Angelus Eisinger und Stefan Wülser im Gespräch mit Lucia Gratz und Christoph Ramisch
Einfamilienhäuser bilden die Hälfte des Gebäudebestands der Schweiz. Sie sind eine Knacknuss für die Raumplanung und ein Entwurfslabor für Architekturschaffende. Wir reflektieren Wohnform und Typologie und diskutieren deren Weiterentwicklung.
wbw Angelus Eisinger, als Direktor des Planungsdachverbands der Region Zürich und Umgebung (RZU) haben Sie das Projekt Zukunft Einfamilienhaus mit angestossen.1 Wo stehen wir dabei in der Debatte?
Angelus Eisinger Wir sollten uns nicht täuschen, dass es eine breite Debatte gäbe. In Politik und Fachwelt findet sich eine diskursive Vorformung, die dem Thema Einfamilienhaus skeptisch gegenübersteht. Dies versucht das Projekt, das das Raumplanungsbüro EBP und wir durchgeführt haben, zu ändern. Aber zu behaupten, wir hätten mit der Auseinandersetzung eine breite Resonanz gefunden, wäre übertrieben. Vielmehr zeigt sich, welche fundamentalen Vorbehalte das Thema nach wie vor begleiten.
wbw Was setzen Sie diesen Vorbehalten entgegen?
Eisinger Wir möchten einen Perspektivwechsel erwirken. Der beginnt damit, dass aus planerischer Perspektive das Einfamilienhaus nicht weiter ignoriert werden kann. Fast die Hälfte der Gebäude in der Schweiz sind Einfamilienhäuser. Wir können es uns nicht leisten, diese Gebäudemasse aussen vor zu lassen. Das macht für mich auch die Aktualität des Themas aus: Am Einfamilienhaus zeigt sich die Frage zur Weiterentwicklung des Bestands in paradigmatischer Weise. Die eigentliche Knacknuss dabei sind die Einfamilienhausquartiere.
wbw Kommt das bei den Städten und Gemeinden an?
Eisinger Es braucht mehr Sensibilisierung, schliesslich geht es für die Gemeinden um die Transformation eines grossen Teils ihrer Gebäudebestände. Und der kommt an das Ende eines Lebenszyklus. Viele Bewohnerinnen und Bewohner sind über 65 Jahre alt und fragen sich: Was machen wir mit unserem Haus? Wie wollen wir in Zukunft wohnen? Es ist wichtig, klar zu machen, welch hohe Relevanz diese Frage hat. Dabei brauchen die Gemeinden oft Hilfe.
wbw Wie könnte eine solche Hilfe aussehen?
Eisinger In Zusammenarbeit mit dem Verein Metropolitankonferenz Zürich und verschiedenen Gemeinden hat das Projektteam von EBP und RZU niederschwellige Angebote erprobt. Da geht es um Infoveranstaltungen, Spaziergänge oder Wohncafés, in Nachbarschaftsgruppen miteinander diskutiert. Diese Formate richten sich an die Eigentümerschaften, denn am Ende sind sie die entscheidenden Akteurinnen und Akteure. Die zentrale planerische Frage ist: Wie entsteht ein Konsens zwischen dem, was die Eigentümerschaft für die eigene Zukunft richtig findet, und dem, was aus Sicht der Gemeindeentwicklung wünschenswert ist?
wbw Stefan Wülser, als Architekt haben Sie mehrere Einfamilienhäuser umgebaut. Spüren sie dafür eine neue Bereitschaft bei den Hausbesitzenden?
Stefan Wülser Ich glaube, da sind wir einen Schritt weiter als noch vor fünf Jahren. Bei uns landet jedoch nur ein kleiner, spezifischer Teil von dem, was gebaut wird. Diejenigen, die den Weg zu uns finden, wollen sich diese Fragen stellen. Meist entstehen die Projekte im Moment der Generationenübergabe. Bei den Jungen schwankt dann das Gefühl zwischen der Freude an der Opportunität – ein eigenes Haus gilt ja immer noch als Luxusgut – und der plötzlichen Auseinandersetzung, wie man als Familie funktionieren und wie man heute leben möchte. Denn eigentlich wollte man es ja anders machen als die Eltern.
wbw Gelingt das der jüngeren Generation?
Wülser Teilweise. Es bleibt sicherlich die Ausnahme, dass jemand im Bewusstsein zu uns kommt, dass ein Haus auch eine gesellschaftliche Verantwortung mit sich bringt, der man sich stellen muss. Aktuell machen wir spannende Erfahrungen mit einem Projekt in Winterthur. Das ehemalige Arbeiterhaus mit drei Geschosswohnungen wurde die letzten sechzig Jahre als übergrosses Einfamilienhaus mit acht Zimmern genutzt. Die neue Besitzerschaft ist aus einer Genossenschaftswohnung in das Haus gezogen und möchte den Raum effizienter und nachhaltiger nutzen. In intensiven Gesprächen haben wir einen Entwurf entwickelt, in dem zwei Familien das Haus zusammen bewohnen und sich das mittlere Geschoss als Raum fürs Arbeiten, für Partys und für Gäste teilen. Noch dieses Jahr beginnen wir mit dem Umbau, doch war es ein langer Weg, die individuellen Bedürfnisse mit den gesellschaftlichen Überzeugungen abzugleichen.
wbw Was sind da die grössten Hindernisse?
Eisinger Theoretisch hätten viele der Hausbesitzerinnen und Hausbesitzer die Ressourcen, ihr Haus zu transformieren. Es besteht aber eine grosse Furcht davor, sich auf dieses Neue einzulassen. Da geht es vor allem auch um psychische und emotionale Reflexe: Kann man sich nach vierzig Jahren im eignen Haus eine andere Familie im geteilten Garten vorstellen? An derartigen Fragen entscheidet sich vieles. Deshalb ist der Slogan entstanden: Das Einfamilienhaus muss vom Lebenstraum zur Lebensphase werden. Es geht darum, eine gesellschaftliche Norm oder einen weit geteilten Wunsch auf den Prüfstand zu stellen und stattdessen zu überlegen, was man in welcher Phase braucht. Und wie es gelingt, diese Übergänge zu gestalten.
wbw Die Zeit drängt, denn in den kommenden Jahren steht bei sehr vielen Häusern dieser Umbruch an.
Eisinger Ein Grundproblem ist, dass wir uns zwar fachlich einig sind, aber es nicht gelingt, dies in die konkrete Projektierung, vor allem von ganzen Gebieten, einzubringen. In Einzelfällen mag das klappen, wie es Stefan Wülser angedeutet hat. Aber das sind nicht Einzelfälle, weil die Häuser Einzelfälle sind, sondern weil es die Figuren sind, die die Entscheide treffen.
Wülser Genau das ist der Widerspruch. Die Häuser sind im Wesentlichen gleich, aber die individuelle und gesetzliche Ausgangslage ist immer verschieden.
wbw Das macht es für raumplanerische Ansätze schwierig. Müssen Impulse eher aus dem architektonischen Massstab kommen?
Wülser Es gibt noch eine dritte Kraft. Neben Fachdiskurs und Eigentümerschaft sind es die Gemeinden, die mit ihrem Baureglement die Weichen stellen, wie offen oder determiniert der Handlungsspielraum ist. Wir erleben mehrfach, dass in den aktuellen Revisionen der Bau- und Zonenordnungen trotz guter Absichten überholte Lebensvorstellungen in neuen Gesetzen zementiert werden. Das ist problematisch, weil wir jetzt Dinge ausschliessen, für die man in den kommenden zehn Jahren durchaus Allianzen hätte.
wbw Woran lässt sich das konkret festmachen?
Wülser Nach wie vor arbeiten wir mit Parzellen, die dereinst als gesetzliche Antwort auf die breite Nachfrage nach Standardhäusern entstanden sind. Auf diesen Grundstücken ist es mit heutigen Baureglementarien schwer, Alternativen zu entwickeln. Parzellenübergreifendes Denken könnte ein Ausweg sein. Was ist überhaupt möglich? Und wo sind die prozessualen Hürden? Da müssen sehr viele Leute gleichzeitig das Gleiche wollen, damit sich überhaupt etwas bewegt.
Eisinger Solche Projekterfahrungen sind enorm wichtig für die Ausbildung von Planungsprozessen. Auf der raumplanerischen Ebene bedeutet das für mich, dass die Städte und Gemeinden – und da geht es um Quartiere, nicht um einzelne Objekte – durch Testplanungen Ideen entwickeln müssen. Mit Testplanung meine ich aber nicht 20 Expertinnen und Spezialisten. Diese Prozesse müssen in hohem Masse partizipativ gestaltet werden. Den Einfamilienhausbestand werden wir nur transformieren können, wenn wir Verfahren gestalten, die alle Beteiligten zusammenbringen.
wbw Weshalb passiert das aktuell zu wenig?
Eisinger Mir scheint, das passiert momentan vor allem dort, wo das Thema des ISOS ins Spiel kommt. Auf der Ebene des Quartier- oder Ortsbildes gelingt es, auf übergeordneter Ebene zu reflektieren. Aber sonst sind diese Verfahren ein Feld, das es dringend zu entwickeln gilt. In städtischen Quartieren mag es klare Vorstellungen geben, wie sich ein Objekt in einen grösseren Kontext einordnen soll. Aber sobald es um ganze Einfamilienhausgebiete geht, fehlen die Verfahren. Ein gutes Beispiel für solche parzellenübergreifenden Prozesse ist die Transformation der Genossenschaftssiedlung auf dem Areal Altwiesen in Zürich-Schwamendingen. Auch wenn es da um einen ganz anderen Massstab geht, verfügten dort 15 verschiedene Grundeigentümerschaften plötzlich über 155 statt vorher 60 Prozent Ausnützung. Das Büro Planwerkstadt hat elf Jahre lang verhandelt und eine Horizontlinie definiert, auf die sich alle einigen konnten. Das war ein enorm aufwendiger Prozess, aber alle Eigentümerinnen und Eigentümer – auch die, die zunächst skeptisch waren – sind am Ende aufgesprungen.
wbw Es braucht also viel Zeit und Geduld?
Eisinger Ja, und ohne einen früh erarbeiteten Konsens wird es nicht gehen. Normalerweise macht man ja erst den Wettbewerb und setzt danach um. Und dann hakt es. An der Altwiesenstrasse hat man das Verfahren gleichsam auf den Kopf gestellt. Erst die Gespräche und dann das Projekt. Besonders bei privaten Eigentümerschaften von Einfamilienhäusern ist das Aktivieren von Wissen essenziell, um gemeinsame Ziele zu formulieren, für die die Planenden dann Lösungen finden.
Wülser Die Bereitschaft für solche Prozesse ist heute da, sobald wir über konkrete Vorteile sprechen. Über den Dialog finden sich schnell Anknüpfungspunkte für Nachbarschaften, bei denen alle gewinnen und niemand verliert – ein optimistischer Rationalismus. Was spricht gegen eine Spezialisierung von Einfamilienhäusern? Vielleicht können die Menschen eines Quartiers vor dem einen Haus parkieren und in einem anderen gemeinsam waschen. Nicht hinter jeder Hecke muss die ganze Welt simuliert werden. Wenn man sich davon löst, wird schnell klar, dass das für alle ein Vorteil sein kann. Aber man muss das moderieren.
wbw Das setzt eine neue Flexibilität bei Eigentümerinnen und Eigentümern voraus. Wie etabliert man diese in der Breite?
Wülser Das ist etwas, was mich hoffnungsvoll stimmt in der neuen Umbaukultur. Man überführt nicht mehr einen fixen Ist-Zustand in den nächsten. Es gibt unterdessen ein Bewusstsein, dass man selbst in 15 Jahren jemand anderes ist und in 30 Jahren sowieso nicht mehr in diesem Haus wohnen wird. Ich glaube, wir sind an einem Punkt, an dem Menschen, die mit uns ein Projekt entwickeln, in vielen Themen übereinstimmen. Sie erkennen, dass räumliche Strukturen nicht permanent sind und Adaptierbarkeit ein gutes Investment sein kann. Das geht so weit, dass man Häuser nach innen und aussen öffnet. In einem Projekt in Richterswil entstanden – parallel zur technisch-energetischen Ertüchtigung des Hauses – so grosszügige Räume, die von der Familie funktional gar nicht mehr definiert werden. Sie dienen wechselweise als Wohn-, Spiel oder Arbeitsraum und können jederzeit neu angeeignet werden.
wbw Ersetzen neue Ansprüche die alten Gewohnheiten im Einfamilienhaus?
Wülser Es ist eben beides. Man ist offen für Veränderungen und gleichzeitig bleiben die Vorstellungen eines spezifischen Wohnkomforts. Selbstbestimmung, räumliche Flexibilität und ausdifferenzierte Schwellenräume sind solche Qualitäten, die wir antreffen. Aber braucht man dafür zwingend das Einfamilienhaus? Da müssen wir uns als Branche auch an die eigene Nase fassen: Haben wir es verpasst, alternative Modelle zu schaffen, die die gleichen Vorzüge in suffizienten Strukturen anbieten können?
Eisinger Ganz klar. Im Rahmen des Projekts Wohnregion 2030 führten wir Stakeholderhearings durch, darunter auch mit HR-Abteilungen grosser Firmen. Die formulieren klar: Wenn die Städte als Standorte konkurrenzfähig bleiben sollen, braucht es Angebote, die mit den Vorzügen des Einfamilienhauses mithalten können. Der frisch berufene Biotech-Professor von der amerikanischen Ostküste, beispielsweise, der ein grosses Haus mit zwei Autos davor gewohnt ist, möchte nicht in eine Geschosswohnung im Stadtzentrum ziehen. Es ist wichtig, dass Alternativen entstehen, die es auch solchen Personen ermöglichen, auf das Einfamilienhaus zu verzichten.
Wülser In Tagelswangen versuchen wir gerade, die Vorzüge des Einfamilienhauses auf ein Mehrfamilienhaus zu übertragen.2 Da sind wir erstmals an einen Punkt, an dem wir die gewünschte Flexibilität, Optionen für wechselnde Lebensphasen und verschiedene Aussen- und Schwellenräume in einer kompakten Alternative bieten, die auch wirtschaftlich in die Restriktionen der suburbanen Wohngebiete passt. Ich bin überzeugt, das Projekt wäre ein anderes geworden, hätten wir uns nicht vorher an den vielen Umbauten von Einfamilienhäusern abgearbeitet.
wbw Wie beeinflussen sich die Massstäbe?
Wülser In einem gewissen Rahmen kann man im Einfamilienhaus Dinge wagen, die einen Graubereich nutzen oder im Moment vielleicht noch illegal sind – eine Art vorgezogene «Gebäudekategorie E». Es ist der Ort, wo alle Beteiligten auch mal wegschauen können, wenn gewisse Regeln freier interpretiert werden. Es ist spannend, was passiert, wenn die Akustik einmal zur Nebensache werden darf oder die klimatischen Anforderungen nur einen Teil des Hauses betreffen. Wie funktioniert ein Wohngeschoss, wenn nur die Mitte technische Installationen aufweist? Müssen wirklich alle Zimmer 14 Quadratmeter haben? Das können starke Entwurfstreiber sein, die aber gute Nerven von allen Beteiligten benötigen, wenn man sie in einem Projekt mit zwanzig Wohnungen anwenden will.
wbw Ist das Einfamilienhaus ein Labor für grössere Bauaufgaben?
Wülser Genau, obwohl es schon paradox ist, dass das bürgerliche Einfamilienhaus heute zur Pièce de Résistance wird, an dem man die Zukunft ausprobieren kann.
Angelus Eisinger (1964) ist habilitierter Städtebauund Planungshistoriker. Zwischen 2008 und 2013 war er Professor für Geschichte und Kultur der Metropole an der HafenCity Universität in Hamburg. Seit April 2013 ist er Direktor des Planungsdachverbands Region Zürich und Umgebung. Seine Publikations- und Beratungstätigkeit fokussiert auf Fragen der aktuellen Stadt- und Raumentwicklung.
Stefan Wülser (1982) ist Architekt in Zürich und seit 2024 Professor an der HSLU in Luzern. Mit seinem Büro Stefan Wülser + konzipiert und realisiert er Projekte in allen Massstäben: von komplexen Umbauten über konstruktive Prototypen bis hin zu Siedlungskonzepten und Nachverdichtungen.
1 Informationen zum Projekt: Siehe Kasten S. 14.
2 https://www.stefanwuelser.ch/de/projektliste/siedlung-alter-kirchweg-tagelswangen (abgerufen am 12.03.2025)