwischen mindestens drei Generationen der Bauernfamilie, dazu noch Mägde, Knechte und Tagelöhner. Das Leben bestand in diesen Häusern aus einer alltäglichen Zweck-, oft auch einer Zwangsgemeinschaft.

Das ländliche Idyll der Weiler ist auch deren Problem: Für die heutige Massenproduktion in der Landwirtschaft sind die Bauten untauglich. Das Heu im Dach liegt ineffizient, die hölzernen Spannweiten bieten keinen Platz für große Maschinen. Die Landwirtschaft weicht deshalb in Neubauten aus, die ausschließlich zu diesem Zweck in den Weilern bewilligt werden. So manche Bauernhäuser stehen leer und warten darauf, dass sich jemand ihrer annimmt und sie mit Verve und Vision wiederbelebt.

Genau dies geschah in Dingenhart: Eine Familie aus Frauenfeld fasste sich 2017 ein Herz und erwarb eines der Bauernhäuser als Familiendomizil. Da sie keinerlei landwirtschaftliche und somit zonen-konforme Nutzung im Sinne hatte, blieb nur der Umbau – mit mäßigem Erfolg. Mehrere Studien brachten kein Ergebnis. Hinzukam, dass der bestehende Bau zehn Jahre leer stand und die tragenden Balken durch Feuchteeintrag morsch geworden waren. Der Kanton bot Hand und stellte eine Ausnahmebewilligung in Aussicht. Ein Ersatzneubau sei möglich, «wenn die Baute […] in den wesentlichen Zügen gewahrt bleibt, moderne Architekturen sind dabei keineswegs ausgeschlossen.»1 Unter der Prämisse der Wesensgleichheit verlangte der Kanton, den Neubau an identischer Stelle, in gleicher Dimension sowie in der Anmutung des Vorgängers zu errichten. Für die erfolgreiche Umsetzung riet man der Familie, ein Architekturbüro mit Erfahrung in solchen Fragen auszuwählen. Hier lag das Gute denkbar nah: Zehn Jahre zuvor hatte das Zürcher Büro Bernath+Widmer in Dingenhart eine ungenutzte Scheune vorzeigbar und ortsbildkonform in neuen Wohnraum transformiert. Die Beauftragung schien nur folgerichtig.

Bedeutender Beitrag zur Baukultur

Bernath+Widmer taten, was sie immer tun, und paarten ihr praktisches Bauverständnis mit beinahe obsessiver Präzision. In vertikale Bretter gegossen, erscheint der zuvor gemauerte Wohntrakt heute aus makellosem Sichtbeton. Beidseitig von Holzkonstruktionen flankiert, bleibt die Dreiteilung der Fassade gewahrt. Hohe Brettschichtbinder aus Esche, Fichtenholzbalken und -stützen fügen sich mittels Steckverbindungen zu einem raumbildenden Skelett, in das sich je nach Fassadenausbildung Innenräume oder Loggien einordnen. Für die hölzernen «Wirtschaftstrakte» verlangte der Ortsbildschutz, dass sie nach historischem Vorbild geschlossen ausgebildet wurden. Darum sind alle Öffnungen der Holzbaufassaden – egal ob Innen- oder Aussenraum – mit faltbaren Stahlrahmen versehen, in die sich vertikale Fassadenbretter einpassen. Im geschlossenen Zustand laufen diese Bretter nahtlos in das Schalungsbild des Wohntrakts über – fast überflüssig zu erwähnen, dass sämtliche Bretter des Hauses, real oder betoniertes Abbild, die identische Breite haben. In speziell für sie vorgesehenen Nischen fügen sich selbst die Fensterläden aus Eiche des Wohntrakts in das Betonfugenbild, egal ob offen oder geschlossen. Das Zusammenspiel aus Holz und Beton ist im ganzen Bau betörend, auch wenn die lokalen Unternehmer nicht müde wurden, die verschiedenen Toleranzen ihrer Gewerke anzumahnen. Nicht zuletzt dank der handwerklichen Umsetzung wird der Neubau – mit zunehmender Vergrauung der hellen Hölzer – zu einer Einheit, die das Vielzweckbauernhaus zeitgemäß interpretiert. Dadurch – so die Stellungnahme des Kantons – werden die geforderten «Einpassungsanforderungen» auf «vorbildliche Art und Weise erfüllt», und es wird «ein bedeutender Beitrag zur Thurgauer Baukultur» geleistet.2

Die Erfindung der Gemeinschaft

So weit, so wesensgleich. Die kniffligere Aufgabe wartete jedoch im Inneren. Eine entscheidende Auflage des Kantons für den Ersatzneubau galt der Beschränkung des neuen Wohnraums. Die beheizte Geschossfläche des ehemaligen Wohntrakts durfte beim Neubau nur um ein Drittel erhöht werden. Eine empfindliche Einschränkung, denn angesichts der Grösse des zu errichtenden Volumens war der Bauherrschaft schnell klar, dass sie nicht allein hier leben kann – und will. Autarke Wohnungen waren unter diesen Vorgaben aber unrealistisch. Der genehmigte Neubau, ein Danaergeschenk? Mitnichten, denn die Bauherrschaft stellte sich die entscheidende Frage: Wie und mit wem will man nach dem Auszug der Kinder unter dem neuen Dach zusammenleben? Der Wunsch, sich auch im Alter mit Freunden zu umgeben, liess in der Bauherrin die Überzeugung wachsen, dass «neben der offensichtlichen Geselligkeit auch ein gemeinschaftliches Wohnen rundum sinnvoll ist.»

Um der vagen Idee einer Gemeinschaft Raum zu geben, überführten die Architekturschaffenden die äussere Wesensgleichheit ins Innere, denn selbst für das Zusammenleben bot der Vorgängerbau die Vorlage. Früher versammelten die Vielzweckbauernhäuser ihre Bewohnenden in einem einzigen beheizten Raum. Die Küche mit Feuerstelle diente als Essplatz, Stall und Stube. Abseits, in kalten Kammern, wurde geschlafen, doch das gemeinschaftliche Leben fand im Küchenraum statt, wo man sich alltäglich zusammenfand, vor allem, um miteinander zu essen.

Das geteilte Mahl wurde über die Jahrhunderte zum Ritual, das sich sozial, aber auch räumlich tief in das kollektive Gedächtnis grub. Noch heute steht man gern auf Partys eng gedrängt in kleinen Küchen, sitzt man mit liebgewonnenen Menschen bis spät nachts am Tisch und schwatzt, vor längst leergegessenen Tellern. Verlässlich manifestiert sich die Gemeinschaft an diesen Orten des Speisens und des Kochens. Wenig verwunderlich, ist doch «von allem, was den Menschen gemeinsam ist, […] das Gemeinsamste: dass sie essen und trinken müssen».3

Mit erfreulicher Konsequenz umgesetzt

Diese gemeinschaftsstiftende Kraft des Essens und Kochens ersann die Bauherrschaft als Fundament ihres geteilten Hauses. Umso erfreulicher ist es, wie konsequent Bernath+Widmer das Motiv des bäuerlichen Zusammenlebens auf den Neubau übertrugen. Dieser animiert nicht zur Gemeinschaft – er zwingt dazu. Die hölzernen «Zimmer» im innengedämmten Betonwohntrakt – das Äquivalent der einst kalten Kammern – sind sehr grosszügig dimensioniert. Gleich einem Appartement können hier zwei Menschen bequem leben, mit noblem Bad und Loggia, doch ohne Küche. Gut so! Wer Hunger hat, soll aus dem Zimmer – in den Wohn- und Essbereich.

Dort schlägt das gemeinschaftliche Herz des Hauses. Weil man auf allen Wegen durch den Neubau an der luxuriösen Küche vorbeikommt, führt paradoxerweise kein Weg an ihr vorbei. Soll es auch nicht. In dieser Küche sollen die Bewohnenden kochen und essen – und wenn es nach der Bauherrin geht, alle zusammen. Vom «gemeinsamen Feinschmecken und Experimentieren mit verschiedenen Einflüssen» verspricht sie sich «Momente der Entspannung und Freude».

Neben der professionell ausgestatteten Küche mit Steamer und Vakuumgarer dient hierfür auch ein grosser Esstisch, an dem die Kochenden mit den Bekochten das Zubereitete geniessen. Als Reminiszenz an die wärmende Feuerstelle leitet ein freistehender Kaminofen aus heller Keramik zum Wohnbereich über. Auf edlen Sitzmöbeln kann man dort entspannen und gemeinsam Zeit verbringen. Die niedrigen Brüstungen der Fenster sowie zwei grosse Aussenräume geben allseits den Blick in den umgebenden Weiler frei. Sogar die frühere Hocheinfahrt des Heubodens wurde wiedererrichtet. Dem Wohnraum dient sie als grosszügige Terrasse und direkte Verbindung in den Obstgarten. Kurzum: Hier lässt es sich aushalten, auch mit anderen und auch für länger.

«Acht bis zehn» nennt die Bauherrschaft als Anzahl an Personen, mit der sie dieses Idyll dauerhaft teilen möchte. Dafür sucht sie Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen, die dank ihrer Erfahrungen das Zusammensein bereichern, sich aber auch – ähnlich dem Haus und seinem Vorgänger – im Wesen gleichen und «bestimmte Werte, wie Respekt, Nachhaltigkeit und Zielsetzungen teilen». Nur so kann die Gemeinschaft funktionieren. Eine Gemeinschaft, die sich zuweilen über den Weiler hinaus öffnet. Denn für den 100 Quadratmeter umfassenden Wohn- /Essraum denkt die Bauherrin über Koch-Workshops und Veranstaltungen über gesunde Ernährung nach. Für die Bewohnerinnen und Bewohner steht während solcher Anlässe im Nebenraum eine ansehnliche Zweitküche bereit – ein unverhohlener Luxus, doch der Wunsch nach dem Zusammenleben entsteht hier nicht aus Bedürftigkeit, sondern aus dem Bedürfnis, mit Gleichgesinnten auf einem gewissen Standard gemeinsam zu kochen, zu essen – und zu wohnen. Den Kanon gemeinschaftlicher Wohnmodelle bereichert die konsequente Umsetzung dieses Ansinnens um eine spannende Facette.

1 Auszug Erwägung Baugesuch, vgl. Art. 42 Raumplanungsverordnung Thurgau, Stand Juni 2000.
2 Auszug aus der Stellungnahme des Kantonalen Hochbauamts Thurgau zum Baugesuch.
3 Georg Simmel, «Soziologie der Mahlzeit», in: Der Zeitgeist, Berlin, 10. Oktober 1910, S. 1 – 2, hier S. 1.

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