Total Space

Ein Raum, ist ein Raum, ist ein Raum – oder?

Jenny Keller

Der mahnende Zeigefinger ist in der ganzen Stadt, oder immerhin auf den subventionierten Plakatwänden für die Kulturinstitutionen zu sehen. Was will er uns sagen? Haben wir etwas falsch gemacht? Vielleicht dauert die pandemische Angst, gegen eine Regel zu verstossen, nun einfach schon zu lange an, denn vielleicht ist es gar kein mahnender Zeigefinger, sondern eines dieser frühen richtungsweisenden Piktogramme.

Ungerichtete Räume

Am letzten Wochenende vor der letzten Schliessung der Museen geht es in Richtung Toni-Areal, um die Ausstellung Total Space zu besuchen. Die kleine, vielschichtige, humorvolle und nicht ganz einfach zu fassende Design-Schau im Museum für Gestaltung beginnt auditiv in einem hellblauen Raum, der einem das Gefühl gibt, sich hinter den Kulissen zu befinden. Auf verschiedene Sprachen wird der Total Space umschrieben, ohne wirklich benannt zu werden: Immersiv sei er, die völlige Leere, Freiraum. Treten wir also ein.

Fünf nationale und internationale Designstudios erhielten den Auftrag für ein Gesamtkunstwerk. Sie sollten nicht Objekte designen, sondern sich mit dem Raum an sich auseinandersetzen, einen Total Space vorschlagen. Was die Museumsbesucher erleben sind fünf total unterschiedliche Herangehensweisen, fünf reale Räume, in denen man sich bewegen kann, die sich selbst bewegen oder ihre Farbe wechseln. Alle Sinne sind angesprochen. Im bunten, postmodern anmutenden Säulengarten der Designerinnen Sarah Kueng und Lovis Caputo (die anlässlich des Grand-Prix Design, den sie vom Bundesamtes für Kultur 2020 erhielten, Peter Zumthor interviewten) stehen Fragmente von Bauteilen, Säulen, Stützen und Bögen wie nicht zu Ende gedachte Entwurfsideen herum. Sie illustrieren den nicht immer geradlinigen Weg von der gedachten Idee bis zur Umsetzung eines Entwurfs – und der Architektin bleibt der beinahe weise Ausspruch von Kueng Caputo im Kopf: «Der Mensch soll sich im Leben üben, bevor er baut.»

Ist man ein Kind, das diese bunte wirre Ausstellungswelt lieben wird, auch ohne sie zu verstehen, kriecht man durch ein Mausloch in einer grün bemalten Wand in das runde, blaue Zentrum. Und da taucht er wieder auf, der Zeigefinger, aber er weist in keine Richtung, der Total Space, dieser Ort zwischen digital und analog, voller Analogien und trotzdem neuartig fremd, ist ungerichtet. Das unterstreicht die kreisrunde Agora, trockener Vermittlungsort der Ausstellung, die mit einer Art Skateboardrampe oder Rutschbahn möbliert ist. Zwar wird zur Partizipation aufgerufen, die dann mittels Hashtag im digitalen Raum vorgezeigt werden kann, doch auch der bleibt leer, wenn niemand die physische Erfahrung eines Museumsbesuches machen kann.

Kulisse für Nicht-Geburtstage

Ein Wikipedia-Eintrag zu Total Space – seltsamerweise anachronistisch auf die Wand geschrieben, obwohl sich Wikipedia wie vieles im digitalen Raum auch durch seine Veränderbarkeit definiert – macht einen Loop zum realen Raum im Hier und Jetzt: «Der Begriff taucht erstmals im Rahmen der gleichnamigen Ausstellung auf.» Ein Quellencheck ergibt: Den Eintrag zu Total Space gibt es gar nicht in der digitalen Enzyklopädie. Weshalb nicht? Damit dieser Raum an das Museum gebunden bleibt? Weil er nur eine Ausstellung benennt und gar nicht existiert? Weil wir uns in einem fünffachen Gedankenexperiment befinden? Immerhin verleitet die experimentelle Ausstellung zu einer Definition von Raum, die mehrdeutiger nicht sein könnte: Die unendliche physikalische Ausdehnung des Weltraums steht gegenüber der klar umgrenzten architektonischen Einheit oder der philosophischen Auffassung vom auratischen Raum.

Erblickt man dann durch ein kleines Fenster die mit übergrossen, verfremdeten Plüschtieren bestückte Spielwiese von Sucuk und Bratwurst, einem vierköpfigen Gestalter-Kollektiv aus Berlin, das sich seit Kindergartentagen kennt und für sich den Begriff Kollektiv lieber durch Familie ersetzt, weiss man auch nicht weiter. Sie übersetzten ihre digitale, oft massstabsfreie Arbeitswelt hier analog – entstanden ist eine Welt, in der Ikeas Bällebad alt aussieht, ein Ort für Alice im Wunderlands Nicht-Geburtstage. Das Kind ist bis auf Weiteres versorgt, und die Erwachsenen können in Trix & Robert Haussmanns Oktagon eine Begegnung der besonderen Art machen: Hinter einer Türe befindet sich die räumliche Vertonung von Mani Matters «metaphysischem Gruseln» Bim Coiffeur.

Zusammen allein

Die Hausmanns haben eine Skizze von Leonardo da Vinci zum Ausgangspunkt ihrer Intervention gemacht. Der Universalgelehrte wollte den unendlichen Raum erschaffen, doch fehlten ihm dazu die Spiegel. Das Spiegelkabinett hat etwas Jahrmarktähnliches, diese Erfahrung ist nichts Neues, und trotzdem hinterlässt das Oktagon zwei frappante Erkenntnisse: Mit so vielen Menschen war man schon lange nicht mehr in einem Raum seit Beginn der Corona-Ausnahmezeit – und innenarchitektonische Interventionen haben räumliche Konsequenzen.

Was ist er nun, dieser Total Space? Auch die beiden weiteren räumlichen Positionen aus Farbe, Licht und Form (Luftwerk aus Chicago) respektive der aus dem Gleichgewicht gebrachte Raum (Soft Baroque aus London) geben keine eindeutige Antwort. Ausser vielleicht, dass der Museumsbesuch vor Ort nicht durch digitale Repräsentation ersetzt werden kann – trotz Virtual Reality und Immersion. Daran will uns der Zeigefinger vielleicht mahnend erinnern. Als hätten wir das nicht vorher gewusst, schliesslich kann Architektur, diese räumlichste aller Gestaltungsdisziplinen auch erst im realen Raum, vor Ort und 1:1 total erschlossen werden.

Total Space
bis 20. Juni 2021
Museum für Gestaltung, Toni-Areal, Pfingstweidstrasse 96, 8005 Zürich
museum-gestaltung.ch
Di–So 10 – 17  Uhr, Mi/Do 10 – 20  Uhr

Advertisement

Subscribe to werk, bauen + wohnen and don't miss a single issue, or order this issue.