Das grosse Haus

Kindergarten in Stabio von studio we

David Ganzoni, Alexandre Zveiger (Bilder)

Der neue Kindergarten in Stabio zeigt, was eine kindergerechte Architektur sein kann. Es geht nicht nur um Behaglichkeit im Innern, sondern zugleich um die öffentliche Bedeutung der Aufgabe. Das Ziel ist ein intensives Erlebnis für die Kinder, das Mittel ein Reichtum an Raum, Formen und Farben.

Der neue Kindergarten von Stabio steht hinter der Mittelschule, daneben liegt ein Maisfeld, in der Nachbarschaft befinden sich ein Friedhof und etwas weiter weg Wohnblöcke und Einfamilienhäuser. Die unmittelbare Umgebung ist reserviert für öffentliche Bauten, noch steht der neue Kindergarten aber auf der sprichwörtlichen grünen Wiese. Dieses Umfeld prägt den Entwurf wenig. Wohl formuliert er eine Vorder- und eine Rückseite und differenziert davon die Seitenfassaden. Doch der Neubau zieht seine Kraft aus dem Programm: ein Haus für Kinder. Drei Jahre alt sind sie, wenn sie in den Kindergarten eintreten, und drei Jahre lang verbringen sie dort in vier Gruppen jeweils den ganzen Tag. Hier spielen und lernen sie nicht nur, sondern sie essen auch, schlafen nach dem Mittag und ruhen sich aus. Diesen gemeinschaftlichen Ort bewohnen sie regelrecht. Der Kindergarten ist in ihrem Leben das erste öffentliche Gebäude. Diesem Anspruch wird der Kindergarten in Stabio gerecht.

Dach und Schwelle

Der Architekt Felix Wettstein hat ein Haus gebaut, das für die Kinder einen unverwechselbaren Ort schafft. Das überaus grosszügige Programm packt er in ein einziges, zweigeschossiges Volumen. Zusammen mit dem Gartenpavillon und einem einbeschriebenen Aussenraum besetzt die Anlage ein Quadrat. Sichtbeton, modernistisch orthogonale Gesamtform, ein riesiges Vordach, das zu einer einladenden Geste aufgeworfen ist, im Schatten ein gedeckter Aussenraum über die gesamte Breite: Von vorn wirkt der Bau monumental. Allerdings nähert man sich ihm nicht frontal, vielmehr führt ein schmales Strässchen seitlich ans Gebäude heran. Der Blick fällt also nicht nur auf die stolze Hauptfassade, sondern gleichzeitig auf die Seitenfassade. Diese macht die Form des Dachs ablesbar – und veranschaulicht damit die zentrale Idee der Grossform: Eine durchgehende Betonplatte birgt alle Räume unter sich.

Wie ein Blatt Papier faltet sie sich auf der Eingangsseite herab und kragt zum ausladenden Vordach aus. An der Gebäudeecke verschränken sich die beiden Fassaden; das Volumen springt zurück und gibt den Blick unter das Dach frei: Da ist der Eingang. Geborgen unter dem tief sitzenden Dach tritt man ein – durch ein Gartentor. Die gesamte Gebäudebreite zeigt sich nun als ein gedeckter Aussenraum: der Boden ein Teppich aus glattem Beton, rechts das Grün der Wiese, links elegant vorstehende Schotten. Das grosse Dach ist mehr als ein Bild: Hier, an entscheidender Stelle, schafft es einen Raum. Grossartig formuliert der Portico die Schwelle zwischen aussen und innen – und bedeutender: zwischen dem privaten Raum der Familie und dem öffentlichen Raum der Gesellschaft.

Trennung und Verbindung

Erst auf den zweiten Blick sieht man die vier Eingangstüren entlang der Hauptfassade – sie zeigen die Serialität des Grundrisses an. Dahinter liegen drei gleich grosse Raumschichten. Zunächst die Garderoben, in der Mitte Nasszellen und Nebenräume, zuletzt der grosse Spielraum. Im Erdgeschoss liegen die vier Einheiten zwischen Schotten nebeneinander. Im Obergeschoss jedoch löst sich diese trennende Struktur auf, vermischen sich die Einheiten: Je zwei treffen sich oberhalb ihrer Treppen in einem gemeinsamen Bücherraum in der Gebäudemitte, und auf der Gartenseite durchmisst ein Durchgang alle vier Essräume. Auf einem gemeinsamen Balkon schliesslich können die Kinder im Sommer im Freien essen. Am augenfälligsten schafft die Verbindung aber der «Salone» – ein langer schmaler Raum, der über den Garderoben die gesamte Gebäudebreite besetzt. Er ist Aula, Sporthalle, Schlafraum und Spielzimmer in einem. Allein, zu zweit, zu viert: Die Struktur schafft sowohl Trennung wie auch Zusammenschluss der Klassen. Der quer gelegte Raum als Verbindung ist dabei so einleuchtend, dass das Muster im Keller wiederholt wird: So wie der Salone das Erdgeschoss überspannt, so unterquert das Untergeschoss das Gebäude. Lang und schmal verläuft es in der Mitte und erreicht mit minimaler Fläche alle Raumschichten. Ergänzt wird diese reine Struktur durch eine schmale Raumschicht im Nordosten. Wie ein Anbau fügt sich hier die Küche mit Anlieferung an den Hauptkörper.

Rechteck, Kreis, Segmentbogen

Doch die stringente Struktur erzählt nur die halbe Geschichte dieses Hauses. Ungewohnt verspielte Elemente durchdringen sie. Von aussen zu sehen sind: kreisrunde Fenster klein und gross, eine Öffnung in Form eines flachen Segmentbogens, rechteckige Öffnungen in unterschiedlichsten Formaten, eine sanfte Welle im Vordach vorne und hinten, seltsame runde Körper auf dem Dach. Die Formenvielfalt scheint zunächst zufällig, doch sie ist es nicht. Sie gehorcht unterschiedlichen Spielregeln, die für Erwachsene wie Kinder lesbar sind.

Die Öffnungen in den Seitenfassaden etwa reagieren präzise auf die Situation im Innern: Das Erdgeschoss ist weitgehend geschlossen, im Obergeschoss besetzen Lochfenster die perspektivisch entscheidenden Stellen und betonen die Ausrichtung in die Breite: im Augpunkt der Querverbindung – und an den Kurzseiten des Salone. Wie eine Kompassnadel liegt dieser Raum zwischen dem Monte Generoso am Horizont des flachen Mendrisiotto und dem Castello auf dem Hügel von Stabio; erfahrbar machen das die beiden geradezu didaktisch geformten Fenster: eine liegende Öffnung hier, eine stehende dort.

Anders verhält es sich auf der Eingangsfassade: In freier Komposition verteilen sich verschieden grosse runde Öffnungen auf dem herabgezogenen Betondach. Weder betriebliche noch strukturelle Bedingungen lassen sich hier entdecken. Hier geht es um eine innere Logik: Die verputzten Wände haben eckige Fenster, das Betondach runde – so wird die gelochte Wand tatsächlich als Dach wahrnehmbar, nicht nur von aussen, sondern auch von innen. Nicht zuletzt regt die Architektur die Phantasie ihrer Nutzer an. Wer denkt beim Betrachten der bizarren Körper auf dem Dach nicht an Kamine eines Schiffs, wer blickt schliesslich durch die runden Fenster nicht wie durch Bullaugen auf das weite Meer der grünen Wiesen? Doch auch hier findet, wer will, eine rationale Erklärung im Innern. Was sich in den Himmel stülpt, sind riesige Oblichter, die Tageslicht bis hinab ins Erdgeschoss bringen. Hier, in der Mitte des 21 Meter tiefen Grundrisses, ist das räumliche Erlebnis am intensivsten. Durch farbige Zylinder fällt das Licht hinab bis in die Badezimmer: Zähne putzen als räumliches Ereignis. Das Zenitallicht breitet sich schrankenlos aus, sogar bis in die Nachbarsklasse. Über eine Öffnung sieht man die Farbe der anderen: Grün statt blau strömt herüber und gibt eine Ahnung von der Welt jenseits der trennenden Wand.

Ansteckende Lust

Am spektakulärsten ist aber der Ort, wo sich die Nachbarn tatsächlich treffen, oberhalb der raffiniert gelegten Treppen: Leuchtend rot hängt hier ein Lichttrichter herab, man taucht hinein wie in einen Farbtopf; ein kräftiger Kontrast zu den weiss verputzten Wänden und dem hellen Kunststoffboden. Dies alles macht Sinn: Die Mitte des Grundrisses wäre dunkel ohne Oblichter, und die räumlichen Bezüge erleichtern es, den Überblick über die Kinderschar zu behalten. Wie aussen zeigt sich aber auch innen gleichzeitig etwas anderes: die ansteckende Lust, die Mittel der Architektur auszuspielen: Raum, Körper, Form, Licht und Farbe. Der Kontrast zur örtlichen Umgebung ist gross, die Kinder erleben dort architektonisch bescheidene Wohnblöcke und Einfamilienhäuser – rund um den Kindergarten zudem eine lieblose Landschaftsgestaltung. Eigentlich hätte Wettstein mit einer präzise gesetzten Mauer beim Eingang das Terrain abfangen und mit einem Vorplatz den öffentlichen Raum an das Objekt binden wollen. Doch sein Vorschlag wurde weggespart, die ausgeführte Gestaltung stammt vom Gemeindegärtner. Nun muss sich das Haus ohne Verankerung in der Umgebung behaupten. Das gelingt ihm dank seiner starken äusseren Form und dem räumlichen Reichtum in seinem Inneren.

David Ganzoni, geboren 1978 in Basel, hat an der ETH Zürich Architektur studiert. Er arbeitet im Amt für Städtebau der Stadt Zürich und publiziert zu Architektur und Städtebau.

Advertisement

Subscribe to werk, bauen + wohnen and don't miss a single issue, or order this issue.