Florian Heilmeyer, Roland Halbe (Bilder)
So kann sie gelingen, die Verbindung von Alt und Neu: Der radikal konzeptionelle Entwurf für das Archiv der Avantgarden beschert den barocken Aussenmauern des historischen Blockhauses an der Augustusbrücke ein wunderbar skulpturales Innenleben.
Im Dezember 2016 erhielten die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (SKD) die grösste Schenkung ihrer jüngeren Geschichte. Der Bielefelder Verleger und Kunstsammler Egidio Marzona übergab ihnen seine gewaltige Sammlung mit rund 1,5 Millionen Objekten und Archivalien der modernen Kunst. Vom Kubismus und Surrealismus über Futurismus, Bauhaus, Dadaismus, Fluxus bis zur Postmoderne findet sich darin praktisch jede künstlerische Spielart der Moderne des 20. Jahrhunderts. Marzonas Sammlung von Gemälden, Grafiken, Möbeln, Fotos und Filmen, dazu von umfangreichen Dokumenten, Manuskripten und Briefen, gilt als weltweit aussergewöhnlich umfangreich und breit gefächert. In Dresden ist schlicht von einem «Schatz» die Rede.
Dieser Schatz allerdings kam mit Bedingungen. Marzona hatte parallel mit Museen in Berlin und den USA verhandelt, denn er wollte seine Sammlung nicht nach den Rubriken zeitgenössischer Museumskunde zerpflückt sehen. Dresden bot ihm, was er suchte. Die Eingliederung seiner Sammlung in die SKD als eigenständiges Institut, neun Vollzeitstellen für die Aufarbeitung und Erforschung des Bestands und dazu ein wunderbares Gebäude in bester Lage, das schon länger nach einer neuen Nutzung suchte: das sogenannte Blockhaus am nördlichen Ende der Augustusbrücke, direkt am Elbufer und unmittelbar vis-à-vis dem Residenzschloss und der Brühlschen Terrasse. Das Gebäude war 1732 als Neustädter Wache errichtet worden und ersetzte einen Holzbau, dessen Spitzname kurzerhand auf den Neubau überging. Der Entwurf stammte vom französischen Architekten Zacharias Longuelune, einem der Väter des Dresdner Barocks. Als Brückenkopf orientiert sich der schwere Natursteinbau mit seiner in Lisenen und Pilaster gegliederten Barockfassade eindeutig an den schweren Palästen am anderen Ufer.
Bei den Bombardierungen im Februar 1945 brannte das Blockhaus aus, übrig blieben allein die Aussenmauern. Erst 1982 kam neues Leben in die Ruine, als in der historischen Hülle ein Neubau für das Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft mit Gaststätte, Klub- und Ballsaal entstand. Mit der Wende endete diese Nutzung, 1994 ging das Blockhaus an den Freistaat Sachsen über, der es für Büros und Veranstaltungen nutzte. Nach schweren Schäden durch das Elbhochwasser 2013 blieb das Haus leer. Erst mit der Aussicht auf Marzonas Schenkung stellte der Freistaat 20 Millionen Euro für die Sanierung zur Verfügung.
Mit dieser Grundausstattung soll das Archiv der Avantgarden eine noch nie dagewesene Mischung aus Schaulager, Bühne, Forschungszentrum und Museum werden. Was im Haus geforscht wird, soll möglichst unmittelbar zu Ausstellungen, Diskussionen oder Performances führen, gerne performativ und experimentell. Doch wie passt das Einsortierte und Erstarrte eines Archivs zum Radikalen der verschiedenen, die Grenzen ständig aufbrechenden Avantgarde-Bewegungen? Die Generaldirektorin der Staatlichen Kunstsammlungen, Marion Ackermann, spricht von einem «Labor», sieht einen «neuen Museumstyp» im Entstehen.
Die Architektur geht in diesem Sinne voran. Auch sie zieht Kraft aus der Verbindung von Gegensätzlichem. Hier heisst der Widerspruch: Beton und Barock. Bereits im Wettbewerb 2018 war klar, dass das Innere des Hauses grosszügig neu geordnet werden konnte – nicht nur wegen der Hochwasserschäden, sondern weil nur die historische Hülle unter Denkmalschutz stand, nicht das Innere von 1982. Nieto Sobejano reichten beim Wettbewerb den wohl radikalsten Vorschlag ein. Sie höhlten das Blockhaus aus wie einen fetten Kürbis zu Halloween. In der Bauzeit standen für eine Weile nur die Aussenwände mit leeren Fensterhöhlen, was auf gespenstische Weise die ausgebrannte Kriegsruine in die Erinnerung der Stadt zurückbrachte. Dann füllten die Architekten die Hülle mit einer frei geformten Skulptur.
Besuchende betreten das Archiv durch die Kolonnade an der Nordseite. Hinter einer Drehtür erwartet sie ein weitgehend freigeräumtes Erdgeschoss, der Blick geht durch Fenster in der südlichen Aussenwand bis zur Elbe. Über dieser Fläche hängt das Archiv als schweres Volumen aus Beton: ein mächtiger, dreigeschossiger Körper mit 15 Metern Kantenlänge. Bei voller Auslastung kann das Archiv ein Gewicht von 2 000 Tonnen erreichen und man meint, wenn man bei 3,65 Metern lichter Höhe darunter flaniert, dieses Gewicht zu spüren. Die grosse Geste stellt das Archiv nicht nur theatralisch ins Zentrum – sie gibt ihm auch eine physische Präsenz und eine nachvollziehbare Grösse: So gross ist der Körper, der nötig ist, um 1,5 Millionen Objekte zu konservieren. Nie hat ein Archiv so eine Inszenierung erlebt: Schaut her, unser hängender Tresor! Selbst bei Hochwasser liegen die Objekte hier sicher wie in Abrahams Schoss.
Zur Flussseite schwillt die Raumhöhe neben dem Archivkörper auf fast sieben Meter an. Hier stellen die Architekten dem schweren Kubus eine über zwei Geschosse freistehende Spiraltreppe zur Seite. Sie steht leicht aus der Mittelachse verschoben zwischen zwei Fenstern, was ihr ein wenig die Dramatik nimmt. Sie konkurriert nicht mit dem Archiv, ist sekundäres Element. Zwei steile Drehungen führen hinauf auf eine Forschungsplattform, die unter dem ebenfalls ausgehöhlten und somit zweigeschossigen, weiss gestrichenen Walmdach üppig Tageslicht erhält – durch die Gaubenfenster und ein Oberlichtband über dem hängenden Kubus. Breite Fugen lassen das Tageslicht seitlich am Archiv hinab bis ins Erdgeschoss fallen. Die strenge Logik der barocken Hülle wird durch die freie Innenstruktur gründlich auf den Kopf gestellt.
Erstaunlich ist, dass man von aussen nichts von diesem Innenleben erahnen kann. Selbst von der Brühlschen Terrasse aus wirkt das Haus mit seiner pittoresken Dachlandschaft wie eine historische Rekonstruktion. Nicht einmal einen auffälligen Schriftzug, von den Ausflugsdampfern sichtbar, gönnte man dem Archiv der Avantgarden.
Zurück zum hängenden Tresor im Zentrum: Gehalten wird er von zwei seitlichen Betontürmen, in denen Treppenhaus und Aufzug verborgen sind. Die beiden Türme sind mit zwei jeweils dreigeschossigen Vierendeelträgern aus Stahl verbunden. Diese tragen den Hauptteil der Lasten. Zentriert und ausgeglichen aber wird die Lastverteilung über vier grosse Betonschwerter im Dach, die das Gewicht an vier Verbundstützen in den Gebäudeecken weitergeben. Es ist ein konstruktiver Kraftakt, der für den architektonischen Zaubertrick nötig ist. Aber: Er ist es wert. Die Lichtfugen lassen den Blick immer wieder hinaufwandern. Es ist ein Kraftakt, der das Innere schlüssig von der Hülle befreit und damit en passant die Schwierigkeiten zeitgenössischer Architektur hinter historischen Fassaden sichtbar macht – und diese Probleme löst. Er zerschlägt den gordischen Knoten mit so viel Freude, dass man vielen anderen Neubauten, die hinter historischen Fassaden gefangen sitzen, den gleichen Mut gewünscht hätte – nicht zuletzt dem schwachen Berliner Stadtschloss-Neubau (vgl. wbw 7/8—2019, S.26–31). Es ist leicht vorstellbar, dass Marzona diese Sichtbetonskulptur schon im Wett- bewerb am überzeugendsten fand; Immerhin legte sein Vater einst den Grundstock für das Familienvermögen mit einem Betonwerk in Bielefeld.
Enttäuschend ist, dass die Gestaltung der Eröffnungsausstellung «Archiv der Träume» mit der eigentümlichen Kraft dieser Innenraumskulptur deutlich fremdelt. Viel zu nah an der Eingangsdrehtür sind kanariengelbe Vorhänge gespannt, vor denen die Einführungstexte hängen. Die Wegführung zum Ticketschalter und zu den Garderoben in den seitlichen Gebäudeecken ist haarsträubend und wird schon kleinere Besuchermengen kaum zu bewältigen vermögen. Ein offeneres Ausstellungskonzept hätte auch dem Raum gutgetan. Leider sind auch alle Fenster im Erdgeschoss fest verschlossen worden, was den Ausstellungsstücken sicherlich guttut, aber den Blick nach aussen, vor allem zur Elbe und den Museen gegenüber, verhindert.
Der Ausstellungsraum ist vollständig introvertiert. Unter dem Betonkubus wird er von zwei Stellwänden profan begrenzt, was auch den Blick durch die Etage fast vollständig versperrt. Und unter der hohen Galerie ist mit weiteren Stellwänden, ein paar Tischvitrinen und zwei Teppichinseln eine so hilflos im Raum schwimmende Gestaltung ausgelegt, dass man nicht mehr genau sagen kann, ob das ironisch avantgardistisch gemeint oder einfach schlecht gemacht ist. Gerade der Eröffnungsausstellung eines solchen Hauses hätte man mehr Verve gewünscht. Andererseits hat die neu gegründete Institution natürlich gerade erst begonnen, die Möglichkeiten ihrer mehr als aussergewöhnlichen Innenraummaschine zu erforschen. Insofern darf man dem Haus viel Zeit, Freude und Fantasie wünschen, um das grosse Versprechen seines Programms zukünftig auch in der Gestaltung der Ausstellungen einzulösen.
Florian Heilmeyer (1974) ist freier Autor, Kurator und Architekturkritiker in Berlin. Seine Schwerpunkte sind die Architekturgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts sowie die Berliner Stadtgeschichte.
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