Wohnen in der Leere

Zwischenstand im Entwicklungsgebiet Greencity Manegg, Zürich

Daniel Kurz, Roman Keller (Bilder)

Ein paar Pflanzkisten aus SBB-Paletten stehen verloren auf der grossen Pflasterfläche. Darüber flattern bunte Fähnchen zwischen riesigen Rasterfassaden: Notwehr der Bewohner? Hilflose Zeichen der versuchten Aneignung eines Stadtraums, der mehr für das Auge als für die alltäglichen Bedürfnisse von Menschen geplant scheint?

Wir stehen auf dem Spinnereiplatz im neuen 2000-Watt-Quartier Greencity. Das mächtige Volumen der einstigen Textilfabrik schiebt sich selbstbewusst in den Raum; mit ihren hohen Holzfenstern, dem steilen Dach und naturfarbenen Putz ist die alte Spinnerei Dreh- und Angelpunkt des neuen Quartiers, sie bürgt für historische Identität. Ein geometrisches Wäldchen aus Erlen und Sumpfzypressen gibt dem weiten Platz Halt und bietet schattige Sitzplätze.

Die historische Spinnerei flankieren Wohnbauten, die zu ebenso mächtigen Volumen zusammengefasst sind. Baukörper von 50 und 60 Metern Länge begrenzen mit strengen Fassaden die Nord-Süd-Achse des neuen Quartiers, den Maneggplatz: Dieser ist mit rund 25 Metern Breite halb Gasse und halb Platz: ein fast baumloser Raum, von Fassade zu Fassade gleichförmig mit Andesit gepflästert. Nur an einer Stelle unterbricht ein kleiner, umzäunter «Stadtgarten» mit romantisch geschwungenen Sitzmauern die Fläche. Arkaden auf der Ostseite unterstreichen den Anspruch auf Urbanität im Sinn der Stadt des 19. Jahrhunderts. Jedoch: Die Zürcher Bahnhofstrasse, mit ähnlichem Baulinienabstand, schmückt eine Allee aus Linden, die Architektur wechselt alle paar Schritte, und kaum ein Haus blickt ohne Erker oder Balkone auf die Strasse herab.

Hier, am südlichen Rand von Zürich dagegen regiert eine unerbittliche Strenge. Das Leben dringt kaum nach aussen, der öffentliche Raum wirkt leer. Daran ändert der feine Versatz der Baufluchten wenig.

Zwanzig Jahre Planung

Die Manegg, bis vor kurzem ein reines Industriequartier im Süden von Zürich, liegt isoliert von der übrigen Stadt als linsenförmiger Einschluss zwischen Sihl und Autobahn, der Länge nach zerschnitten von einer Vorortbahnlinie und der Landstrasse. Im Osten begrenzt sie der Steilhang des Entlisbergs, an dem sich die Autobahn emporschwingt, nach Westen öffnet sie sich zum Flussraum der Sihl. Gegenwärtig zeigt sich das ganze Gebiet als riesige, teilweise bereits bewohnte Baustelle.

Die östliche Hälfte, um die es hier geht, die Greencity, war seit 1860 Standort einer Spinnerei und danach hundert Jahre lang ein Areal der geschichtsträchtigen Sihl-Papierfabrik. Diese organisierte sich am Fuss des Talhangs entlang der riesigen Papiermaschinenhalle, deren Längsachse dem heutigen Quartier die Orientierung vorgibt. Im Jahr 2000 kündigte die Papierfabrik ihren Rückzug an, und die städtischen Behörden willigten in eine Umzonung des gesamten Industrieviertels Manegg ein. Es folgte das übliche Karussell von Testplanungen, Leitbild- und Gestaltungsplanverfahren, wobei zunächst eine Nutzung als Business Park mit Büros und Fachmärkten im Vordergrund stand. Die wirtschaftlichen Entwicklungskonzepte und die städtebauliche Planung verliefen nicht immer synchron: Nach wenigen Jahren zeigte sich, dass für ein Dienstleistungsquartier die Nachfrage fehlte, doch auch für Wohnen waren die Voraussetzungen an dieser lärmgeplagten und isolierten Lage denkbar schlecht.

2000-Watt-Quartier mit gemeinnützigem Anteil

Die Rettung brachte die Idee, in der Manegg ein nachhaltiges Quartier im Sinn der 2000-Watt-Gesellschaft zu schaffen; Andreas Binkert von Nüesch Development brachte sie zusammen mit Losinger Marazzi in den Planungsprozess ein. Ein Ausgangspunkt war das private Kleinkraftwerk der alten Spinnerei, das über einen historischen Fabrikkanal aus dem Wasser der Sihl Strom gewann. Zusammen mit Wärme aus der Grundwasserfassung der Papierfabrik hätten sich daraus schon 60 Prozent der Betriebsenergie gewinnen lassen. Vor allem aber war ein Alleinstellungsmerkmal geboren: Der Name Greencity machte aus der lärmgeplagten Gewerbezone eine Adresse – und liess ihre Bewohnbarkeit plötzlich denkbar erscheinen.

Heute zeichnet sich das Quartier durch eine integrierte Energieversorgung, Grundwassernutzung und Erdsonden aus. Die Bewirtschaftung der Grauen Energie war bei der Planung ebenso wichtig wie hohe Dämm- und Ökostandards (Minergie-P-eco), und die Dächer werden zur Stromgewinnung genutzt. Um auch im Betrieb dem 2000- Watt-Anspruch zu genügen, steht den Bewohnerinnen und Bewohnern eine App zur Verfügung, mit der sie etwa ihren Energieverbrauch optimieren können. Das 150 Jahre alte Kleinkraftwerk jedoch verlor, kaum war eine neue und effizientere Turbine installiert, aus Sorge um das Restwasser in der Sihl seine Konzession. Hier geriet der Naturschutz in Konflikt mit der Nachhaltigkeit.

Für die Nutzung als Mischquartier mit hohem Wohnanteil war auch ein neuer städtebaulicher Entwurf vonnöten, den Diener & Diener Architekten und Vogt Landschaftsarchitekten im Auftrag von Losinger Marazzi ab 2006 erarbeiteten. Das Konzept der grossen Baukörper, die zur zentralen Gasse ein geradliniges, urbanes Gesicht zeigen und hangwärts in U-förmige offene Wohnhöfe übergehen, stammt aus dieser Phase, die 2013 in den ergänzenden Gestaltungsplan mündete. Kurz bevor der Gestaltungsplan Manegg vom städtischen Parlament beraten wurde, ergriffen Ratsmitglieder der Linken im Oktober 2009 eine ungewöhnliche Initiative: Sie machten der Entwicklerin Losinger Marazzi klar, dass das Vorhaben im Parlament nur dann eine Chance habe, wenn ein Drittel der geplanten Wohnungen gemeinnütziger Natur wäre. So kam es, dass die drei gemeinnützigen Baugenossenschaften WOGENO, GBMZ und Hofgarten sowie die städtische Stiftung Wohnungen für kinderreiche Familien zu Ankerinvestoren wurden, die den durchmischten Charakter des Quartiers heute massgeblich prägen.

Langeweile auf hohem Niveau

In Greencity ist alles Qualität. An den Planungsverfahren waren prominente Namen beteiligt, ein ebenso prominent besetzter Beirat begleitet die Realisierung und die zahlreichen Wettbewerbe gewannen Büros wie Peter Märkli, Adrian Streich oder Zita Cotti. Vogt Landschaftsarchitekten koordinierten zusammen mit Diener & Diener das Ganze; die Umgebungsgestaltung stammt wie der Städtebau aus einer Hand. Trotzdem stellen sich vor Ort nur an wenigen Stellen Glücksgefühle ein.

Solche weckt vor allem der Umbau der alten Spinnerei. Hartnäckig hatte das Amt für Städtebau für den Fortbestand der Ruine gekämpft, von deren Dach und innerer Struktur praktisch nichts mehr übrig war. Zach + Zünd Architekten setzten die Hülle in beispielhafter Schlichtheit instand und schufen im Inneren gross gedachte Räume. Mit ihrem Versprechen von Geschichtlichkeit verleiht die Spinnerei dem ganzen Quartier Halt.

Zu den wichtigen Beiträgen gehört auch das Genossenschaftshaus von Adrian Streich mit seinem mediterran anmutenden inneren Patio. Seine tektonische Fassadengliederung trägt menschlichen Massstab ins Quartier, die Loggienfront projiziert das Innenleben nach aussen und belebt den Spinnereiplatz, ebenso wie das Bäckerei-Café im Erdgeschoss.

Verschlossener gibt sich vis-à-vis der eben fertiggestellte Bau von Peter Märkli. Zum Platz zeigt er eine klassisch-repräsentative Fassade mit Pilastern und Kapitellen, nach Westen dagegen massiv wirkende, durchgehende Balkone, die an Davoser Grosschalets erinnern. Es fällt schwer, beides zusammenzubringen.

Das Genossenschaftshaus von EM2N liegt als einziges zwischen Bahn und Landstrasse eingeklemmt. Tiefe Einschnitte gliedern den langgestreckten Baukörper und lassen Durchblicke entstehen, welche die Trennung durch das Bahntrassee überspielen und räumliche Spannung entstehen lassen. Die Rue Intérieure kompensiert mit ihren hellen, gemeinschaftlich genutzten Nischen den knappen Aussenraum.

Strenger wirkt das mächtige Genossenschaftshaus, das Zita Cotti entworfen hat. Seine vornehm erscheinende Rasterfassade aus eloxiertem Aluminium hebt sich von seinen Nachbarn ab. Trotz grosser Fensteröffnungen wirkt das rigorose Raster verschlossen, der Fläche fehlt eine Gliederung etwa durch Erker oder Balkone. Wesentlich freundlicher ist die Hofseite, die durchaus grosszügige Atmosphäre und einladende Gesten bietet.

Landschaftsarchitektur für das gebildete Auge

Die Vernetzung der vier gemeinnützigen Bauträger prägt auch nach Bezug den Quartieralltag, was keineswegs selbstverständlich ist. Hofgarten und WOGENO teilen sich ein Haus, GBMZ und Kinderreiche ein anderes. Gemeinsam bespielt werden EG-Nutzungen, Gemeinschaftsräume und Gästezimmer. Das vermeidet leerstehende Räume, und die Bewohner bleiben im Kontakt.

Vogt Landschaftsarchitekten hatten die Herausforderung zu lösen, zu einem frühen Zeitpunkt den Rahmen für eine noch gar nicht bestimmte Architektur vorzugeben. Wichtig war ihnen, übertriebenen Detailreichtum zu meiden und mit weiten Flächen den grossen Atem des Ganzen zu unterstützen. Den landschaftlich geprägten Hang im Osten des Areals versuchten sie mit dem urbanen Stadtraum zu verzahnen, ohne deren je eigenen Identitäten zu verschleifen.

Die weiten Flächen von Spinnerei und Maneggplatz sind zur Aneignung durch die Bewohner gedacht, erklärt Ralf Voss, Projektleiter bei Vogt: «Im Sommer herrscht hier viel Betrieb, die Kinder sind mit ihren Velos und Treträdern unterwegs.» Die geringe Zahl von Bäumen ist der dichten Belegung des Untergrundes durch Parkierung und Energieinstallationen geschuldet.

Massive Stützmauern aus eingefärbtem Stampfbeton vermitteln den Geländesprung zur Parkebene; sie stossen hart an die Hausfassaden. Oben wird man von geschwungenen Sitzmauern aus Stampfbeton und ausgedehnten Heckenkörpern empfangen: Auch Waldbäume wie Buche, Ahorn oder Birke werden unter der Schere gehalten, um Abstand zu den Parterrewohnungen zu wahren. Jeder der Wohnhöfe hat andere Dimensionen, und vor allem in den kleineren ist von der Hoffläche nur ein kleiner Teil als Lichtung zwischen den Hecken begeh- und bespielbar. Etwas Weite des Blicks ergibt sich erst entlang des historischen Fabrikkanals, wo der waldige Abhang an die Neubauten stösst und eine etwas grössere, von Linden bestandene Terrasse zurück auf den Spinnereiplatz blickt.

Die landschaftsarchitektonische Gestaltung von Greencity orientiert sich an – verfremdeten – Elementen aus der Stadt des 19. Jahrhunderts: Pflästerungen, Stadtgarten, geometrische Baumgruppen, geschwungene Wege, gestutzte Hecken als Abstandhalter. Entstanden ist, so scheint es dem Besucher, ein Aussenraum für das Auge und die theoretisch-historisch gebildete Wahrnehmung, weniger aber ein Raum, der zur Aneignung, zum Entdecken, zu Bewegung und zu Abenteuern einlädt. Noch befinden sich in Greencity zwei Drittel der Volumen erst im Bau – in Zukunft werden einige tausend Personen mehr als heute die öffentlichen Räume des Quartiers nutzen und beleben, erst dann stimmen die Proportionen.

Die Verkehrsplanung hat versagt

Vor allem aber ist im Anschluss an die Planung von Greencity das ganze Gebiet der Manegg in Bewegung geraten; auch westlich der Allmendstrasse verwandeln sich Gewerbeareale in ein Wohngebiet. Mit der Verdichtung drängen nun von beiden Seiten hohe Wohnhäuser an die Allmendstrasse: Hier könnte, ja müsste ein zentraler Boulevard entstehen, mit breiten Trottoirs, Alleen, Läden.

Stattdessen haben städtische und kantonale Verkehrsplanung das Gegenteil bewirkt und die Allmendstrasse jüngst für den Durchgangsverkehr ausgebaut. Dem ungehinderten Fernverkehr ist alles untergeordnet: Mit zusätzlichen Einspurstrecken, Velowegen und dergleichen ist sie so angeschwollen, dass seitlich kaum Platz für Trottoirs bleibt. Die Überquerung ist nur an wenigen Punkten möglich.

Diese trennende Verkehrswüste lastet als schwere Hypothek auf der künftigen Entwicklung des Quartiers. Hier wie in Zürich-West zeigt sich das Fehlen einer inhaltlichen Koordination der Verkehrsplanung mit der Siedlungs- und Freiraumentwicklung.

Als erstes Stadtquartier überhaupt wurde Greencity Manegg 2012 als 2000-Watt-Quartier zertifiziert. Sie beweist, dass für nachhaltige Energielösungen der Quartiermassstab einen ganz anderen Hebel besitzt als jener des Einzelbaus. Trotz aufwändiger Verfahren und prominenter Beteiligter kann man sich vor Ort jedoch einer gewissen Enttäuschung nicht erwehren. Es scheint fast, als ob die hohen Ambitionen eines 2000-Watt-Quartiers den Bauherren wenig Mehrwert abverlangen.

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