Article de la wbw 4–2023

Verdichtete Landschaft

Quartier Belle-Terre in Thônex von Atelier Bonnet zusammen mit LRS, Jaccaud + Associés und BCMA

Daniel Kurz, Yves André (Bilder)

Ein exterritoriales Projekt mit grossstädtischem Boulevard, an den sechs übergrosse Baufelder anschliessen. Kann unter diesen Voraussetzungen guter Städtebau entstehen?

Im Genfer Vorort Thônex liegt der Ortsrand in der Mitte: Ein 38 Hektar grosses Gelände blieb hier inmitten von Einfamilienhäusern bis vor kurzem grüne Wiese. Es ist die einstige Allmende (die Communaux) der französischen Nachbargemeinde Ambilly. Doch nun ist hier ein Stück Stadt vom Himmel gefallen, das sich dicht und in warmen, hellen Grautönen aus der leeren Umgebung erhebt: 670 Wohnungen sind es zum Anfang – 2 700 sollen es in zehn Jahren werden, wenn das ganze Quartier Belle-Terre fertiggestellt sein wird.

Räume, nicht Baukörper entwerfen

Eine ortlose Grosssiedlung im Grünen also, so wie Le Lignon (vgl. wbw 11 – 2020, S. 57 – 62) oder andere Ungetüme der Vergangenheit? Im Gegenteil! Wir betreten einen dichten und überraschend wohnlich anmutenden Stadtraum mit Gassen und Plätzen, die uns freundlich in Empfang nehmen. Ein Stück Stadt – und gleichzeitig eine offene Landschaft. Pierre und Mireille Bonnet haben 2008 den städtebaulichen Plan für diesen erstaunlichen Stadtraum geschaffen und ihn ab 2014 zusammen mit den Architekten LRS (Lin Robbe Seiler), Jaccaud+Associés und BCMA (Bassi Carella Marello) in Architektur umgesetzt. Sie schufen damit eine grundsätzliche Alternative zum üblichen Genfer Städtebau der freistehenden Zeilen- und Punkthäuser, der Barres und der Plots – ein Quartier aus präzise bemessenen Räumen.

Die grossen Formen brechen

Die Ausgangslage war schwierig. Der Masterplan von Atelier Bonnet für die zwei zentralen Baufelder basiert auf dem übergeordneten Konzept des katalanischen Städtebauers Joan Busquets mit dem lokalen Büro Arbane von 2004. Dieses wird beherrscht von einem bombastischen, schnurgeraden Boulevard ohne Anfang und Ende, an den sechs riesengrosse Baufelder und breite Grünstreifen anschliessen. Eine autobahnähnlich ausgebaute Erschliessungsstrasse im Südwesten verknüpft das Quartier mit der Aussenwelt.

«Alles schien uns zu gross», sagt Pierre Bonnet. Im Studienauftrag 2008 legten Pierre und Mireille Bonnet ihren Ehrgeiz darin, die Dimensionen der Hauptachse und der Baufelder aufzubrechen. Sie konnten eine Reduktion des Boulevards von 40 auf 34 Meter aushandeln, vor allem aber kneteten sie die Volumen der Bauten. Aus dem groben Stück wurde damit eine Struktur, eine lockere Folge von Wegen und Plätzen. Statt Fläche entstand Raum – Freiraum mit ganz unterschiedlichen Atmosphären.

Das Mittel dazu sind hybride Baukörper, nicht Block und nicht Zeile. Als offene, in der Höhe gestufte Mäander fassen sie nach innen eine Sequenz von Plätzen und Gassen, klar begrenzte und trotzdem offene Räume – und öffnen sich nach aussen zur Landschaft. Ihre Höhe variiert von vier bis zehn Geschossen; niedrigere Einschnitte unterbrechen lange Gebäudefronten, und weite Durchgänge bieten Durchblicke und Wegverbindungen. Die Struktur kombiniert Urbanität mit ländlichen Mustern, wie man sie in der Campagne genevoise kennt. So sind die Ecken und Ränder der Baufelder nicht bebaut, sondern mit Gärten und niedrigen Mauern besetzt – wohlbedachte Niveauunterschiede werden mit Treppen und Mauern in Szene gesetzt.

Fast jede der 670 Wohnungen bietet Aussicht auf das Geschehen in der zentralen Platzlandschaft. Dabei entstehen nur selten direkte Gegenüber-Situationen, vielmehr lassen die Einschnitte in den Gebäudevolumen dem Blick überall Weite. Und weil man von fast jeder Wohnung auch Fernblick geniesst, sind die einzelnen Häuser nach den Bergen benannt, die man vom Balkon aus sehen kann – Mont Blanc, Salève, Jura, Voirons, Le Môle.

Die Innenwelt der Esplanade ist hart materialisiert, denn unter dem Platz liegt die Tiefgarage. Das setzt zwar dem Pflanzen von Bäumen enge Grenzen, doch es zwingt die Bewohnerinnen und Bewohner auch, beim Gang vom Auto zur Wohnung ins Freie zu treten und sichtbar zu werden, bevor sie ihr Haus betreten. Runde Bauminseln, Sitzmöbel und ein kleiner Pavillon beleben die Esplanade, die städtischer Platz und nicht Siedlungsgrün sein will. In den Erdgeschossen finden sich Läden und andere öffentliche Nutzungen. Fast überall sind die Bereiche am Fuss der Fassaden überdeckt und erlauben bei jedem Wetter ein Flanieren im Trockenen. Und ganz konsequent sind alle Fenster und Türen im Erdgeschoss in warmem Holz gefasst.

Niedrige Mauern, die zum Sitzen einladen, gibt es hier, noch mehr davon am Rand der Hof- und Gartenflächen, die das Quartier mit dem Grün der Umgebung verbinden – besonders reizvoll im Nordwesten, wo ein dichter Eichenhain das Quartier Belle-Terre begrenzt und vom Gelände der Klinik Belle-Idée trennt.

Ein ganzes Quartier Ton in Ton

Es ist ein einmaliger Glücksfall, dass vier gleichgesinnte Büros die Architektur des Quartiers in enger Kooperation entwickelt und zu einem Ensemble gefügt haben. Ihre Wahl erfolgte nicht über einen Wettbewerb; stattdessen liessen Auswahlgespräche erkennen, welche Büros in der Lage sein würden, zusammenzuarbeiten. «Starke Köpfe und agile Teams kamen zusammen», sagt Pierre Bonnet, zahlreiche Workshops vertieften den Austausch. Die Kooperation war so erfolgreich, dass es gelang, eine TU-Lösung zu verhindern und das Grossprojekt in konventioneller Vergabe auszuführen. Wegführungen und Materialisierung wurden gemeinsam bestimmt. Das Husarenstück jedoch war die Wahl eines einzigen Betonelement-Herstellers für alle vier Baufelder: die renommierte Firma Prelco. So war es möglich, Korn und Tönung der Elementfassaden auch mit Mock-ups präzise aufeinander abzustimmen und eine aussergewöhnliche Betonqualität zu erreichen.

Äusserlich sehen sich die Architekturen der vier Baufelder durchaus ähnlich. Dafür sorgen allein schon die einheitlich getönten, stets horizontal ausgerichteten Beton-Elemente, an deren Abgleich die vier Architekturbüros intensiv gearbeitet haben. Erst beim genaueren Hinsehen werden die Unterschiede deutlich: Die grossformatigen, L-förmigen Elemente im Baufeld B zeigen deutlich die Handschrift von BCMA; LRS entschied sich wie Atelier Bonnet (A2-1) für eine horizontale Schichtung mit durchlaufenden Brüstungsfeldern, während Jaccaud (A2-3) seinen Sozialwohnungen mit Balustraden besondere Würde verlieh.

Vielfalt der Wohnwelten

Die grössten Unterschiede liegen jedoch im Innern der Häuser, wo jedes der vier Büros seine eigenen Typologien entwickelt hat. Bei LRS (A2-2) sind es zweiseitig orientierte Wohnungen, denen eine zentrale Wohndiele gutbürgerliche Weiträumigkeit verleiht – die Erschliessung ist dafür knapp gehalten. Im zentralen, zehngeschossigen Haus von Atelier Bonnet (A2-1) hingegen überwältigt gerade die grandiose zentrale Treppenhalle mit ihren zwei gerundeten Lichthöfen, doch wird man auch von den Wohnungen nicht enttäuscht, die die Architekten virtuos um die Gebäudeecken führen, sodass diagonale Sichtbezüge für Weite sorgen. Vergleichsweise spartanisch ist die Atmosphäre in den Sozialwohnungsbauten von Jaccaud + Associés (A2-3), deren zentrale, hohe Atrien mit ihren umlaufenden Galerien von fern an das Familistère in Guise erinnern.

Mehr als 10 000 Quadratmeter Geschossfläche in den Erdgeschossen sind für kommerzielle oder wohnergänzende Nutzungen reserviert; bodennahes Wohnen gibt es nur in den Aussenbereichen der Überbauung. Ein Teil der Ladenlokale war schon im Sommer 2022 belegt, auch ein Grossverteiler hat sich niedergelassen. Die Breite des zentralen Boulevards bewirkt jedoch eine gewisse Trennwirkung. Dem Städtebau gelingt es zwar, die Volumen und Raumtiefen auf beiden Hälften in Bezug zu setzen, sodass ein Dialog quer über die Strasse entsteht. Zur physischen Querung lädt der Boulevard jedoch nicht ein; er bleibt eine grosse Geste ohne viel Bezug zum konkreten Ort. Der Zufall hat ihm immerhin einen prominenten Fluchtpunkt geschenkt: Nach Südwesten weist die Achse genau auf das Hochhaus Tour Opale von Lacaton & Vassal am Bahnhof Chêne-Bourg des Léman Express (vgl. wbw 12 – 2018).

Hohe Messlatte für nächste Bauetappen

Mit der Überbauung sind auf einen Schlag rund 700 Wohnungen entstanden, rund 2 000 weitere sollen in Kürze folgen, davon rund 400 genossenschaftliche. Im Anschluss an den ersten Studienauftrag haben 2014 Urbaplan mit Charles Pictet und ADR, 2018 CCHE sowie group8 mit sehr unterschiedlichen Projekten gewonnen – wobei das Preisgericht 2014 die jetzt realisierte erste Etappe zum Leitbild für die nachfolgenden erklärte.Noch vor den ersten Wohnhäusern stand 2021 die Primarschule (CLR architectes) bereit.

Das Stück Stadt, das jetzt noch isoliert erscheint, wird bis 2030 Teil und Mitte eines lebhaften Quartiers von grosser Dichte werden; der Massstab des überbreiten Boulevards findet dann vielleicht seine Berechtigung. Eine gewisse Künstlichkeit bleibt aber schon dadurch bestehen, dass das neue Quartier auf drei Seiten faktisch eingezäunt ist – nur ein einziger (älterer) Verbindungsweg durch die Nachbarquartiere quert den Boulevard. Mit dieser ersten, zentralen Etappe des Stadtteils Belle-Terre hat das Atelier Bonnet aber gezeigt, dass auch ein fast reines Wohnquartier an der Peripherie städtische Qualitäten besitzen kann, ohne dass dafür ein Blockrand erforderlich ist. Gelungen ist dies dank der präzisen Setzung von Wegen und Räumen und dank einer hochstehenden Architektur, die nach Einheit strebt.

Daniel Kurz (1957) ist Architekturkritiker und Historiker in Zürich. Er publiziert regelmässig zu den Themen Stadtentwicklung und Wohnungsbau. 2022 erschien sein Hauptwerk Die Disziplinierung der Stadt (2008) in neuer Auflage beim gta Verlag. Von 2012 bis 2021 war er Chefredaktor von werk, bauen+wohnen.

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