17.2.2023

Beim Lärm bewegt sich etwas

Lärm ist offenbar nicht nur Krach, sondern spornt auch zu Kreativität an. Zu diesem Schluss könnte man bei der Lektüre des jüngst erschienenen Buchs «Wohnen im Einklang» kommen, herausgegeben vom Institut Konstruktives Entwerfen des Departements Architektur, Gestaltung und Bauingenieurwesen der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW. Doch halt! Warum überhaupt ein Buch über «Strategien zum Bauen im Lärm aus Forschung, Lehre und Praxis», wie es im Untertitel heisst?

Es gibt dafür eine einfache Erklärung: Die Sache mit dem Strassenlärm wurde in den letzten Jahren zu einem fast unüberwindbaren Hindernis im Baubewilligungsverfahren in grossen Schweizer Städten, insbesondere in Zürich. Der Lärm hielt Architekt:innen und Bauherrschaften mit wachsender Intensität auf Trab. Im Kern geht es um die Konkurrenz zweier in der Bundesverfassung verankerten Konzepte: Einerseits sollen die Menschen vor schädlichen oder lästigen Einwirkungen (etwa Strassenlärm) geschützt werden (Art. 74), andererseits ist die Siedlungsentwicklung nach Innen (Art. 75) ein Gebot der Stunde – aus mannigfachen Gründen, nicht zuletzt, um die Mobilität zu reduzieren. Wegen Letzterem geraten zunehmend Grundstücke in den Fokus der Wohnbautätigkeit, die an eigentlich zu lauten Strassen liegen. Das Umweltschutzgesetz USG weist in seinem Art. 11 im ersten Absatz darauf hin, dass Lärm «durch Massnahmen an der Quelle begrenzt» werde müsse – relativiert diesen Imperativ aber gleich im darauffolgenden zweiten Absatz, dass dieselbe Begrenzung so weit zu erfolgen habe, «als dies technisch und betrieblich möglich und wirtschaftlich tragbar ist.»

An den Quartierstrassen kann die Begrenzung an der Lärmquelle durch die Einführung von Tempo 30 meist erreicht werden; an grösseren Durchgangsstrassen, meist im Besitz und unter Kontrolle der Kantone, wird die Geschwindigkeit oft nicht reduziert. Trotzdem schafften es Architekt:innen immer wieder, gute Wohnungen mit anständigem und korrektem Lärmschutz zu entwerfen und zu bauen. Eine Reihe von Bundesgerichtsentscheiden schränkte die Gestaltungsfreiheit jedoch immer weiter ein, bis es schliesslich keine mehr gab. Obwohl gute Lösungen bereitstanden, wurde das Bauen an lärmigen Lagen faktisch verboten.

An dieser Stelle setzt die Forschung der ZHAW ein, deren Ergebnisse nun in der erwähnten Publikation «Wohnen im Einklang» präsentiert werden. Die Forschungsgruppe unter der Leitung von Astrid Staufer und mit Begleitung renommierter Lärmschutzexperten suchte nach Möglichkeiten, den Spiess umzudrehen: Das Problem des Lärmschutzes soll als Ansporn für den Entwurf verstanden werden. Die im Buch gezeigten Ergebnisse sind beeindruckend und respektieren den Rahmen der geltenden Rechtsordnung. Es wäre demnach doch möglich, qualitativ gute Wohnungen an lauten Lagen zu bauen, so die Kernaussage der Forschungsgruppe.

Nun kommt Bewegung in das Gesetzeswerk. Ausgehend von einer Motion des Aargauer Nationalrats Beat Flach aus dem Jahr 2016 (!) erarbeitete der Bundesrat einen Vorschlag zur Änderung des Umweltschutzgesetzes. Darin sollen die «lärmrechtlichen Kriterien für Baubewilligungen klarer formuliert und damit die Rechts- und Planungssicherheit erhöht werden». An der Entwicklung der Vorlage wirkten neben den Fachleuten vom Bundesamt für Umwelt BAFU Lärmschutzexpert:innen und Planerverbände (darunter der BSA) mit. Die partielle Lockerung des Lärmschutzes wird nun den Eidgenössischen Räten vorgelegt – wann, ist noch nicht bekannt. Nun muss die politische Arbeit aufgenommen werden. Und das heisst: zuhören, informieren, diskutieren. Es gilt, einen Links-Rechts-Graben zu verhindern, damit die Vorlage breite Unterstützung findet. Vermutlich braucht es einen Ausgleich zwischen jenen, die eine stärkere Reduktion bei der Lärmquelle fordern und jenen, die die verkorkste Situation am Gebäude klären wollen. Klar ist jedenfalls, dass Tempo 30 nicht a priori, überall und zu jeder Tageszeit die einzige Lösung ist. Die Versäumnisse der letzten Jahrzehnte im Bereich der Lärmsanierung an der Quelle können nicht mehr ignoriert werden. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Vorschlag des Städteverbands von vor Weihnachten 2022, in dem er Tempo 30 als Norm in den Städten fordert. Tempo 50 wäre weiterhin möglich, keine Frage, braucht aber eine Begründung; heute ist Tempo 50 die Regel. Der Vorschlag des Städteverbands öffnet einen Weg durch den Dschungel der festgefahrenen Positionen.

— Caspar Schärer

Wohnen im Einklang. Strategien zum Bauen im Lärm aus Forschung, Lehre und Praxis
Park Books, Zürich 2023
Broschur
152 Seiten, 34 farbige und 56 s/w Abbildungen und Pläne, 16.5 x 23 cm
ISBN 978-3-03860-308-5

© Modellbild: Architekturschaffende. Architektonischer Umgang mit dem Lärm – bald wieder möglich? Das Projekt Winterthurerstrasse von Abraha Achermann ist in Zürich eines der prominentesten Opfer einer engen Auslegung des Lärmschutzes.
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