Article de la 11–2024

Kochen ist politisch

Kleine Geschichte der Gemeinschaftsküche

Sabine Wolf

Gemeinschaftsküchen sind nicht nur Orte des Zusammenkommens, sondern immer auch Ausdruck politischer und gesellschaftlicher Veränderungen: von der Klosterküche, über Einküchenhäuser bis zur KüfA-Hausbesetzerszene.

Die Entwicklung von Gemeinschaftsküchen steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Rollenverständnis und dessen Wertesystem – konkret: mit der Frage nach der reproduktiven Care- und der produktiven Erwerbsarbeit. Mit Gemeinschaftsküchen verändern wir die Gesellschaft. Und zwar gleich in mehrerlei Hinsicht: Sie sparen Ressourcen in alle Richtungen (Energie, Fläche, Material, Arbeitskraft, Einsatzzeit). Wird auch noch gemeinsam gegessen, kommen die sozialen Benefits hinzu: Sie wirken integrativ, gemeinschaftsfördernd und der Vereinsamung (auch im Alter) entgegen.

Die Evolution der Küche

Erst die Trennung von Kochen und Heizen hat die Küche als separaten Raum ermöglicht. Auslagern und Teilen waren von Anfang an bewährte Strategien: Kühlhäuser, Wasserstellen, Wasch- und Backhaus nutzte man gemeinsam. Im St. Galler Klosterplan, der frühesten gezeichneten Darstellung eines Klosterbezirks aus dem Mittelalter, entstanden um 825, ist die Küche ein eigenes Gebäude mit angegliederter Braustube und Klostergarten. In der Frühen Neuzeit entstanden weitere Institutionen mit Gemeinschaftsküche und gemeinsamer Verpflegung wie Spital, Zuchthaus oder Kaserne. Im 19. Jahrhundert entwickelten sich aus den Gasthöfen, wo ursprünglich nur das Essen und ein Bett zur Verfügung standen, moderne Hotels mit Rezeption, Zimmerservice und Wäscherei.

Es ist der Hygienebewegung des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu verdanken, dass die Küche aus den schlechten Lagen und dunklen Kellern wortwörtlich aufstieg: Sie wanderte nach oben, war weiss gestrichen, gut lüftbar, leicht zu reinigen und mit allerlei Anschlüssen (Wasser, Gas und später auch Strom) versehen. Gleichwohl blieb die gesellschaftliche Rollenverteilung unverändert: Die Küchen- und damit grosse Teile der Care-Arbeit blieb den Frauen vorbehalten.

Genau hier setzte der frühsozialistische Gesellschaftstheoretiker Charles Fourier (1772 – 1837) mit dem Modell der Phalanstère an. In seinem radikal-utopischen Gegenentwurf zum kapitalistischen Status quo zeichnete er eine Gemeinschaft mit Gleichstellung der Geschlechter und freier Sexualität. Kein Wunder also, dass er der Konzeption der Küche grosse Aufmerksamkeit widmete und sein Entwurf als Vorlage für spätere Einküchenhäuser diente. Seine Phalanstère bezeichnete Wirtschafts- und Lebensgemeinschaften, in denen Arbeitsteilung, Trennung von Produktion und Konsum sowie die Familie überwunden werden sollte. Der Franzose Jean Baptiste Godin (1817 – 1889) realisierte ab 1859 mit dem «Familistère» im französischen Guise eine Gemeinschaftswohnanlage für rund 1 500 Menschen nach Fouriers Modell. Früh schon wurden individuelle Küchen in die Wohnungen eingebaut; 1880 übertrug Godin den Gesamtkomplex samt Fabrik in eine Genossenschaft, die bis 1960 bestand.

Ab Mitte des 19. Jahrhunderts entsteht ein weltweites Netzwerk aus Wohnprojekten mit zentralisierter Hauswirtschaft, basierend auf den Modellen der Frühsozialisten. Vieles ist vergleichbar, wie eine gewisse Grösse (mindestens 50 Menschen) oder die ganzheitliche Anlage (mit der Küche als Zentrum) sowie geteilte (soziale) Infrastruktur und Räume.

Frauen in die Planung!

Vor allem reformerische und revolutionäre Gruppen sind aktiv in der Neudefinition des Gemeinschaftswohnens. Sie stammen aus unterschiedlichsten Szenen der Arbeiter- und der Frauenbewegung, sind Anarchistinnen, Feministinnen sowie Anhänger der Architekturreform oder der Gartenstadtbewegung. So konnten schon Ende des 19. Jahrhunderts eine ganze Reihe an Testanlagen zu Einküchenhäusern entstehen – aus Frauenhand.

In Boston konzipierte 1868 die Feministin Melusina Fay Peirce (1836 – 1923) eine Anlage mit 36 um einen Gemeinschaftshof gruppierten Gebäuden als cooperative Housekeeping. Einen besonderen Einfluss auf folgende Konzepte hatte das 1889 von Jane Addams (1860 – 1935) und Ellen Gates Starr (1859 – 1940) gegründete Hull House in Chicago. Mit dem Ziel, die Lebensbedingungen der Frauen zu verbessern, entstand eine Zentralküche, die etwa 50 Bewohnerinnen wie auch Menschen aus der Nachbarschaft versorgte. Der Speisesaal war gleichzeitig Treffpunkt der Gemeinschaft. Die Frauen hatten die Wahl, hier zu essen oder sich die Mahlzeiten in ihre Wohnungen zu bestellen. Zeitgleich machte in Deutschland Lily Braun (1865 – 1916), eine Sozialdemokratin, Frauenrechtlerin und Vorkämpferin für Gleichstellung, von sich reden. 1901 hielt sie den revolutionären Vortrag «Frauenarbeit und Hauswirtschaft», in dem sie das Konzept des Einküchenhauses vorstellte. Lily Braun entwickelte, beeinflusst auch durch das Hull House, einen Häuserkomplex in einem Garten. «An Stelle der 50 – 60 Küchen, in denen eine gleiche Zahl Frauen zu wirtschaften pflegt, tritt eine im Erdgeschoss befindliche Zentralküche, die mit allen modernen arbeitsparenden Maschinen ausgestaltet ist.»1 Auch hier würde, je nach Neigung, das Essen in der eigenen Wohnung – verbunden mit der Küche über einen Speiseaufzug – oder in einem gemeinsamen Speisesaal eingenommen, der zugleich als Versammlungsraum und Spielzimmer für Kinder dient. Die Haushaltung sollte unter der Regie einer bezahlten Wirtschafterin stehen, unterstützt von Küchenmädchen. Organisation und Finanzierung sollten Genossenschaften und der Fonds der Arbeiterversicherungen gewährleisten. Braun rechnete vor, dass der Aufwand auch für Arbeiterfamilien im Bereich des Möglichen läge.

Von der Einküche zum Wohnkollektiv

Die Küche wurde zu einem öffentlichen Raum des Austauschs und der geteilten Verantwortung und blieb nicht länger ein Ort der Isolation und der Arbeitsteilung entlang traditioneller Geschlechterrollen. Die kollektive Organisation der Hausarbeit war ein radikaler Bruch mit dem Modell der bürgerlichen Familie. Es ging nicht allein darum, die häusliche Arbeit effizienter zu gestalten. Vielmehr sollte die Frau eine aktivere Rolle im öffentlichen und auch politischen Leben spielen können.

Es ist heute gut dokumentiert, wie immer mehr Projekte nach mehr oder weniger demselben Grundmodell realisiert wurden.2 Die Konzepte gingen oft über ein einzelnes Haus hinaus und entwickelten Ansätze für Wohn-, Lebens- und Siedlungskollektive grösseren Massstabs. Als Pionier auf europäischem Boden gilt Centralbygningen (1903 – 1942) in Kopenhagen, das seinerseits als Vorbild für Hemgården Centralkök in Stockholm (1906 – 1918) dient. In Berlin entstehen eine ganze Reihe Einküchenhäuser. Schon 1908 ist Einzug in Charlottenburg, 1909 in Lichterfelde-West und parallel in Friedenau: ein Gebäudekomplex aus drei Häusern mit überdachter Gartenhalle und Kindergarten. Es sind Walmdachbauten im Landhausstil mit Zentralküche im Keller, entworfen von Albert Gessner. Einen Speisesaal gab es nicht – stattdessen kam das Essen über neun Speiseaufzüge, die in den Kellern wiederum mit einer Gleisanlage verbunden waren. Obwohl die Einküchenhäuser grossen Anklang fanden und die Wohnungen schon vor Fertigstellung vermietet waren, wurde mit der Pleite der Zentralstelle für Einküchenhäuser GmbH auch deren Konzept aufgegeben.

Zentralisierung versus Rationalisierung

Ab Mitte der 1920er Jahre wurde die Bewegung eingeholt von der Rationalisierung der Einzelhaushalte nach dem Modell der Frankfurter Küche der Wiener Architektin Margarete Schütte-Lihotzky: Nur sechseinhalb Quadratmeter gross, entwickelt 1926 für Ernst Mays Bauprogramm, entstanden in Frankfurt am Main 10 000 dieser Einbauküchen – Millionen wurden es weltweit.

Im politischen Diskurs gab es zwei Haltungen: die Rationalisierung der Einzelhaushalte gegenüber der Zentralisierung der Hauswirtschaft. Der Kern der Kritik zielte auf die zu hohen Kosten des ersten Modells und die Ausbeutung im zweiten. Tatsächlich wurden in sämtliche der frühen Einküchenhäuser früher oder später individuelle Küchen eingebaut, was gemeinhin als Scheitern interpretiert wurde. Vielleicht liegt aber gerade hier ein Missverständnis: Die bedarfsgerechte Weiterentwicklung ist eine Anpassung, kein Scheitern. Eine Schwierigkeit vieler Projekte jedoch war ihre Orientierung nach innen statt der dosierten Öffnung, die auch bei nachlassendem Interesse der eigenen Bewohnerschaft ein (wirtschaftliches) Überleben gesichert hätte.

Beinahe zeitgleich mit den ersten deutschen Einküchenhäusern entstehen auch in der Schweiz entsprechende Planungen. Bekannt, aber nicht in letzter Konsequenz ausgeführt, ist das Amerikanerhaus an der Zürcher Idastrasse. Der Sozialreformer Oskar Schwank gründete 1915 die «Wohn- und Speisehausgenossenschaft» und liess 1916, in Anlehnung an das Familistère, ein Gemeinschaftshaus bauen. Im Laufe des Baugenehmigungsverfahrens mussten die Pläne jedoch angepasst werden: keine Markthalle im Hof, dafür Küchen in den Wohnungen und statt Zentralküche ein Restaurant (heute Da Michelangelo). Dennoch galt die Aemtlerhalle», auch aufgrund ihrer breiten Laubengänge, bis in die 1940er Jahre als Kollektivmodell und Vorbild.

Einen Katzensprung weiter an der Zentralstrasse liegt mit der Erfindung des «Grosshaushalts» die Zürcher Adaption des Einküchenhauses: die Genossenschaft Karthago. Rund 50 Menschen in allen Altersstufen und in unterschiedlichsten Modellen leben hier in 10 Wohneinheiten. Das Herz des Hauses ist der Speisesaal im Erdgeschoss, wo die Bewohnerinnen und Befreundete essen, feiern und festen. Mit dem professionell geführten zentralen Küchenbetrieb lebt die Genossenschaft Karthago seit über 25 Jahren. Gleichwohl wuchsen aus den Teeküchen in den Wohneinheiten im Lauf der Zeit vollausgestattete Küchen.

An diese Erfahrungen knüpft der Grosshaushalt Kalkbreite als Tochter des Karthago an: 2014 eröffnet, getragen von rund 50 Personen in 20 Wohneinheiten – rund einem Drittel des Wohnungsbestands im Wohn- und Gewerbebau Kalkbreite (vgl. wbw 6 – 2014, S. 68–75). Die Wohneinheiten haben von Anfang an eigene Küchen, aus der ganzen Überbauung können sich weitere Wohneinheiten anschliessen – auch externe.3

Küchenlos aus der Krise?

In den letzten Jahrzehnten haben sich die Lebens- und Wohnmodelle verändert: Es gibt einen Rückgang an Grossfamilien, eine Zunahme an Kleinhaushalten durch die alternde Gesellschaft. Es besteht eine soziale Abhängigkeit, die es früher nicht gab. Wenn wir unser Zusammenleben neu denken, könnten wir Gemeinschaft als Ressourcenersparnis und Grundlage eines baulichen Wandels entdecken und soziale Härten abfedern. Es gibt Forschungen dazu. Prominent ist die Arbeit der spanischen Architektin Anna Puigjaner, inzwischen Professorin an der ETH. In «Kitchenless City» (2019) zeichnet sie die Entstehung einer New Yorker Wohnungstypologie mit kollektiven Einrichtungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach, hinterfragt individualisierte Formen der Häuslichkeit und schlägt kollektive Modelle vor. Vielleicht müssen wir die konzeptionelle Latte gar nicht so hochhängen, sondern einfach die Einküchen häuser und Gemeinschaftsküchen weiter entwickeln – mit breiten Angeboten und einer freiwilligen Teilnahme. So ist das Konzept der KüfA – kurz für «Küche für Alle» – auch in Hausbesetzungen und aktivistischen Projekten längst etabliert: Eine Gruppe kocht, gemeinsam wird aufgetischt, es gibt, was es gibt und solange es hat. Bezahlt wird, was abgemacht ist – oftmals per Kollekte.4

Sabine Wolf (1972) studierte Stadtplanung, promovierte an der ETH Zürich und ist Mitinhaberin der Thiesen & Wolf GmbH in Zürich, die Genossenschaften berät.

1 Lily Braun, Frauenarbeit und Hauswirtschaft, Berlin 1901, 21 f.,
2 u.a. in: Hiltraud Schmidt-Waldherr, «Emanzipation durch Küchenreform? Einküchenhaus versus Küchenlabor», in: L’Homme. Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft, Heft 1/1999, S. 57–76, oder Gunther Uhlig, «Zur Geschichte des Einküchenhauses/On the History of the Einküchenhaus», in: GAM Architectural Magazine, Berlin 16–2020, S. 24–45.
3 Zum Vergleich zwischen den beiden Grosshaushalten Karthago und Kalkbreite ist 2023 in der Zeitschrift Wohnen ein Beitrag erschienen: «Und täglich lockt das Gourmet-Dinner» von Esther Banz, 2/2023, S. 12 – 16.
4 Zum Beispiel bei: Jens Kitzler: «Die Gruppe ‹Radlager› hat in Freiburg einen Wagenplatz bezogen. Alternatives Wohnen», in: Badische Zeitung Online, 12.05.2022, sowie Post Squat Zureich, https://post.zureich.rip/kalender/kuefa-kueche-fuer-alle-2024-09-11/ (abgerufen am 10.9.2024)

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