Enge Gassen – weite Blicke

Ensemble Winterberg in Altdorf von Tschuppert und Geissbühler Venschott

Dominique Knüsel,  Andrea Kuhn (Bilder)

Die Entwurfsidee für diese Siedlung beruht auf der gründlichen ortsbau­lichen Analyse. Der Neubau knüpft an vertraute Merkmale wie die engen Gassen oder die stattlichen Herren­häuser an. So entstand ein neuer Ort, der für Altdorf jetzt schon selbst­verständlich ist.

Es scheint kein Zufall, dass diese Siedlung in Altdorf steht. Seit vielen Jahren stellt die Gemeinde den Anspruch, eine sorgsame räumliche Entwicklung des Kantonshauptorts zu fördern und einzufordern. Aktiv versucht sie, vorhandene Qualitäten zu stärken. So wurden auf ihre Initiative die für den Ort prägenden, historischen Natursteinmauern Anfang der 2000er Jahre im Rahmen einer gross angelegten Aktion restauriert. Auch deswegen wurde Altdorf 2007 mit dem Wakkerpreis ausgezeichnet. Viele der geglückten Neubauten und Sanierungen gehen auf wirkungsvolle, von der Gemeinde eingesetzte Steuerungselemente in Form von Kernzonen- und Quartierplänen, aber auch auf Studienaufträge und Wettbewerbe zurück.1

Als der Kanton das mitten im Ortskern liegende, rund 6000 Quadratmeter grosse Areal Winterberg inklusive historischer Villa im Park veräussern wollte, machte sich die Gemeinde Altdorf für einen Wettbewerb stark. Das Areal sollte nicht direkt an die Meistbietenden, sondern mit der Sicherheit eines ortsverträglichen Projekts verkauft werden. Den 2013 durchgeführten Investoren- und Architekturwettbewerb konnte das Team um Dieter Geissbühler und Elmiger Tschuppert für sich entscheiden. Ihr Projekt Entlang der Gassen nimmt vertraute Merkmale des Orts wie die raumbildenden Natursteinmauern oder die stattlichen Herrenhäuser zum Vorbild und interpretiert sie neu.

Seither sind einige Jahre vergangen. Das Projekt wurde überarbeitet, ein neuer Quartier-Richtplan erstellt, mit Nachbarn über Näherbaurechte verhandelt. Die Überarbeitung vermochte der Entwurfsidee nichts anzuhaben. Das stark aus dem Kontext entwickelte Konzept war formbar genug, um die nötigen Anpassungen ohne den Verlust der städtebaulichen Qualitäten aufzunehmen. Seit Herbst 2020 ist die Überbauung nun fertiggestellt, und die eine oder andere Wohnung auf dem Areal Winterberg ist noch zu haben.

Ohne Grenz­- und Strassenabstände

Die neue Siedlung liegt leicht westlich der Ortsmitte, just an der Stelle, wo die dichte Bebauungsstruktur in stattliche und oft prachtvolle Villen übergeht. Auf dem nördlichen Teil des Perimeters befindet sich das historische Palais Winterberg, das mit seiner Gartenanlage und dem kleinen Nebenhaus unter Schutz steht. Dieses schöne Ensemble ist gehend erhalten, die grossen Bäume stehen noch, und der Park ist wieder für die Öffentlichkeit zugänglich. Die geschichtsträchtige Villa, die einen historischen Turmbau aus dem 13. Jahrhundert umschliesst, wurde sorgfältig renoviert.

Den südlichen Teil des Perimeters – früher Parkplatz und Wiese – nimmt nun ein neues Geviert in Beschlag. Geschosshohe Sockelbauten besetzen das Grundstück in drei Segmenten, wie Schollen liegen sie in der Urner Talebene. Daraus wachsen insgesamt fünf dreigeschossige Wohnhäuser. Von aussen betrachtet, treten diese als viergeschossige Einzelbauten in Erscheinung, an welche die Umfassungsmauern wie bei den historischen Vorbildern anschliessen. Innerhalb der Siedlung jedoch verschmelzen Hauskörper und Gartenmauern und entfalten damit skulpturale Qualitäten.

Was auffällt, sind die direkt auf die Parzellengrenzen gebauten Volumen und Mauern, die sich nicht um die gängigen Grenz- und Strassenabstände scheren. Weil das Grundstück grösstenteils von Gemeindestrassen umgeben ist und in der Kernzone liegt, konnte dies die Gemeinde relativ problemlos bewilligen, erklärt Christoph Muheim von der Bauabteilung Altdorf. Ganz ohne Abstandsgrün sind auf diese Weise wunderbare städtische Raumfolgen entstanden.

Strasse, Park, Gasse, Platz, Vorhof, Loggia

Die Räume zwischen den Gebäuden und Mauern formen die öffentlichen Bereiche. Über das Grundstück hinweg erstreckt sich ein Wegnetz mit einem kleinen Platz samt Sitzbank und Brunnen als Zentrum. Steht man auf dem Platz, sucht man vergebens das im Wettbewerb angedachte Café – und muss sich mit einem Schönheitssalon zufriedengeben. Grundsätzlich enthalten die Erdgeschosse Möglichkeiten zur publikumsintensiven Nutzung, die sich zu den öffentlichen Freiräumen orientieren. Aber auch Hofwohnungen oder Arztpraxen und dergleichen sind hier denkbar. Sie richten sich zu den Innenhöfen aus oder sind von Einfriedungen beschirmt. Die oberen Geschosse sind allein den Wohnungen vorbehalten, die als Zweispänner mit Diele organisiert sind.

Bis man ins Private vordringt, hat man als Besucherin eine Vielzahl von Schwellen passiert. Von den zwei Hauptgassen gelangt man durch grosse Portale – mal ein Rechteck-, mal ein Rundbogen – in einen kleinen Hof vor dem Haus und über einladende Loggien ins Gebäude. In diesen Zwischenräumen wähnt man sich eher in einer mediterranen Stadt im als in ländlichem Kontext nördlich der Alpen.

Zahlreiche Situationen reihen sich auf dem Weg zur Wohnung aneinander; die Besucherin erlebt zu Fuss eine ganze Skala städtischer Räume, eine reichhaltige Folge von Strasse, Park, Gasse, Platz und Vorhof bis zur Loggia. So entsteht wie selbstverständlich eine natürliche Verzahnung mit den umliegenden Wegen und Strassen. Fussgänger und Velofahrer werden animiert, das Areal zu queren und als Abkürzung auf ihrem Weg durch Altdorf zu nutzen. Einen solchen Städtebau hat das britische Architektenpaar Alison und Peter Smithson einst als «konglomerate Ordnung» bezeichnet. Sein Sinn ergibt sich aus dem Zwischenraum, der «aufgeladenen Leere» und nicht aus der Präsenz der Objekte.2

Vor und hinter den Mauern

Zum Schutz vor fremden Blicken oder dem Hochwasser im Talboden bestanden einst die Urner Söldner und Aristokraten auf eine Umgürtung durch hohe Natursteinmauern ihrer feudalen Sitze. Die Zu- gänge bieten oft die einzige Möglichkeit, überhaupt einen Blick in das Grundstück zu erhaschen. Die re- lativ kostspieligen Einfriedungen, nach Vorbild süd- europäischer Palazzi, konnten sich die Altdorfer dank des in fremden Kriegsdiensten erworbenen Reichtums leisten. Aus den privaten, oft geschosshohen Mauern hat sich nach und nach ein ganzes System entwickelt. So entstanden in einigen Ortsteilen richtige Gassen. Die Faszination und Freude der Entwer- fenden an diesem Thema ist auch in der neuen Siedlung gut spürbar. Dies zeigt sich im leichten Übermut bei der Verwendung einer Vielzahl verschiedener Tor- und Fensterformen bei den Sockelmauern für die Gassen – teils aus Naturstein, teils aus Beton, teils verputzt, teils roh. Im Gegensatz dazu kommen die Fassaden schlichter, weniger verspielt daher.

Häufiger Bestandteil der Herrensitze waren Stallungen oder Remisen, oft aus Holz. Die neuen Sockelbauten der Überbauung Winterberg sind Reminiszenz davon und daher teils in Holz eingekleidet, erläutern die Architekten. Was konzeptionell verständlich ist, wirkt in ausgeführter Konstruktion im neuen Kontext etwas fremd: Sind doch die Sockel heute aus Stein und ihre Nutzung nobler als die früheren Remisen. Mit der bereits eingesetzten Verwitterung verliert das Holz langsam seine Farbigkeit und verspricht eine wohltuende optische Angleichung an die Welt der Mauern.

Robuster Städtebau greift

Die Gartenanlage beim Palais Winterberg mit der ursprünglichen Wegführung und dem historischen Baumbestand markiert den Gegenpol zu der dicht bebauten und befestigten anderen Hälfte des Grundstücks. Denn die Überbauung kommt ohne Bepflanzung aus – was nicht zuletzt an der darunterliegenden Tiefgarage liegt –, doch die Neubauten profitieren vom Grün der Nachbarparzellen.

Hauptgassen und zentraler Platz sind asphaltiert. Auf die ursprünglich geplanten, unterschiedlich grossen Betonplatten à la Dimitri Pikionis in Athen musste aus Kostengründen verzichtet werden, so Daniel Tschuppert.3 Mit dem Totalunternehmer gab es ab und zu ein langwieriges Aushandeln um Ausführungsdetails. Und nicht immer fiel die Wahl zugunsten der Architektur aus. Doch der gemeinsame Rundgang zeigt: Das städtebauliche Konzept war robust genug, den einen oder anderen Abstrich zu verkraften. Auch die zweischalige Konstruktion und die vorfabrizierten Fassadenelemente aus Beton zeugen von einer Solidität der Bauweise.

Durch die versetzte Anordnung der Einzelbauten sind immer wieder wertvolle Durchblicke auf die umgebenden Bergspitzen und den Kirchturm möglich. Zusammen mit der Fortsetzung ortsbaulicher Qualitäten führt das zu einer charaktervollen Siedlung. Der unkonventionelle Umgang mit den Sockelbauten, den Mauern und somit der Aussenraumbildung bewahrt die Siedlung vor jeglicher Agglo-Assoziation.

Dominique Knüsel (1985) hat an der FHNW Architektur studiert. Sie ist Mitglied im Architekturforum Schwyz und schreibt regelmässig für die Zentralschweizer Architekturzeitschrift Karton. Zusammen mit Christina Leibundgut führt sie ein Architekturbüro in Zürich und Basel.

1 Vgl. Faltblatt Schweizer Heimatschutz (Hg.), Reihe: Baukultur entde­cken, Altdorf Wakkerpreis 2007, Zürich 2007.
2 Alison und Peter Smithson, «Konglomerate Ordnung», in: Itali­enische Gedanken, Bauwelt Fundamente 111, Braunschweig / Wiesbaden 1996, S. 110 – 115.
3 Der griechische Architekt und Landschaftsarchitekt Dimitris Pikionis (1887 – 1968) gestaltete den Zugang und die Fussgängerwege zur Akropolis von Athen mit unterschiedlich grossen Steinplatten.

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