Susanne Stacher
Die Pariser Architektin folgt einem experimentellen Ansatz und lotet mit wissenschaftlicher Methode und künstlerischem Flair die Grenzen des Wohnungsbaus aus. Wie eine Anthropologin untersucht sie nach dem Bezug ihre Bauten erneut, um daraus für nachfolgende Projekte zu lernen.
Sophie Delhay hat eine Passion: Das Wohnen. Dies ist der Grund, warum sie Architektur studiert hat. Und wenn sie keine Wohnungen entwerfen könnte? «Dann würde ich etwas ganz Anderes machen, keine Architektur.» Aus diesem radikalen und völlig ausschliesslichen Zugang zur Profession entwächst Delhays Stärke. Er ist mit ein Grund, weshalb sie als Gastprofessorin nach Lausanne berufen wurde, wo sie Wohnungsbau unterrichtet – für Delhay eine komplexe Aufgabe, bei der viele Ebenen zusammenkommen: die soziale, die politische und die gesellschaftliche. «Im Wohnen liegt die Essenz unseres Daseins», ist sie sich sicher. Nachdem sich die Gesellschaft und die Formen des Zusammenlebens in den letzten Jahren stark verändert haben, müsse sich auch die Architektur wandeln können.
So lotet Delhay mit wissenschaftlicher Methode und künstlerischem Flair die Grenzen des Wohnungsbaus aus und tastet sich neugierig durch den Dschungel von «hunderttausend Milliarden möglichen Wohnräumen», wie sie es in ihrem Forschungsprojekt OuHaPo: Ouvroir d’Habitat Potentiel ankündigt.1 Hier werden neue potenzielle Lebensräume erkundet, «bei denen die Wohnung nicht mehr als ein in Teile gegliedertes Ganzes betrachtet wird, sondern als miteinander kombinierbare Teile.» Dahinter stecken sowohl eine soziale und gesellschaftspolitische Ambition als auch eine räumliche, denn «die Wohnung wird nicht auf der Ebene eines Haushalts konzipiert, den wir heute nicht definieren können, sondern vielmehr von ihrer kleinsten Einheit, dem Zimmer, aus. Dessen Beziehung zu den anderen ist frei wählbar, den Bedürfnissen der Bewohnenden entsprechend.» Dieser Ansatz stellt die gewohnte Arbeitsweise auf den Kopf, erläutert die junge Pariser Architektin.
Dies zeichnet sich bereits deutlich beim ersten Wohnbau Delhays in Nantes (2004 – 08, S. 34 – 35) ab, den sie mit ihrem Kollektiv Boskop architectes (S. Delhay, F. Delhay, F. Guesquières, D. Lecomte, L. Zimmy) entwickelt hat. Die quadratischen, in drei Dimensionen komponierten Volumen, die mal Zimmer, mal Gärten sein können, verleihen der Wohnanlage einen würfelspielartigen Ausdruck. Durch die systematische Wiederholung entsteht ein prägnantes Muster. In dieser zeilenförmig angelegten zwei- bis dreigeschossigen Siedlung können die Zwischenräume alternierend öffentlich für die Erschliessung, gemeinschaftlich zum Spielen oder privat als Gärten genutzt werden. In den privaten Hofbereichen werden bestimmte Zimmer drei verschiedenen Wohnungen zugeordnet: Entweder werden sie von den beiden anliegenden Wohnungen in derselben Häuserzeile genutzt oder von der gegenüberliegenden Wohnung, deren Mieterinnen und Mieter den Garten durchqueren, um etwas abgeschieden vom Familienleben Ruhe zu finden.
Um zu erfahren, wie dieses Dispositiv in der Tat genutzt wird, kehrten die Architektinnen und Architekten nach dem Bezug in ihre Siedlung zurück und führten Interviews mit der Nutzerschaft. Dabei erfuhren sie so manches, an das sie nicht gedacht hätten: Neben der evidenten Möglichkeit, dass sich in diesen abgelegenen Zimmern auf der anderen Gartenseite Jugendliche zurückziehen oder deren Eltern Büros oder Hobbyräume einrichten, fanden sie in einem Fall einen weiteren Wohnraum vor: Er gehört einem geschiedenen Vater. Wenn er die Obhut hat, will er seinen Kindern etwas Spezielles bieten. Er umschreibt die Möglichkeit folgendermassen: «Es ist so ähnlich wie miteinander ausgehen, einfach bei mir zu Hause.» Die Architektinnen und Architekten fanden auch heraus, dass die gemeinschaftlichen Höfe besser funktionieren, wenn sich die Küchen zu ihnen hin öffnen. Wie Anthropologen fotografierten die Architekturschaffenden die Situationen und zeichneten die unterschiedlichen Nutzungen auf, um daraus für nachfolgende Bauten zu lernen.
Dieser experimentelle Ansatz stellt die fixen Vorstellungen der Bauherrschaft grundlegend in Frage: «Ein Projekt, das nur darauf abzielt, das vorgegebene Raumprogramm zu erfüllen, führt in eine Sackgasse; unserer Meinung nach muss ein solcher Ansatz übertroffen werden», stellt Delhay klar. Von dieser Herausforderung geradezu besessen, zerlegt sie das Raumprogramm systematisch in stets gleich grosse Wohn- oder Schlafräume, die 13 Quadratmeter umfassen und quadratisch sind (eine in Frankreich unübliche Grösse: Die Zimmer sind generell 9 oder 12 Quadratmeter, das Wohnzimmer 18 bis 24 Quadratmeter gross), oder in ebenso grosse aussenliegende Loggien sowie in halb so grosse Nebenräume, die unterteilbar sind (Küche / Eingang, Bad / WC). Jeder Nebenraum ist an einen Schacht angeschlossen, wodurch sich eine grosse Nutzungsvielfalt ergibt, denn alle Einheiten können beinahe beliebig kombiniert werden.
«Mit unserer Methode entstehen offene, anpassungsfähige, entwicklungsfähige und interpretierbare Wohnungen, die den verschiedenen Lebensstilen der Bewohnerinnen und Bewohner und den unterschiedlichen Phasen des Tagesrhythmus oder des Lebenszyklus entsprechen», erklärt Delhay. Dieses Prinzip wurde beim Wohnbau Unité(s) in Dijon (2015 – 19) umgesetzt. Ein wichtiges Instrument für die gewünschte Flexibilität sind hier die eigens angefertigten Schiebetüren, welche die Hälfte der Wand ausmachen und je nach Bedarf verschwinden können. Dadurch kann ein offenes Raumkontinuum mit unterschiedlichen Konstellationen geschaffen oder individuelle Abschottung erreicht werden. Die Schiebelemente in Holz treten durch ihre Materialität mit den raumhaltigen Fenstereinfassungen in Dialog. Hier an der Fassade befinden sich wunderbare Sitzgelegenheiten mit Ausblick.
Räume werden aber auch als kollektive Einheiten konzipiert, die strukturierend und formgebend für die Wohnanlage sind: Durch ihre geschickte Anordnung kommt es zu einer feinen Graduierung von individuellen, kollektiven und öffentlichen Innen- und Aussenräumen. Bei vielen von Delhays Projekten machen Raumfolgen mit kollektiver Nutzung das Herz des Gebäudes aus. Sie haben sowohl raumstrukturierende als auch erschliessende Funktion: Beim Wohnungsbau Machu Picchu, der 2019 mit dem renommierten Preis Equerre d’argent ausgezeichnet wurde, artikuliert sich dieser Ansatz in aussenliegenden Gemeinschaftsräumen, die sich quer durchs Wohngebäude hinaufstaffeln. Sie werden über eigene Treppen erschlossen, die mit den jeweils um ein Geschoss versetzten, farblich markierten Aussenräumen mitlaufen. Diese öffnen sich mal nach Westen, mal nach Osten und schaffen eine Vielzahl von gemeinsam nutzbaren Orten.
In einem unrealisierten Projekt für ein Studierendenwohnheim streckt sich auf ähnlich versetzte Weise eine vertikale Bibliothek durch den gesamten Baukörper bis zur öffentlichen Dachterrasse hinauf – eine Idee, die Delhay bei nächster Gelegenheit gern in die Realität umsetzen möchte. Für jeden Entwurf erfindet die Architektin «Arbeitsprotokolle», um dem jeweiligen Kontext und der Ausgangssituation entsprechend stets «andere Spielregeln» zu etablieren, aus denen sich dann der Entwurf ergibt. «Indem man immer etwas anders macht, entstehen stets andere Wohnformen», sagt sie und bezeugt so die Notwendigkeit dieser selbst auferlegten «Protokolle». «Darüber hinaus verleiht das Protokoll dem Projekt eine eigene Intelligenz: Es tritt immer ein Moment ein, in dem das Projekt sich verselbstständigt und uns den Weg vorgibt. Es findet seine eigenen Lösungen, es gehört uns nicht mehr; wir müssen ihm nur noch folgen.» Dieser offene Ansatz lässt Platz für das Unerwartete, das sich – wie bei jeder Forschung – durch den experimentellen Arbeitsprozess herauskristallisiert.
Sieben Themen zeichnen sich methodisch im Werk Delhays ab: Das «Protokoll» (1) definiert die Spielregeln, aus denen sich eine strenge mathematisch-geometrische Matrix, ein «Muster» (2) ergibt, das in seiner Variationsvielfalt zu einem eigenen Gestaltungsthema wird. Trotz dieser Strenge lassen die Projekte viel Raum für die «Interpretation» (3), indem sie keine starren Raumanordnungen vorgeben, sondern eine Art Partitur anbieten, die von den Nutzenden frei interpretiert werden kann. Dabei spielen die «freie Aneignung» (4) der Räume und Zwischenräume sowie die «Entwicklungsmöglichkeiten» (5) eine grosse Rolle. Auch auf die Entstehung von «Gemeinsamkeiten» (6) wird ein grosses Augenmerk gelegt, ebenso auf die «Durchmischung» (7) der verschiedenen sozialen Gruppen. Diese sieben Maximen definieren Delhays Arbeitsweise, die fern von formalen Spielereien ein starkes Engagement für die Menschen und deren Lebensbedingungen zeigt.
«Grenzen zu ziehen wohnt der Architektur inne: Sie definiert das Aussen und das Innen, das Öffentliche und das Private, das Warme und das Kalte – dies sind gewissermassen autoritäre Entscheidungen, die eine Architektin zu treffen hat», stellt Sophie Delhay fest und fragt sich: «Wie kann man als Architektin mit dieser Autorität umgehen und dennoch das Widersprüchliche und das Undefinierte zulassen oder anregen, weil beides schliesslich die Essenz des Lebens ausmacht?» Die Antwort betrifft in erster Linie den Grundriss, der Grenzen setzt, aber auch Möglichkeiten eröffnet. Es geht ihr darum, dass Lösungen von den Bewohnerinnen und Bewohnern unterschiedlich interpretiert werden können. «Auf diese Weise entkomme ich der Autorität und der Standardisierung im Wohnungsbau – schliesslich geht es um menschliche Lebensweisen und Bedürfnisse, die per se nicht standardisiert sein können.»
Deshalb ist die Frage der Raumaufteilung zentral in Delhays Schaffen, wobei die Architektin aus Passion die Grenzen mit viel Feingespür auslotet, um ein gemeinschaftlicheres Wohnen und Dasein zu ermöglichen – in retroaktiver Rücksprache mit den Nutzenden, die beim Zeitpunkt des Entwurfs noch unbekannt sind.
Susanne Stacher (1969) ist Architektin und Architekturkritikerin in Paris und Korrespondentin von werk, bauen + wohnen. An der Architekturschule in Versailles waren Delhay und Stacher Kolleginnen, bevor erstere ihre Professur in Lausanne antrat.
1 Der Titel ist natürlich eine Abwandlung der Abkürzung Oulipo für «Ouvroir de littérature potentielle».